Politik auf Pump - US-Schuldenrekord bedroht die Weltwirtschaft

Die Vereinigten Staaten stehen mit 11.600 Mrd. $ in der Kreide - und minütlich werden es mehr.

Die hohe Verschuldung ist nach der Auffassung von Ökonomen eine größere Bedrohung für das Wirtschaftssystem als die Finanzkrise. Obama müßte dringend von seiner Politik auf Pump abrücken. Helena Durst hat nur zu gut die donnernde Stimme ihres verstorbenen Großvaters Seymour Durst im Ohr, wie er sich über die zügellose Verschuldungspolitik der Reagan-Regierung echauffieren konnte. Wie er bei jedem Familientreffen den mangelnden Sparwillen der politischen Kaste geißelte. Zum Jahreswechsel schickte der einflußreiche New Yorker Immobilienentwickler zynische Neujahrskarten in Richtung Washington. Auf denen rechnete er haarklein den Anteil der Familie an der Staatsverschuldung vor. Als die postalischen Protestnoten nichts bewirkten, ließ Durst nahe dem Times Square eine 5 x 10 m  große Schuldenuhr an eine Häuserfront montieren. Heute betreut seine Enkelin Helena den ordnungspolitischen Pranger. Aufmerksam beobachtet sie die Reaktionen der Passanten: »Die Amerikaner schütteln nicht einmal mit dem Kopf. Nur die Touristen sind noch überrascht.«  Rasend schnell huschen die Ziffern über die Anzeige, immer größer wird die Zahl.
 
Die Schuldenuhr aus dem Hause Durst wird zu einem Barometer der Verschwendung: Mit 11.600 Mrd. $ stehen die USA in der Kreide, ein trauriger Weltrekord. Und mit jeder Sekunde rutschen die Vereinigten Staaten tiefer ins Minus. Noch können die USA mit ihrer jährlichen Wirtschaftskraft von 1430 Mrd. $ die Orgie finanzieren. Noch erwirtschaften die Sozialversicherungen Überschüsse. Noch ist das auf Schulden gebaute System nicht kollabiert. Doch wie lange geht diese Politik auf Pump noch gut? Die Sozialkassen, haben Wirtschaftsforscher errechnet, werden im kommenden Jahrzehnt Verluste anhäufen. Zugleich steigen mit wachsenden Schulden die Zinslasten, während die Rezession an den Steuereinnahmen nagt. Und dann sind da noch die 2.400 Mrd. $ an Garantien und Krediten, die der Staat in der Finanzkrise an Banken und notleidende Unternehmen verteilte. »Die Schuldenkrise«, warnt John Taylor, Wirtschaftsprofessor von der Stanford University, »stellt ein größeres Risiko für das Wirtschaftssystem dar als die Finanzkrise.«. Nicht nur Wissenschaftler wie Taylor blicken besorgt auf die größte Volkswirtschaft der Erde. Ende September trafen sich die Vertreter führender Wirtschaftsnationen zum G20-Gipfel in  Pittsburgh, wo sich die amerikanischen Gastgeber von ihren Gläubigern einiges an Kritik anhören mußten. Die Geldgeber dringen auf Steuererhöhungen oder Einschnitte bei den Staatsausgaben, damit die Amerikaner die Schulden in den Griff bekommen. Gelingt das nicht, befürchten sie ein Anschwellen der Inflation und den Verfall des Dollars. Damit wären die Investoren doppelt gestraft. Von ihnen gekaufte Staatsanleihen würden im Kurs sinken, zugleich wären ihre gigantischen Positionen von 3300 Mrd. $ in der jeweiligen Heimatwährung weniger wert. Wie schnell es abwärtsgehen kann, zeigt das Beispiel England. Vor wenigen Monaten drohten Ratingagenturen wie Standard & Poor’s, die Bonität von England auf Grund hoher Verschuldung von der Bestnote AAA herabzustufen. Prompt stürzte das Pfund ab. Ähnliches könnte den USA widerfahren: »Offensichtlich gibt es langfristigen Druck auf das Rating«, sagt Steven Hess, Kreditanalyst der Ratingagentur Moody’s. Das heißt frei übersetzt: Es wird eng.
 
Wann wird Bernanke den Hahn wieder zudrehen? 
Ben Bernanke weiß all das. Auf dem Notenbankchef, just von Präsident Barack Obama  im Amt bestätigt, lastet enormer Druck. Er braucht das Gefühl für den richtigen Augenblick. Die Leitzinsen senkte er wegen der Krise auf fast 0 % und flutete die USA mit Geld. Wann soll Bernanke den Hahn wieder zudrehen? Beginnt er zu früh damit, würgt er die Konjunktur ab – dann wächst der Schuldenberg ins Unermessliche. Verpaßt er den richtigen Moment, könnte er eine Inflation auslösen.
 
Die amerikanische Wirtschaft läuft weiter unter der Kapazitätsgrenze
Erschwert wird seine Arbeit durch die zurückhaltenden amerikanischen Konsumenten. Die Bürger kommen nach einem Vierteljahrhundert des Was-kostet-die-Welt? wieder zu Sinnen, arbeiten ihre Schulden ab, legen sogar Geld zurück. Hinzu kommt: Die vielen Krisenopfer, die ihren Job oder ihr Erspartes verloren haben, verschieben größere Anschaffungen und kaufen nur das Nötigste. Die amerikanische Wirtschaft läuft so weit unterhalb der Kapazitätsgrenze, daß Bernanke nach Schätzung von Jan Hatzius, US-Chefökonom von Goldman Sachs , erst im Jahr 2011 wieder Spielraum für Zinserhöhungen hat. Und selbst das sei »keineswegs sicher«. Wie sich die Dinge ähneln: Nach dem Zusammenbruch der Hightech- und Internetblase rund um die Jahrtausendwende senkte Bernankes Vorgänger Alan Greenspan die Leitzinsen ebenfalls auf das extrem niedrige Niveau von 1 %, um sie bis zum Sommer 2004 dort zu halten. Viele Ökonomen glauben, daß Greenspan damit die Krise am Immobilienmarkt erst ausgelöst und die Weltfinanzmärkte ins Rutschen gebracht hat. Jetzt könnte in Bernankes Geldpolitik der Keim der nächsten Krise liegen.
 
Diese Sorge treibt auch Bill Gross um. Seit 30 Jahren kommt der Anleihenmanager um sechs Uhr morgens in sein Büro, setzt sich an den Schreibtisch mit 6 Bloomberg-Terminals und studiert Wirtschaftsdaten. Der 65 Jährige ist einer der Mächtigsten seiner Zunft. Die von ihm mitgegründete Vermögensverwaltung Pimco im kalifornischen Newport Beach gehört heute zur Allianz und herrscht über mehr als 840 Mrd. $.Der erfahrene Finanzprofi beobachtet eine fundamentale Strömung in der Wirtschaft, die er »die neue Normalität« nennt. Das vergangene Vierteljahrhundert sei von einer Art umgekehrtem Merkantilismus gekennzeichnet gewesen: Amerika hätte konsumiert und Entwicklungsländer wie China mit Papier bezahlt. »Das Spiel ist vorbei«, sagt Gross. Die Verschuldung sei zu hoch, die Amerikaner müßten sparen. Die Volkswirtschaft werde mit 1 bis 2 % statt mit mehr als 3 % wachsen. »Der Dollar«, so lautet sein Fazit, »ist langfristig verwundbar«. Der Grund: Wegen des niedrigen Wachstums, einer Folge der »neuen Normalitä«, fällt das Rückzahlen der Schulden schwerer. Das Versprechen also, sich quasi am eigenen Schopf aus dem Schuldensumpf zu ziehen, werden die USA nicht einlösen können. Das schafft Probleme. Die auf Pump gekauften Güter sind längst verbraucht, verrostet oder weggeworfen, aber die Schuldscheine gibt es noch immer. Im Fall Chinas sind sie 776 Mrd. $ wert. Nur können die Chinesen mit den Papieren im Moment nicht viel machen. »Wenn sie die ersten 100 Mrd. $ verkaufen, ruinieren sie sich die Preise für die nächste Billion«, sagt Johannes Müller, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft DWS, die mehr als 21 Mrd. $ in Anleihen investiert hat. Den Chinesen bleibt nichts anderes, als politisch Druck auszuüben. Bisher endeten G7-Treffen und IWF-Berichte damit, daß die Chinesen doch bitte schön ihre künstlich niedrig gehaltene Landeswährung Renminbi zügig aufwerten sollten. Genauso üblich war es, daß     sich chinesische Regierungsmitglieder wegduckten - und nichts unternahmen. Heute klingt der bilaterale Austausch im finanzpolitischen Olymp so: »Wir hoffen aufrichtig, daß das US-Haushaltsdefizit reduziert wird, Jahr für Jahr«, sagte ein selbstbewußter chinesischer Vizefinanzminister Zhu Guangyao nach dem Strategie- und Wirtschaftsdialog in Washington im Juli. Und US-Finanzminister Timothy Geithner versprach kleinlaut: »Wir sind dem Ziel verpflichtet, mehr zu sparen und das Haushaltsdefizit bis 2013 auf ein erträgliches Niveau zu senken.«
 
Ein fiskalpolitischer Kurs ins Abseits
Beinahe über Nacht ist China in internationalen Währungsfragen zum Chefankläger aufgestiegen. »Um ehrlich zu sein, ich bin ein wenig unruhig«, ließ Ministerpräsident Wen Jiabao vor dem G20-Gipfel in London im April verlauten. »Natürlich machen wir uns Sorgen um die Sicherheit unserer Anlagen.« Die jüngste Haushaltsprognose des Weißen Hauses wird die Chinesen noch schlechter schlafen lassen. 900 Mrd. $ muß sich der Staat bis zum Jahr 2019 borgen, 2 Mrd. mehr als noch im Februar geplant. »Wir sind auf einem fiskalpolitischen Kurs, der sich nicht durchhalten läßt«, warnte Obamas Haushaltschef Peter Orszag bereits im Juli. Nach derzeitigem Stand würde die öffentliche Schuldenquote zur Wirtschaftsleistung schon im Jahr 2013 auf über 75 % steigen. Die Concord Coalition, eine gegen die Staatsverschuldung kämpfende Lobbyistengruppe, geht gar von bis zu 100 % aus. Bewahrheitet sich die Prognose, würden die Ratingagenturen die Bonität der USA herabstufen, die Refinanzierung würde teurer, neue Schulden wären die Folge. Eine verhängnisvolle Abwärtsspirale käme in Gang.
 
Allmählich setzt in der Obama-Regierung ein Umdenken ein
Es ist nicht das erste Mal, daß die USA finanziell am Abgrund stehen. Nur einmal waren sie komplett schuldenfrei: im Fiskaljahr von 1834 bis 1835. Danach stiegen und fielen die Defizite im Gleichklang mit den Kriegen. Mit Bill Clinton legte ausgerechnet ein Demokrat, denen in den USA traditionell keine Haushaltsdisziplin zugetraut wird, einen ausgeglichenen Haushalt vor. Clinton profitierte von einem Boom mit sprudelnden Steuern, setzte aber auch schmerzhafte Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen durch. Bei Familie Durst in New York knallten damals die Champagnerkorken, doch die Freude währte nur kurz. Unter Präsident George W. Bush ging die Schuldenorgie von vorne los. Sein Nachfolger Barack Obama zeigt sich bislang ebenfalls nicht sehr sparsam. Die heftigste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit bekämpft er mit einem 787 Mrd. $ teuren Konjunkturprogramm. Vereinzelte Stimmen rufen gar nach noch mehr Staatshilfen, am lautesten der linksliberale Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman. Doch die Krugmans dieser Welt haben wenig Aussicht auf Erfolg. »Im Kongreß ist das nicht mehr durchsetzbar«, sagt Robert Shiller, Yale-Wirtschaftsprofessor und ebenfalls ein Befürworter von mehr Staatshilfen. Es fehlt das Geld. Und der Druck auf die öffentlichen Haushalte steigt weiter an. Noch erwirtschaften die umlagefinanzierten Sozialversicherungen Überschüsse. Doch nun gehen die Babyboomer in Rente und fordern die staatlichen Leistungen ein. Die Konsequenz: Nach Schätzungen des Government Accountability Office (GAO), einer Art Rechnungshof der Regierung, werden Renten- und Krankenversicherungen im Jahr 2017 ins Minus rutschen und den Haushalt auf Jahrzehnte belasten. »Wir rasen auf eine Katastrophe zu«, sagt David Walker, Chef des New Yorker Forschungsinstituts Peter G. Peterson. Und so setzt in der Obama-Regierung allmählich ein Umdenken ein. »Sie wissen alle, daß es so nicht weitergehen kann«, sagt Susan Irving, Direktorin für Haushaltsanalysen beim Rechnungshof GAO. Doch selbst beherzte Kürzungen werden nicht ausreichen, um das Problem zu lösen. Drei Viertel der Staatsausgaben wandern in die Sozialversicherungen, daran ist nicht zu rütteln. Im Gegenteil: Obamas Lieblingsprojekt, die Gesundheitsreform, würde in den nächsten zehn Jahren bis zu 1.000 Mrd. $ zusätzlich verschlingen, hat Douglas Elmendorf, Chef des unabhängigen Congressional Budget Office, errechnet. Immerhin will Obama die Kosten an anderer Stelle einsparen, was aber das grundsätzliche Schuldenproblem nicht löst
 
Das Pfui-Wort                                       
Bleibt der nächstgrößere Posten, die Militärausgaben. Verteidigungsminister Robert Gates hat dem Pentagon etliche Programme zusammengestrichen. Der Spielraum für weitere Kürzungen ist angesichts der militärischen Verpflichtungen, besonders in Afghanistan, begrenzt. Aus diesem Grund taucht immer häufiger das Pfui-Wort auf, das in den USA so verpönt ist wie nirgendwo sonst: Steuererhöhungen. Präsident Obama steht noch dazu vor einem Problem. Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Haushalte mit mehr als 373.000 $ Jahreseinkommen um einen Prozentpunkt würde nur knapp 74 Mrd. $ zusätzlich bringen. Der gleiche Aufschlag für Haushalte mit weniger als 17.000 $ Jahreseinkommen würde 255 Mrd. $ in die Staatskasse spülen.
 
Quelle: http://www.ftd.de/unternehmen/finanzdienstleister/:politik-auf-pump-us-schuldenrekord-bedroht-weltwirtschaft/50018414.html  2.10.09