»Es ist eine Schande« - Von Shulamit Aloni

Vor nicht allzu langer Zeit, als Rabbi Meir Kahane seine rassistischen Reden schwang, bekam ich von dem mittlerweile verstorbenen Schriftsteller und Journalisten Amos Elon die Kopie eines Briefes, den Lord Rothschild im August 1902 an Herzl geschrieben hatte.

Darin erklärt Rothschild, warum er sich weigert, die Gründung eines jüdischen Staates im Lande Israel zu unterstützen. Er schreibt, »der Gedanke an die Gründung einer jüdischen Kolonie erregt schlichtweg Grauen in mir; eine solche Kolonie wäre ein Staat im Staate; es wäre ein Ghetto mit den Vorurteilen des Ghettos; es wäre ein kleiner und kleingeistiger jüdischer Staat, orthodox und engstirnig, der die Christen und Nichtjuden ausschließt.« Dennoch und trotz Erscheinungen wie Kahane hielt sich hier über Jahre die Hoffnung, dass Rothschilds düstere Prognose sich nicht erfüllen würde; dass Israel tatsächlich »seinen Bürgern gleiche gesellschaftliche und politische Rechte zusichert, ungeachtet ihrer Religion, Rasse und des Geschlechts« und »die Freiheit von Religion, Gewissen, Sprache, Bildung und Kultur garantiert«, so wie es in der israelischen Unabhängigkeitserklärung steht.

Offenkundig rassistische Gesetze
Es ist einige Zeit vergangen, und Kahane hat viele Nachfolger gehabt - nicht nur aus der gierigen und rücksichtslosen Masse, sondern auch aus der kleinen Gruppe der »gewählten Volksvertreter« von Knesset und Regierung. Letztere ist gerade damit beschäftigt, offenkundig rassistische Gesetze zu verabschieden und Polizeikommandos loszuschicken, um palästinensisch organisierte internationale Kulturveranstaltungen zu stören, weil diese Regierung davon ausgeht, dass die Araber des Landes Israel, die einheimischen Palästinenser, Menschen zweiter Klasse sind. Die Verfasser dieser Gesetze glauben jedenfalls nicht, dass den Arabern Menschenrechte zustehen, ganz zu schweigen vom Recht auf ein eigenes kulturelles und intellektuelles Leben oder vom Recht auf Wohnraum oder gar Grundbesitz, weil ja vor Tausenden von Jahren Gott dieses Land dem auserwählten Volk und seinen Nachkommen zugesprochen hat.  

Es ist äußerst bedauerlich und beschämend, dass alles, was Lord Rothschild vorausgesagt hat, inzwischen eingetreten ist. Nicht einmal in unseren finstersten Träumen und den schlimmsten Zeiten seit dem Kampf um die Staatsgründung hätten wir uns vorstellen können, dass die Anhänger von Zeev Jabotinsky hier Angst und Schrecken durch eine rassistische Gesetzgebung verbreiten würden; dass sie durch die Zerstörung des Gerichtssystems versuchen würden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte auszuhebeln - genau die Dinge, die in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar sind und jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind zugänglich sein müssen, ungeachtet ihrer Herkunft, Rasse, Religion oder des Geschlechts.

Seit 42 Jahren sind wir die brutalen Besatzer und Unterdrücker eines Landes, das uns nicht gehört. Müssen wir denn wirklich zu räuberischen Kosaken werden, Bäume und Felder zerstören, Frauen, Kinder und Alte drangsalieren, um unsere eigene Freiheit zu verteidigen? »Wir haben dieses Land, wir haben es«, heißt es in einem Lied, aber es sollte lauten: »Wir haben die Macht, wir haben sie, wir haben das Geld, wir haben es, und wir dürfen alles, alles dürfen wir,« nämlich eine ganze Bevölkerung aushungern, einsperren und mit Luftangriffen, Streubomben und weißem Phosphor schließlich vernichten. Weil wir die Herren des Landes sind und Gott uns auserwählt hat. Es ist eine Schande.

»Ein einzigartiges Volk«, schrieb David Ben Gurion. Und was hat uns diese Einzigartigkeit gebracht? Statt eines jüdischen und demokratischen Staates haben wir jetzt einen jüdischen Staat, in dem religiöser Fanatismus herrscht und der die Reinheit der Rasse vorschreibt. Wir haben eine Demokratie im primitivsten Sinn, wo es nicht um die Bewahrung der demokratischen Werte geht, sondern um die Herrschaft des Demos, des Pöbels, der aus Israel eine totalitäre Ethnokratie machen will.

Ein Hoch auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Außenminister Avigdor Lieberman, die gerade dabei sind, alles, was wir aufgebaut haben, zu zerstören, alles, wovon wir geträumt und alles, wofür wir gekämpft haben.

 

Zur Person: Shulamit Aloni kam 1928 in Tel Aviv als Kind polnischer Einwanderer zur Welt. Früh trat die Rechtsanwältin der jüdischen Selbstschutzorganisation Hagana bei. Sie kämpfte im Unabhängigkeitskrieg und war später Erziehungsministerin im Kabinett Rabin. 1996 zog sie sich aus der Parteipolitik zurück, setzt sich seitdem für einen Dialog mit den Palästinensern und die Rückgabe besetzter Gebiete ein und kämpft für einen säkularen Staat Israel. Quelle: Frankfurter Rundschau vom 14. 6. 2009 Gastbeitrag im Feuilleton 

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/1794919_Gastbeitrag-Es-ist-eine-Schande.html  Der Text wurde der israelischen Tageszeitung Haaretz entnommen.