Gaza 2009 - »Löscht alle Wilden aus!« Von Noam Chomsky

Der jüngste amerikanisch-israelische Angriff auf hilflose Palästinenser wurde am Samstag, dem 27. Dezember, begangen. Die Attacke war minutiös geplant - in der israelischen Presse ist von sechs Monaten die Rede.

Zwei Komponenten - eine militärische und eine propagandistische - spielten bei der Planung eine Rolle. Von grundlegender Bedeutung waren die Lehren, die aus Israels Libanon-Invasion 2006 gezogen wurden. Diese galt als schlecht vorbereitet und schlecht vermarktet. Wir können daher ziemlich sicher sein, daß das meiste, was (jetzt) gesagt und getan wurde, geplant und beabsichtigt war. Ganz sicher gilt das auch für das Timing der Attacke: Sie begann kurz vor der Mittagszeit, als die Kinder aus der Schule kamen und Menschenmassen die Straßen des dichtbesiedelten Gaza-Stadt füllten. Man brauchte lediglich Minuten, um 225 Menschen zu töten und 700 zu verwunden. Dieser Auftakt war ein Omen für den kommenden Massenmord an einer schutzlosen, zivilen Bevölkerung, die in einem kleinen Käfig in der Falle sitzt und keinen Ort hat, an den sie sich flüchten kann.
 
In seinem Rückblick auf den Krieg in »Parsing Gains of Gaza War« (Analyse dessen, was durch den Gaza-Krieg gewonnen wurde), in der New York Times 1 bezeichnet Ethan Bronner folgendes als eines der wichtigsten Ziele, die erreicht wurden: Israel habe kalkuliert, daß es von Vorteil sei, so zu tun, als würde man durchdrehen, indem man massiv disproportionalen Terror produziere. Es ist eine Doktrin, die bis in die 50er Jahre zurückreicht. »Die Palästinenser verstanden die Botschaft schon am ersten Tag«, schreibt Bronner in seinem Artikel, »als israelische Kriegsflugzeuge mitten am Samstagmorgen zahlreiche Ziele simultan angriffen. Ungefähr 200 Menschen wurden sofort getötet, was die Hamas und ganz Gaza schockierte«. Die Taktik durchzudrehen scheine erfolgreich zu sein, so Bronners Fazit: »Es gibt gewisse Hinweise, daß die Menschen in Gaza diesen Krieg als so schmerzlich empfanden, daß sie versuchen werden, die gewählte Regierung Hamas zu zügeln«. Auch diese Doktrin des Staatsterrorismus ist altbekannt. Ich kann mich allerdings nicht entsinnen, daß die New York Times je eine Retrospektive über den Tschetschenien-Krieg mit dem Titel Analyse dessen, was durch den Tschetschenien-Krieg gewonnen wurde veröffentlicht hätte. Auch durch letzteren Krieg wurde einiges gewonnen. 

Sorgfältig geplant scheint zudem das Ende der Angriffe. Man achtete zeitlich sehr darauf, daß das Ende direkt vor der Amtseinführung (Obamas) erfolgte - um das (unwahrscheinliche) Risiko zu minimieren, daß Obama sich zu einigen kritischen Worten über diese bösartigen, von der USA unterstützten Verbrechen genötigt sähe. Zwei Wochen nach Beginn der Angriffe am Sabbath - als Gaza schon in Trümmern lag und die Zahl der Toten auf 1.000 gestiegen war - erklärte die UN-Agentur UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen), von der die meisten Menschen in Gaza abhängen, um überleben zu können, das israelische Militär weigere sich, Hilfslieferungen nach Gaza durchzulassen. Die Übergänge seien wegen des Sabbath geschlossen. Um den heiligen Tag zu ehren, mußten die Palästinenser, die um ihr Überleben kämpften, auf Nahrungsmittel und Medizin verzichten, während zur selben Zeit Hunderte durch amerikanische Jetbomber und Helikopter abgeschlachtet werden durften. Dieses rigorose Befolgen des Sabbath, diese Doppelmoral, erregte wenig bis gar keine Aufmerksamkeit. Das macht Sinn. In den Annalen der amerikanisch-israelischen Verbrechen findet Grausamkeit und Zynismus dieser Art selten mehr Erwähnung als in einer Fußnote. Man hat sich daran gewöhnt. Um eine relevante Parallele zu zitieren: Im Juni 1982 begann der von der USA unterstützte israelische Einmarsch in den Libanon mit der Bombardierung der palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila (die später zum berüchtigten Schauplatz eines schrecklichen Massakers unter Aufsicht der IDF, Israelische  Verteidigungskräfte, wurden). Bei diesem Bombardement wurde das örtliche Krankenhaus getroffen, das Gaza Hospital, wobei laut Augenzeugenbericht eines akademischen US-Nahostexperten mehr als 200 Menschen getötet wurden. Dieses Massaker war der Auftakt zu einer Invasion, der schließlich 15.000 bis 20.000 Menschen zum Opfer fielen. Weite Teile des Libanons und Beiruts wurden zerstört. Dabei spielte amerikanische Unterstützung auf militärischer und diplomatischer Ebene, eine entscheidende Rolle. Damals wurde gegen mehrere UNO-Sicherheitsratsresolutionen ein Veto eingelegt. Sie sollten die kriminelle Aggression stoppen, die Israel - kaum verhohlen - vor der Bedrohung einer friedlichen politischen Regelung retten sollte. Dies steht im Gegensatz zu den vielen bequemen Erfindungen über israelisches Leid durch intensiven Raketenbeschuß - dieser Fantasie der Entschuldiger.
 
All dies war normal und wird von hohen israelischen Offiziellen auch ziemlich offen diskutiert. Dreißig Jahre später sagte der israelische Stabschef Mordechai Gur: Seit 1948 »kämpfen wir gegen eine Bevölkerung, die in Dörfern und Städten lebt.« Der prominenteste israelische Militäranalyst, Zeev Schiff, faßte Gurs Aussagen so zusammen: »Die Israelische Armee hat stets zivile Populationen angegriffen, absichtlich und bewußt. …. Die Armee, sagte Gur, hat nie zwischen zivilen (und militärischen) Zielen unterschieden, (sondern) zivile Ziele bewußt angegriffen.« Die Begründung lieferte einst der distinguierte Staatsmann Abba Eban: »Es bestand eine vernünftige Aussicht, die sich letztlich auch erfüllt hat, daß eine angegriffene Bevölkerung Druck ausüben wird, damit die Feindseligkeiten enden«, mit dem Effekt - das erkannte Eban sehr wohl - daß Israel seine Programme der illegalen Expansion und harschen Repression ungestört umsetzen können würde. Eban kommentierte eine Erörterung des ehemaligen Premierministers Menachem Begin über die Angriffspolitik von Regierungen der israelischen Arbeitspartei gegenüber Zivilisten. Begin habe das Bild »eines Israels« präsentiert, so Eban, »das zivile Bevölkerungen willkürlich und in jedem nur denkbaren Ausmaß dem Tod und der Angst preisgibt und dies in einer Stimmung, die an Regime erinnert, die weder Mr. Begin noch ich wagen würde, zu benennen.« Eban bestritt keineswegs die von Begin erörterten Fakten. Er kritisierte Begin, weil dieser sie veröffentlichte. Auch scherte es weder Eban noch seine Bewunderer, daß auch Ebans Eintreten für einen massiven Staatsterrorismus an Regime erinnerte, die er nicht gewagt hätte, zu benennen.    
 
Ebans Rechtfertigung des Staatsterrorismus klingt in den Ohren respektierter Autoritäten überzeugend. Während die jüngste amerikanisch-israelische Attacke wütete, erläuterte der Kolumnist der New York Times, Thomas Friedman, Israels Taktik, sowohl bei der aktuellen Attacke als auch bei der Libanon-Invasion 2006. Sie basiere auf dem gesunden (!) Prinzip, »zu versuchen, die Hamas zu belehren, indem man den Militanten der Hamas hohe Verluste zufügt und der Bevölkerung Gazas große Schmerzen.« In pragmatischer Hinsicht machte das Sinn, auch im Libanon, wo »die einzige langfristige Möglichkeit der Abschreckung«, so Friedman, »darin bestand, den Zivilisten - den Familien und Arbeitgebern der Militanten - ausreichend Schmerzen zuzufügen, um die Hisbollah künftig abzuschrecken.« Es ist dieselbe Logik, mit der Ossama bin Laden versuchte, die Amerikaner am 11. September zu belehren. Wirklich, eine äußerst lobenswerte Logik - siehe die Nazi-Angriffe auf Lidice und Oradour, Putins Zerstörung von Grosny und andere Versuche der Belehrung.« Israel war sichtlich bemüht, sich an diese Leitprinzipien zu halten. Wie der Korrespondent der New York Times, Stephen Erlanger, berichtete, »sorgten sich« israelische Menschenrechtsgruppen »über israelische Angriffe auf Gebäude, die nach ihrer Meinung als zivil eingestuft werden sollten - wie das Parlament, Polizeistationen und der Präsidentenpalast.« Aber auch Dörfer, Privathäuser, dichtbesiedelte Flüchtlingslager, Wasser- und Abwassersysteme, Schulen, Krankenhäuser, Universitäten, Moscheen, Einrichtungen des UN-Hilfswerks, Krankenwagen  und alles andere, was das Leid der unwürdigen Opfer verringert, sollte so eingestuft werden. Ein hochrangiger israelischer Geheimdienstoffizier erklärte, die IDF wolle »beide Aspekte der Hamas« angreifen - sowohl »ihren Widerstands- oder Militärflügel, als auch ihre Dawa, ihren sozialen Flügel.« Der letztgenannte Begriff ist ein Euphemismus, gemeint ist die Zivilgesellschaft. »Er (der Geheimdienstoffizier) argumentierte, die Hamas bestünde aus einem Stück«, so Erlanger, »in einem Krieg seien ihre Instrumente der politischen und sozialen Kontrolle ebenso legitime Ziele wie Raketenverstecke.« Erlanger und seine Redaktion kommentierten diese Praxis und die offene Werbung für massiven Terrorismus gegen Zivilisten nicht. Andere Korrespondenten und Kolumnisten signalisierten Toleranz oder sogar offene Werbung für diese Kriegsverbrechen. Erlanger hielt sich an die Norm, doch vergaß er nicht, zu betonen, daß der Raketenbeschuß der Hamas, »ein offensichtlicher Verstoß gegen das Prinzip der Unterscheidung (zwischen Zivilisten und Militär)« sei und »der klassischen Definition von Terrorismus« entspreche.
 
Der Nahostexperte Fawwaz Gerges bemerkt - wie auch andere, die sich mit der Region auskennen: »Was die israelischen Offiziellen und ihre amerikanischen Verbündeten nicht anerkennen, ist, daß die Hamas nicht nur eine bewaffnete Miliz ist, sondern auch eine Sozialbewegung mit einer großen Basis im Volk, die tief in der Gesellschaft verwurzelt ist.« Indem sie ihre Pläne zur Zerstörung des sozialen Flügels der Hamas ausführen, zielen sie daher auf die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft. Gerges ist wohl etwas zu freundlich. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die Offiziellen in Israel und Amerika - oder die Medien und andere Kommentatoren - diese Tatsachen nicht anerkennen. Sie übernehmen vielmehr die traditionelle Perspektive jener, die das Monopol auf die Mittel der Gewalt haben: Unsere stählerne Faust kann jede Opposition zermalmen, und falls unser wüster Angriff viele Tote unter den Zivilisten fordert, hat dies doch sein Gutes - vielleicht haben die Überlebenden ihre Lektion wirklich gelernt.
 
Die Offiziere der IDF wissen genau, daß sie eine Zivilgesellschaft zerstören. Ethan Bronner zitiert einen israelischen Oberst, der sagte, er und seine Leute seien wenig »beeindruckt von den Kämpfern der Hamas.« »Es sind Dorfbewohner mit Gewehren«, so ein Gewehrschütze auf einem APC. Sie ähneln den Opfern der von Shimon Peres geleiteten mörderischen IDF-Operationen eiserne Faust (iron fist) 1985 im besetzten Südlibanon. Peres war einer der großen Terroristenkommandeure in der Ära von Reagans Krieg gegen den Terror. Während der Operationen erklärten die damaligen israelischen Kommandeure und strategische Analysten, bei den Opfern handle es sich um terroristische Dorfbewohner. Es sei schwierig, sie auszulöschen, da »diese Terroristen mit der Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung operieren.« Ein israelischer Kommandeur beschwerte sich, »die Terroristen… haben hier viele Augen, da sie hier leben.« Der Militärkorrespondent der Jerusalem Post schrieb über die Probleme der israelischen Streitkräfte im Kampf gegen die terroristischen Söldner, gegen »die Fanatiker, die sich alle ihrer Sache hinlänglich hingegeben haben, um weiter ihr Leben zu riskieren, während sie gegen die IDF operieren.« Die IDF müsse »die Ordnung und Sicherheit« im besetzten Südlibanon aufrechterhalten - trotz »des Preises, den die Einwohner dafür zahlen müssen.« Das Problem kennen die Amerikaner aus Südvietnam, die Russen aus Afghanistan, die Deutschen aus der Zeit, als sie Europa besetzt hielten und andere Aggressoren, die die Gur-Eban-Friedman-Doktrin umsetzten. 
 
Gerges glaubt, daß der amerikanisch-israelische Staatsterrorismus scheitern wird: Er schreibt, die Hamas »kann nicht ausgelöscht werden, ohne daß man eine halbe Million Palästinenser massakriert. Sollte es Israel gelingen, die hochrangigsten Führer der Hamas zu töten, wird eine neue, noch radikalere Generation diese schnell ersetzen. Die Hamas ist eine Tatsache. Sie wird nicht verschwinden, und sie wird nicht die weiße Flagge hissen, egal, wie viele Opfer sie erleidet.« Möglich. Doch es gibt die Tendenz, die Effizienz von Gewalt zu unterschätzen. So zu denken, ist besonders in der USA absonderlich. Warum sind wir da, wo wir sind? Die
Hamas wird regelmäßig als die vom Iran unterstützte Hamas beschrieben, »deren Ziel es ist, Israel zu zerstören.« Man dürfte lange suchen, um etwas in der Art zu finden: »Die demokratisch gewählte Hamas, die seit langem eine Zweistaatenlösung in Übereinstimmung mit dem internationalen Konsens fordert….« Diese Lösung wird seit über 30 Jahren von der USA und Israel blockiert, die das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung offen und rundweg ablehnen. Das alles ist wahr, aber weil es nicht zur Parteilinie paßt, kann man es weglassen.
 
Details, wie die oben erwähnten, mögen Kleinigkeiten sein, aber sie sagen viel über uns und unsere Klientenstaaten aus. Es gibt noch weitere Details, zum Beispiel dieses: Als die aktuelle amerikanisch-israelische Attacke auf Gaza begann, befand sich ein kleines Schiff, die Dignity, auf dem Weg von Zypern nach Gaza. Die Ärzte und Menschenrechtsaktivisten an Bord wollten gegen Israels kriminelle Blockade verstoßen und der eingeschlossenen Bevölkerung medizinischen Nachschub bringen. Israelische Marineboote stoppten das Schiff in internationalen Gewässern. Sie rammten es so stark, daß es beinahe sank. Mit Hängen und Würgen schaffte es das Schiff bis zum Libanon. Israel veröffentlichte die üblichen Lügen. Journalisten und Passagiere an Bord bestritten diese - darunter auch CNN-Reporter Karl Penhaul oder die ehemalige Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses und ehemalige Präsidentschaftskandidatin der Grünen, Cynthia McKinney. Dies war ein schweres Verbrechen - weit schlimmer als zum Beispiel die Entführung von Booten vor der Küste Somalias. Es wurde kaum Notiz davon genommen. Die stillschweigende Akzeptanz gegenüber Verbrechen dieser Art zeigt, daß man Gaza als besetztes Gebiet sieht und Israel das Recht zubilligt, seine Besatzung aufrechtzuerhalten, ja, daß man sogar annimmt, Israel sei von den Wächtern der internationalen Ordnung dazu befugt, Verbrechen auf hoher See zu verüben, um seine Bestrafungsprogramme gegenüber einer Zivilbevölkerung, die sich gegen israelische Befehle auflehnt, umzusetzen. Als Vorwand wird auf (nahezu) universell Akzeptiertes zurückgegriffen, das jedoch offensichtlich unhaltbar ist. Auch dieser Mangel an Notiz macht Sinn. Seit Jahrzehnten entführt Israel Boote in den internationalen Gewässern zwischen Zypern und Libanon. Israel tötet oder entführt dabei Passagiere. Manchmal werden sie in israelische Gefängnisse verschleppt, einschließlich Geheimgefängnissen/ Folterkammern, um sie in jahrelanger Geiselhaft zu halten. Diese Praxis hat Routine. Warum sollte man auf das neue Verbrechen anders reagieren als mit gähnen? Zypern und der Libanon haben anders reagiert - aber, was haben sie in diesem Zusammenhang schon zu sagen?
 
Oder wen interessiert es, daß die Redaktion der libanesischen Tageszeitung Daily Star, die normalerweise prowestlich ist, schreibt: »Rund 1,5 Millionen Menschen in Gaza sind den mörderischen Aktionen einer der technisch fortschrittlichsten aber moralisch rückschrittlichsten Militärmaschinerie der Welt ausgesetzt. Häufig wird gesagt, die Palästinenser seien in der arabischen Welt das geworden, was die Juden vor dem Zweiten Weltkrieg in Europa waren. Diese Interpretation enthält eine gewisse Wahrheit. Dazu paßt - und es macht krank - daß die Araber Wege finden, um wegzuschauen und nichts zu unternehmen, wenn Israel palästinensische Kinder tötet, ebenso wie die Europäer und Nordamerikaner wegschauten, als die Nazis den Holocaust verübten.« Die brutale Diktatur Ägyptens ist vielleicht das schändlichste unter den arabischen Regimen. Dieses Regime erhält - neben Israel - die meiste US-Militärhilfe. Laut der libanesischen Presse verschleppt Israel noch immer routinemäßig libanesische Zivilisten von der anderen Seite der Blauen Linie (internationale Grenze), zuletzt im Dezember 2008.« Und natürlich »verletzen israelische Flugzeuge den libanesischen Luftraum täglich und verstoßen damit gegen UN-Resolution 1701« (wie der libanesische Gelehrte Amal Saad-Ghorayeb am 13. Januar im Daily Star schrieb). Auch das geht seit langem so. Der berühmte israelische Strategieanalyst Zeev Maoz verurteilte die Libanon-Invasion im Jahr 2006. Er schrieb in der israelischen Presse: »Israel verletzt den libanesischen Luftraum, indem es seit seinem Rückzug aus dem Libanon vor sechs Jahren praktisch täglich Luftaufklärungsmissionen durchführt. Es stimmt, daß diese Aufklärungsflüge auf libanesischer Seite keine Opfer fordern, aber Grenzverletzung bleibt Grenzverletzung. Auch hier ist Israel moralisch nicht stärker im Recht.« Es sei generell anzumerken, so Maoz, daß der »Mundpropaganda-Konsens in Israel, der lautet, der Krieg gegen die Hisbollah im Libanon war ein gerechter und moralischer Krieg«, der Grundlage entbehre. Dies sei ein Konsens »basierend auf einem selektiven Kurzzeitgedächtnis, einer introvertierten Weltsicht und einer Doppelmoral. Dies war kein gerechter Krieg, die Anwendung von Gewalt war exzessiv und willkürlich, sein ultimatives Ziel Erpressung.« Maoz erinnert seine israelischen Leser auch daran, daß das knallende laute Durchbrechen der Schallmauer, um die Libanesen zu terrorisieren, noch das geringste der israelischen Verbrechen im Libanon sei - ganz abgesehen von fünf Invasionen seit 1978: »Am 28. Juli 1988 entführten Israelische Spezialeinheiten Sheikh Obeid, am 21. Mai 1994 entführte Israel Mustafa Dirani, der für die Gefangennahme des israelischen Piloten Ron Arad verantwortlich war (als dieser 1986 Bomben auf den Libanon abwarf). Israel hielt sie und weitere 20 Libanesen, die unter geheim gehaltenen Umständen gefangen genommen wurden, über einen längeren Zeitraum ohne Verfahren in Haft. Sie wurden als menschliche Verhandlungs-Chips festgehalten. Offensichtlich halten die Israelis Entführungen für moralisch nachvollziehbar, wenn auf diese Weise Gefangene ausgetauscht werden. Militärisch zu bestrafen sind Entführungen, wenn sie von der Hisbollah begangen werden, jedoch nicht, wenn Israel genau dasselbe tut« - will heißen, in weit größerem Ausmaß und über viele Jahre hinweg.
 
Die israelische Routinepraxis ist bemerkenswert - ganz abgesehen davon, was sie über die Kriminalität Israels und die westliche Unterstützung für diese Kriminalität verrät. Wie Maoz zeigt, unterstreicht diese Praxis die absolute Heuchelei der Standardbehauptung, Israel sei 2006 berechtigt gewesen, ein weiteres Mal in den Libanon einzumarschieren, nachdem (israelische) Soldaten an der Grenze gefangen genommen wurden. Es war die erste grenzüberschreitende Aktion der Hisbollah seit sechs Jahren - seit dem israelischen Rückzug aus dem Südlibanon. Israel hatte den Südlibanon 22 Jahre lang besetzt gehalten und damit gegen mehrere Anordnungen des UN-Sicherheitsrates verstoßen. Während der sechs darauffolgenden Jahre verletzte Israel die Grenze fast täglich - ungestraft - während bei uns Schweigen herrschte.
 
Und wieder wird Heuchelei zur Routine. So schreibt Thomas Friedman - während er erklärt, wie minderwertigere Ethnien mittels Terrorgewalt zu erziehen seien - Israels Libanon-Invasion 2006, bei der Südlibanon und Beirut erneut zerstört wurden und noch einmal mehr als 1.000 Zivilisten starben, sei ein gerechter Akt der Selbstverteidigung gewesen, mit dem man auf folgendes Verbrechen der Hisbollah reagiert habe: Die Hisbollah habe »einen unprovozierten Krieg über die von der UNO anerkannte israelisch-libanesische Grenze hinweg geführt, nachdem sich Israel unilateral aus dem Libanon zurückgezogen hatte.« Ganz abgesehen von der Täuschung, die in dieser Aussage steckt, würde diese Logik doch bedeuten, daß Terroranschläge gegen Israelis - noch weit zerstörerischere und mörderischere, als es sie je gab - völlig gerechtfertigt wären, dies als Reaktion auf die israelische Praxis im Libanon und auf hoher See, die weit über das Verbrechen der Hisbollah hinausgeht, zwei Soldaten an der Grenze gefangen zu nehmen. Der erfahrene Nahostexperte der New York Times (Friedman) weiß über diese Verbrechen sicherlich Bescheid - zumindest, falls er seine eigene Zeitung liest. So steht in Absatz 18 eines Artikels derselben vom November 1983 über einen Gefangenenaustausch beiläufig: 37 der arabischen Gefangenen  »wurden kürzlich von der Israelischen Marine festgenommen, als sie versuchten, von Zypern nach Tripoli, nördlich von Beirut, zu gelangen.« Natürlich ist allen Schlussfolgerungen über angemessene Aktionen gegen die Reichen und Mächtigen ein grundlegendes Manko gemein: Wir sind wir, und sie sind sie. Dieses entscheidende Prinzip ist tief in unserer westlichen Kultur verankert. Es genügt, um die präzisesten Analysen und unanfechtbarsten Begründungen zu unterminieren.
 
Während ich dies schreibe, ist ein zweites Boot von Zypern nach Gaza unterwegs. Es bringt dringend benötigten medizinischen Nachschub in versiegelten Kisten, die vom Zoll des Internationalen Flughafens Larnaca und vom Hafen (in Larnaca) freigegeben wurden, so die Organisatoren. Mit an Bord befinden sich Mitglieder des EU-Parlaments und Ärzte. Israel wurde über ihre humanitären Absichten informiert. Falls der öffentliche Druck groß genug sein wird, könnten sie mit ihrer Mission Erfolg haben und in Frieden gelassen werden. Die neuen Verbrechen, die Amerika und Israel in den vergangenen Wochen in Gaza begingen, passen nicht so recht in eine der Standardkategorien - abgesehen von der kategorischen Vertrautheit. Ich habe soeben mehrere Beispiele aufgezählt und werde auf weitere zurückkommen. Die Verbrechen entsprechen zwar buchstäblich der offiziellen Terrorismus-Definition der US-Regierung, aber das heißt nicht, daß diese Kategorie ihrem Ausmaß gerecht würde. Man kann auch nicht von einem Angriff sprechen, da die Verbrechen auf besetztem Gebiet stattfanden - wie die USA stillschweigend eingesteht. In ihrer umfassenden akademischen Abhandlung über die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, Lords of the Land, weisen die Autoren Idit Zertal und Akiva Eldar auf folgendes hin: Als Israel im August 2005 seine Truppen aus Gaza abzog, wurde das verwüstete Gebiet »nicht einen einzigen Tag aus dem Griff des israelischen Militärs entlassen oder vom Preis der Besatzung (freigestellt), den dessen Bewohner jeden Tag entrichten… Israel hinterließ verbrannte Erde, verwüstete Dienstleister und Menschen, die weder Gegenwart noch Zukunft hatten.« Die Siedlungen wurden zerstört. Es war der engherzige Schritt eines engstirnigen Besatzers, der das Gebiet im Endeffekt weiter kontrolliert und dessen Bewohner mit Hilfe seiner formidablen militärischen Stärke tötet und schikaniert. Dank treuer amerikanischer Unterstützung und Hilfe geschieht dies mit extremer Brutalität. 
 
Die amerikanisch-israelische Attacke gegen Gaza eskalierte im Januar 2006, wenige Monate nach dem formalen Rückzug, nachdem die Palästinenser ein wirklich unerhörtes Verbrechen begangen hatten: Sie wählten in einer freien Wahl falsch. Wie auch andere mußten sie lernen, daß man die Befehle des Herren nicht ungestraft mißachtet. Dieser Herr kann weiter von seiner ›Sehnsucht nach Demokratie‹ schwafeln, ohne daß die gebildeten Klassen in Gelächter ausbrechen - auch dies eine beeindruckende Errungenschaft. Die Begriffe Angriff oder Terrorismus sind somit inadäquat. Neue Begriffe müssen her, für die sadistische und feige Folter an Menschen in Käfighaltung, die keine Möglichkeit zur Flucht hatten, während sie durch die ausgefeiltesten Produkte der US-Militärtechnologie zu Staub zermalmt wurden. Diese Produkte werden gegen internationales - und selbst amerikanisches - Recht eingesetzt und bleiben Staaten vorbehalten, die sich selbst zu Outlaws erklärten. Auch das nur ein kleiner technischer Umstand. Ein weiterer technischer Umstand von minderer Bedeutung ist die Tatsache, daß Washington am 31. Dezember - während die terrorisierten Menschen in Gaza verzweifelt Schutz vor dem gewissenlosen Angriff suchten - ein deutsches Handelsschiff anheuerte, um eine Großfracht von 3.000 Tonnen nichtidentifizierter Munition von Griechenland nach Israel zu transportieren. Reuters berichtete: Die neue Lieferung »erfolgte, nachdem ein kommerzielles Schiff gemietet worden war, um im Dezember eine weit größere Bestellung von der USA nach Israel zu bringen, (das war) vor den Luftangriffen auf den Gazastreifen.« Das Ganze hat nichts mit der Summe von mehr als 21 Milliarden US-$ an Militärhilfe zu tun, die die Regierung Bush für Israel bereitgestellt hat und die, bis auf einen sehr geringen Teil, ein Geschenk ist. »Israels Intervention im Gazastreifen wurde weitgehend mit Waffen betrieben, die Amerika bereitstellte und für die amerikanische Steuerzahler bezahlten«, steht in einem Briefing der New America Foundation, die den Waffenhandel überwacht. Die neue Lieferung wurde durch die griechische Regierung behindert, die die Nutzung sämtlicher griechischer Häfen »für Lieferungen an die Israelische Armee« untersagt hatte. Die Reaktion Griechenlands auf die Verbrechen, die mit Unterstützung der USA begangen wurden, unterschied sich sehr von den Auftritten der meisten europäischen Führer. Dieser Unterschied zeigt, daß Washington vielleicht ganz realistisch war, als es Griechenland - bis zum Sturz der von der USA unterstützten faschistischen Regierung im Jahr 1974 - als Teil des Nahen Ostens einschätzte und nicht als Teil Europas. Vielleicht ist Griechenland zu zivilisiert, um ein Teil Europas zu sein.
 
Wer das Timing der Waffenlieferungen an Israel kurios findet und nähere Nachforschungen betreibt, bekommt vom Pentagon eine Antwort: Die Lieferung sei zu spät erfolgt, um zu einer Eskalation der Angriffe auf Gaza geführt zu haben. Die militärische Ausrüstung - was immer es war - werde in Israel zwischengelagert, um irgendwann vom amerikanischen Militär verwendet zu werden. Das mag stimmen. Einer der vielen Dienste, den Israel seinem Patron leistet, ist die Bereitstellung einer wertvollen Militärbasis an der Peripherie der wichtigsten Energieressourcen der Welt. Israel ist also als vorgerückte Basis für US-Angriffe nutzbar - oder, um es mit den entsprechenden technischen Begriffen auszudrücken, zur Verteidigung des Golfes und zur Sicherung der Stabilität. Der massive Waffenfluß nach Israel erfüllt außerdem viele nebenrangige Zwecke. Wie Mouin Rabbani, der Analyst für Nahostpolitik, bemerkte, kann Israel so neuentwickelte Waffensysteme, gegen wehrlose Ziele testen. Dies ist sowohl für Israel als auch für die USA wertvoll: »in doppeltem Sinne, denn weniger effektive Versionen genau dieser Waffensysteme werden anschließend, massiv überteuert, an arabische Staaten verkauft, die die US-Waffenindustrie und die Geschenke des US-Militärs an Israel im Grunde subventionieren.« Dies ist eine zusätzliche Bedeutung, die Israel für das von Amerika beherrschte System Naher/Mittlerer Osten zukommt und ein weiterer Grund, weshalb Israel von der US-Regierung sowie von einer großen Bandbreite amerikanischer Hightech-Konzerne - und natürlich von der Militär- und Geheimdienstindustrie - so favorisiert wird.
 
Die USA ist - ganz abgesehen vom Thema Israel - der größte Waffenlieferant der Welt. Der aktuelle Report der New America Foundation kommt zu dem Schluss, daß amerikanische Waffen und amerikanisches Militärtraining 2007 in 20 der 27 großen Kriege in der Welt eine Rolle gespielt haben. Die USA verdiente 23 Milliarden $ an den Bestellungen. 2008 stieg die Summe auf 32 Milliarden $. Wen sollte es also wundern, daß eine der zahlreichen UNO-Resolutionen, gegen die Amerika in der UNO-Vollversammlung im Dezember 2008 gestimmt hat, zur Regulierung des Waffenhandels aufforderte. 2006 war die USA noch allein, als sie gegen dieses Abkommen votierten, im November 2008 bekamen sie einen Partner: Zimbabwe. Bei der UNO-Vollversammlung im Dezember 08 kam es gleich zu mehreren bemerkenswerten Abstimmungen. Eine Resolution, in der es um das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung ging, wurde angenommen - mit 173 Stimmen gegen 5 Stimmen (USA, Israel und mehrere abhängige Inseln im Pazifik). Die Abstimmung machte den international isolierten, gemeinsamen Rejektionismus von Amerika und Israel deutlich. So wurde eine Resolution über universelle Reisefreiheit und die vitale Bedeutung von Familienzusammenführungen ebenfalls gegen die Stimmen von Amerika, Israel und einiger abhängigen pazifischen Inseln verabschiedet. Wahrscheinlich hatte man die Palästinenser im Hinterkopf. Als über das Recht auf Entwicklung abgestimmt wurde, verlor die USA Israel als Partner - dafür gewannen sie die Ukraine. Bei der Abstimmung über das Recht auf Nahrung stand die USA alleine. Diese Tatsache ist angesichts der enormen globalen Nahrungskrise besonders bemerkenswert. Vor dieser Krise wirken die Finanzkrisen, die die westlichen Ökonomien bedrohen, sehr klein.
 
Quelle: ZNet Deutschland  http://zmag.de/artikel/gaza-2009-1 vom 20.01.2009 Teil I Originalartikel: »Exterminate all the Brutes«; ü ersetzt von: Andrea Noll
und http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/005502.html
1 http://www.nytimes.com/2009/01/19/world/middleeast/19assess.html 18. 1. 09
Hervorhebungen durch politonline
Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.