Pakistan - Organisierte Massenvertreibung

Das Hauptergebnis des Krieges gegen den Terror, schreibt Gary Leupp in »Counterpunch«, ist die Destabilisierung Pakistans.

Knut Mellenthin von der »jungen Welt« bezeichnet das gegenwärtige Geschehen als Großoffensive gegen die Bevölkerung: in der Nordwest-Grenzprovinz Pakistans sind 3,4 Millionen Menschen auf der Flucht 1. Der Informationsminister der Nordwest-Grenzprovinz gab die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge am 29. 5. 09 mit insgesamt 3,4 Millionen an. Davon kommen 2,8 Millionen aus den drei Bezirken der Provinz, in denen die pakistanischen Streitkräfte seit Ende April eine Großoffensive gegen die Taliban durchführen. Diese Zahl entspricht über 70 % der Bevölkerung des Kampfgebiets. Weitere 600000 Menschen waren schon zuvor auf Grund früherer Kämpfe als Flüchtlinge registriert. Die Entvölkerung der von Taliban dominierten Gebiete gehört als fester Bestandteil zur Strategie des Militärs. Das Schema ist stets das gleiche. Vor Beginn einer Offensive wird die Bevölkerung durch abgeworfene Flugblätter, teilweise auch durch Lautsprecherwagen und Aufrufe im Rundfunk, aufgefordert, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Anschließend folgen Luftangriffe auf Dörfer und Wohngebiete. Wasser, Gas und Strom werden abgestellt. Auf dem Land sind derzeit in den umkämpften Gebieten fast nur Männer zurückgeblieben, da sie die anstehende Ernte nicht aufgeben wollten. Dennoch will die Regierung des Landes, wie Mellenthin weiter darlegt, ausweiten 2.

Der Feldzug der pakistanischen Streitkräfte gegen die Taliban in drei Bezirken der Nordwest-Grenzprovinz, von Präsident Asif Ali Zardari mit der ihm eigenen rhetorischen Maßlosigkeit zum »totalen Krieg« erklärt, geht seinem vorläufigen Ende entgegen. Wichtig hingegen ist die Feststellung, daß diese militärische Kampagne das erklärte Ziel, den Taliban einen entscheidenden Schlag zu versetzen oder sie gar »auszulöschen«, nicht erreichen wird. Nicht im unruhigen Nordwesten des Landes, von dem das derzeitige Kampfgebiet nur knapp neun Prozent umfaßt. Und nicht einmal in den drei Bezirken Unteres Dir, Buner und Swat, welche die Armee gerade weitgehend »befreit« hat und die sie nun »endgültig« von islamistischen Kämpfern »säubern« wil.

Obama fordert Ausweitung
Die Regierung in Islamabad behauptet, es handle sich bei dem Feldzug gegen die Taliban in Swat und den benachbarten Bezirken um das »Überleben« Pakistans. »Die Nation kann es sich nicht leisten, diesen Krieg um ihr eigenes Überleben zu verlieren«, heißt es von Präsident Zardari. »Wir können uns nicht erlauben, den Krieg zu verlieren, und wir werden ihn mit Gottes Hilfe gewinnen. Anderenfalls steht das Überleben des Landes auf dem Spiel«, bläst Premierminister Gilani ins gleiche Rohr. Sachlich steht diese These auf schwachen Füßen. Die Stärke der Taliban ist ihre Verbindung zu Teilen der paschtunischen Bevölkerung in der Nordwest-Grenzprovinz und den Stammesgebieten. Jenseits des Nordwestens sind ihr Einfluß und ihre militärischen Möglichkeiten, aber auch ihre Ambitionen gering. Die These vom Überlebenskampf stellt ein Zugeständnis an die US-amerikanische Propaganda dar und liefert damit Pakistan völlig der regionalen Eskalationsstrategie der Obama-Regierung aus. Der hochgradig ideologisierte Begründungszusammenhang schließt es weitgehend aus, die militärische Konfrontation nach der mehr oder weniger vollständigen Vertreibung der Taliban aus Swat, Buner und Unter-Dir für abgeschlossen zu erklären oder zumindest vor weiteren Operationen im Nordwesten eine längere Ruhepause einzulegen. Die US-Regierung, die Pakistan mit Erfolg auf den Weg eines langen, destabilisierenden Bürgerkrieges gedrängt hat, erwartet dessen Ausweitung - und wird sich damit wahrscheinlich durchsetzen, zumal das Land finanziell und wirtschaftlich auf Jahre hinaus am Tropf hängt. Das wird durch eine Fortsetzung des Bürgerkrieges allerdings noch verschlimmert, so daß ein Teufelskreis garantiert ist. Für das Verständnis der Lage ist nicht unwichtig, daß der pakistanische Nordwesten keineswegs nur aus menschenleeren Berglandschaften besteht, sondern sehr viel dichter besiedelt ist als das benachbarte Afghanistan. Während dieses nur eine Bevölkerungsdichte von 46 Einwohnern pro Quadratkilometer aufweist, sind es 137 in den Stammesgebieten und sogar 260 im Nordwesten. Diese Region insgesamt hat nicht- sehr viel weniger Einwohner als Afghanistan (27 zu 32 Millionen), obwohl sie nur ein Sechstel der Fläche des Nachbarlandes einnimmt.
 
Nächste Provinz: Wasiristan
Hinzu kommt, daß der bewaffnete Kampf beiderseits der Grenze immer noch fast ausschließlich von den Paschtunen getragen wird. Angehörige dieses Volkes gibt es in Afghanistan ungefähr 13 Millionen, in Pakistan jedoch 28 Millionen. Mehr als eine Million Paschtunen leben in der Hafenstadt Karatschi, der Hauptstadt der Provinz Sindh, wo sich inzwischen Wirkungen der fundamentalistischen Agitation bemerkbar machen. Auch im Norden der Provinz Balutschistan, die an die Nordwest-Grenzprovinz und die Stammesgebiete grenzt, gibt es Hunderttausende Paschtunen. Die militärischen Aufgaben, vor denen sich die pakistanischen Streitkräfte gestellt sähen, wenn sie wirklich auf dem gesamten Territorium der Nordwest-Grenzprovinz und der Stammesgebiete einen »totalen Krieg« eröffnen wollten, wären daher keineswegs geringer und einfacher als die der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan. Die sind zwar für einen solchen Krieg sehr viel besser ausgerüstet und ausgebildet als die Pakistani, haben es aber trotzdem in über sieben Jahren nicht geschafft, die Ausbreitung des Taliban-Einflusses auf immer weitere Teile Afghanistans zu verhindern. Die gängige Sicht oder Darstellung westlicher Politiker und der Medien des Mainstreams, es habe bisher allen pakistanischen Regierungen lediglich am Willen gefehlt, mit militärischer Gewalt gegen die Taliban vorzugehen, ist vor diesem Hintergrund falsch und ihrer Absicht nach infam. Tatsächlich hat Pakistan sich schon seit 2003 immer wieder von den USA dazu drängen lassen, die jahrzehntelang relativ erfolgreich praktizierte Strategie der friedlichen Koexistenz mit den Stämmen des Nordwestens, einschließlich  fundamentalistischer Gruppen, partiell aufzugeben und unter Bruch bestehender Abmachungen Militär einzusetzen. Da die politische und militärische Führung aber gleichzeitig versuchte, die schon von der früheren britischen Kolonialmacht praktizierte Methode der Verträge und Bündnisse mit einzelnen Stämmen und Organisationen fortzusetzen, funktionierte letztlich weder das eine noch das andere. Es ist schwer vorstellbar, daß ein »totaler Krieg« auf dem gesamten Territorium der Nordwest-Grenzprovinz und der Stammesgebiete, möglicherweise sogar unter Einbeziehung einiger überwiegend paschtunischer Gebiete im Norden Balutschistans und in der Provinz Punjab, letztlich etwas anderes hervorrufen wird als eine vertiefte politische und wirtschaftliche Destabilisierung Pakistans. Perspektivisch wird dann eine direkte militärische Intervention der USA und vielleicht auch anderer NATO-Staaten kaum zu vermeiden sein. Möglich, daß genau das die langfristige Absicht einiger Kräfte ist, die alles tun, um Pakistan in einen großflächigen Bürgerkrieg zu treiben.
 

1 http://www.jungewelt.de/2009/06-06/003.php 6.6.09 Organisierte Massenvertreibung - Großoffensive gegen die Bevölkerung: In der Nordwest-Grenzprovinz Pakistans sind 3,4 Millionen Menschen auf der Flucht - Von Knut Mellenthin – auszugsweise

2 http://www.jungewelt.de/2009/06-04/001.php  4. 6. 09 Pakistan: In den Bürgerkrieg - Von Knut Mellenthin - Der US-Strategie einer Eskalation der Kämpfe willig folgend, will Pakistans Regierung die Militäreinsätze im Nordwesten des Landes ausweiten – auszugsweise