Netanjahus »Plan« für Israel als »Staat des jüdischen Volkes« - Von Uri Avnery

US-Präsident Barack Obama hat einen Plan für den Wiederaufbau des Nahen Ostens, und eines seiner Elemente ist ein israelisch-palästinensischer Frieden, der sich auf dem Prinzip »Zwei Staaten für zwei Völker« gründet.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu behauptet, daß er nicht in der Lage sei, darauf zu antworten, weil er noch keinen Plan hätte. Schließlich sei er ja ganz neu im Amt. Nun arbeitet er an solch einem Plan. Sehr bald, in einer Woche oder in einem Monat oder in einem Jahr wird er einen Plan, einen wirklichen Plan, fertig haben und ihn Obama vorlegen. Als Vorgeschmack für den »Plan« hat Netanjahu schon einen seiner Bestandteile vorgelegt: die Forderung, daß die Palästinenser und die anderen Araber Israel als »den Staat des jüdischen Volkes« anerkennen müssen. Die meisten Medien in Israel und im Ausland haben diese Forderung verdreht und berichtet, daß Netanjahu die Anerkennung Israels als eines »jüdischen Staates« verlangt. Entweder aus Ignoranz oder aus Faulheit haben sie den bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Formeln verwischt. Der Unterschied ist nämlich immens. Ein »jüdischer Staat« ist eine Sache, ein »Staat des jüdischen Volkes« etwas radikal anderes.
 
Unter einem »jüdischen Staat« kann man einen Staat verstehen, in dem die Mehrheit der Bürger sich selbst als Juden definieren und/oder dessen Hauptsprache Hebräisch ist, dessen Hauptkultur jüdisch ist, dessen wöchentlicher Ruhetag der Samstag ist, der in der Knesset-Cafeteria nur koschere Speisen anbietet, etc. Ein »Staat des jüdischen Volkes« ist eine vollkommen andere Geschichte. Es bedeutet, daß der Staat nicht nur seinen Bürgern gehört, sondern zu etwas, das sich »das jüdische Volk« nennt, etwas, das innerhalb und außerhalb des Landes existiert. Das kann weitreichende Implikationen mit sich bringen. Zum Beispiel: die Ungültigkeitserklärung der israelischen Staatsbürgerschaft aller Nicht-Juden, so wie es Außenminister Avigdor Lieberman vorgeschlagen hat. Oder die Verleihung der israelischen Staatbürgerschaft an alle Juden in aller Welt. Die erste Frage, die auftaucht, ist die: Was bedeutet »das jüdische Volk«? Der Terminus »Volk« - »am« im Hebräischen, »people« im Englischen - hat keine akzeptierte genaue Definition. Im allgemeinen meint man damit eine Gruppe von Menschen, die in einem bestimmten Gebiet leben und eine bestimmte Sprache sprechen. Das »jüdische Volk« ist anders. Vor zweihundert Jahren war es klar, daß die Juden eine religiöse Gemeinschaft waren, die in der ganzen Welt zerstreut lebten und durch religiösen Glauben und durch religiöse Mythen (darunter der Glauben an eine gemeinsame Abstammung) verbunden waren. Die Zionisten entschlossen sich, diese Selbstwahrnehmung zu ändern. »Wir sind ein Volk, e i n Volk«, schrieb Theodor Herzl, der Gründer des Zionismus, auf Deutsch und verwendete das Wort »Volk«.
 
Die Idee des »Staates des jüdischen Volkes« ist entschieden antizionistisch. Herzl träumte nicht von einer Situation, in der ein jüdischer Staat und eine jüdische Diaspora koexistieren würden. Nach seinem Plan würden alle Juden, die Juden bleiben wollen, in ihren Staat immigrieren. Die Juden, die es bevorzugen würden, außerhalb dieses Staates zu leben, würden aufhören, Juden zu sein und in ihren Gastländern aufgehen, also schließlich richtige Deutsche, Briten und Franzosen werden. Es wurde angenommen, daß die Umsetzung der Vision des »Staatsvisionärs« (wie er offiziell in Israel bezeichnet wird) die Auflösung der jüdischen Diaspora, also der Juden außerhalb des »Judenstaates«, mit sich bringen würde. David Ben Gurion war ebenfalls ein Mitstreiter dieser Vision. Er behauptete, daß ein Jude, der nicht nach Israel emigriere, kein Zionist sei und auch keine Rechte in Israel erhalte – außer dem Recht, dorthin zu emigrieren. Er forderte auch die Auflösung der zionistischen Organisation, da er in ihr nur das Gerüst für den Aufbau des Staates sah. Sobald der Staat errichtet sei, so dachte er ganz richtig, solle das Gerüst abgebaut werden. Netanjahus Forderung, daß die Palästinenser Israel als den Staat des jüdischen Volkes anerkennen sollen, ist lächerlich, selbst als eine Taktik, um den Frieden zu verhindern. Ein Staat erkennt einen (anderen) Staat an, nicht seine Ideologie oder sein politisches Regime. Keiner erkennt Saudi-Arabien, die Heimat der Pilgerfahrt, als den »Staat der muslimischen Umma« an (Umma bedeutet im Arabischen die Gemeinschaft der Gläubigen). Außerdem würde diese Forderung die Juden in aller Welt in eine unmögliche Position bringen. Wenn die Palästinenser Israel als »Staat des jüdischen Volkes« anerkennen müßten, dann müßten dies alle Regierungen weltweit auch tun. Die Vereinigten Staaten zum Beispiel. Das würde heißen, daß die jüdischen US-Bürger Rahm Emmanuel und David Axelrod, Obamas engste Berater, offiziell von der Regierung Israels vertreten sind. Dasselbe gilt für die Juden in Rußland, in Großbritannien und in Frankreich.
 
Selbst wenn Mahmud Abbas davon überzeugt würde, diese Forderung zu akzeptieren – und er deshalb indirekt die Staatsbürgerschaft der 1,5 Millionen Araber in Israel in Zweifel ziehen würde – würde ich dies energisch zurückweisen. Ja, ich würde dies sogar als einen unfreundlichen Akt ansehen. Der Charakter des Staates Israel muß von den Bürgern Israels entschieden werden, die verschiedene Meinungen zu dieser Frage haben. Vor dem israelischen Gerichtshof ist ein Antrag von Dutzenden israelischer Patrioten anhängig, denen auch ich angehöre. Dieser verlangt, daß der Staat die »israelische Nation« anerkennt. Wir fordern den Gerichtshof auf, die Regierung zu instruieren, uns im offiziellen Bevölkerungsregister unter dem Stichwort »Nation« als »Israelis« einzuschreiben. Die Regierung weist dies hartnäckig zurück und besteht darauf, daß unsere Nation jüdisch sei.
 
Ich bitte Mahmud Abbas, Obama und jeden anderen, der kein israelischer Bürger ist, darum, sich nicht in diese innere Debatte einzumischen. Netanjahu weiß natürlich, daß seine Forderung von niemandem ernst genommen wird. Es ist ganz offensichtlich ein weiterer Sprengkörper, um ernsthafte Friedensgespräche scheitern zu lassen. Wenn er gezwungen ist, sie fallenzulassen, wird es nicht lange dauern, bevor er mit einem anderen Vorwand kommt.
 
Anmerkung: Als Ergänzung zu Avnerys Darlegungen fügen wir noch einen Auszug aus einem Bericht der Welt an [1]: Inzwischen war der israelische Außenminister Avigdor Lieberman am 7. 5. 09 zu seinem Antrittsbesuch in Berlin eingetroffen. Auf seiner ersten Europa-Reise war er zuvor in Italien, Frankreich und Tschechien. Diese erste Europa-Reise als israelischer Außenminister ist keine leichte Mission für ihn: Er soll Europa auf die künftige Nahost-Politik der nationalkonservativen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einstimmen. Doch Lieberman hat in der Vergangenheit mit anti-arabischen Äußerungen für Kritik gesorgt. Erstmals hat das politische Berlin einen israelischen Außenminister mit erkennbarer Distanz empfangen. Lieberman, der der rechtsgerichteten Einwandererpartei Israel Beitenu (Unser Haus Israel) angehört, ließ bei seinem Antrittsbesuch im Gespräch mit MdB offen, ob seine Regierung eine Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren könnte. Vizekanzler Steinmeier hatte schon vorher klarstellen lassen, dass auch von der neuen israelischen Regierung erwartet wird, dass sie die im Nahost-Friedensprozess erzielten Vereinbarungen einhält und sich auch dafür einsetzen wird, eine Zwei-Staaten-Lösung zustande kommen zu lassen. Am 6. Mai hatte Bundeskanzlerin Merkel die neue israelische Regierung dazu aufgerufen, sich zu einer Zwei-Staaten-Lösung im Nahost-Konflikt zu bekennen: »Es gibt keine Alternative zu einer solchen Lösung«, sagte sie nach einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II. Auch Steinmeier hatte mit diesem über Friedenslösungen für die Region gesprochen. Ruprecht Polenz, MdB, sagte nach dem Treffen mit Liebermann, die Linie der neuen israelischen Regierung werde sicher erst beim Antrittsbesuch von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Washington am 18. Mai erkennbar werden. Klar geworden sei jedoch bereits, dass Lieberman nicht den Konflikt zwischen Israel und Palästinensern, sondern den zwischen gemäßigten und radikalen Muslimen als zentral ansehe. Iran werde als Hauptbedrohung betrachtet, berichtete Polenz. Der SPD-Außenpolitiker Gert Weisskirchen erklärte, für ihn sei erstaunlich gewesen, dass Lieberman eine militärische Antwort auf den Iran nicht als zwingend beschrieben habe. Dies lasse darauf schließen, dass Israel gegenüber der US-Regierung von Barack Obama flexibler auftreten wolle, um Lösungen zuzulassen. Zum Gespräch über eine Zwei-Staaten-Lösung sagte Weisskirchen, Lieberman sei sehr deutlich gemacht worden, dass diese für die Europäer oberste Priorität habe.
 
http://www.jungewelt.de/2009/05-05/024.php
Uri Avnery ist Mitbegründer des israelischen Friedensblocks Gush Shalom. Eine Langfassung seines Artikels findet sich im Internet: www.uri-avnery.de
Übersetzung: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz
1 http://www.welt.de/politik/article3697063/Berlin-empfaengt-Lieberman-mit-kuehler-Distanz.html 7. 5. 09