Hängt Cheney mit dem türkischen Gladio-Netz zusammen?

Die Türkei ist gerade einer größeren Destabilisierung entkommen. Das Verfassungsgericht verwarf eine Klage, wonach die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) den Verfassungsgrundsatz der Säkularität verletzt habe.

Eine Verurteilung der AKP hätte ein Verbot der Partei bedeutet, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und 50 Abgeordneten wäre die politische Aktivität für fünf Jahre untersagt worden. Die Entscheidung hätte das Land ins Chaos gestürzt [1]. Dieser postmoderne Putschversuch fällt zeitlich mit dem Vorgehen der Behörden gegen das kriminelle Netzwerk Ergenekon zusammen, eine Art türkisches Äquivalent zum berüchtigten Gladio-Netz in Italien, das zur NATO gehörte und in den Terrorismus verwickelt war. Ergenekon wird vorgeworfen, über eine Strategie der Spannung einen Militärputsch gegen die Regierung Erdogan anzustreben. Am 15.7. präsentierte der türkische Oberstaatsanwalt eine 2500 Seiten umfassende Anklageschrift gegen Ergenekon. Diese enthält direkte Hinweise auf US-Vizepräsident Dick Cheney, dessen Name nicht weniger als viermal auf taucht. Vor allem wird berichtet, daß drei Spitzenberater Cheneys sich in  Washington mit dem Korrespondenten der ultranationalistischen türkischen Zeitung Cumhuriyet getroffen hätten. Der Herausgeber der Zeitung, Ilhan Selcuk, wurde im Zusammenhang mit dem Ergenekon-Verfahren verhaftet, Chefredakteur Ibrahim Yildiz wurde vernommen. Im Vorstand der Cumhuriyet-Stiftung, der die Zeitung gehört, sitzt Gendarmeriegeneral a.D. Sener Eruygur, der gegenwärtig inhaftiert ist und als einer der mutmaßlichen Köpfe des Ergenekon-Netzes gilt. Die Seite 95 der Anklageschrift enthält ein mitgeschnittenes Gespräch, worin Yildiz Selcuk über ein Treffen vom 20. 2. 08 berichtet. Yildiz wird wie folgt zitiert: »Nun, Bruder, ich habe mit Elcin [Poyrazlar] gesprochen. Elcin hat sich mit drei Leuten getroffen..., darunter zwei von Cheneys Beratern, die Nummer 1 und Nummer 2 seiner Berater, und einer aus seiner Kommission für politische Angelegenheiten. (...) Der Inhalt des Treffens: ein bißchen Gedankenaustausch und dann die Fortsetzung dieser Kontakte in der Zukunft. Aber sie waren vor allem neugierig darauf, ob es eine Opposition gegen die AKP gibt oder nicht? Moderater Islam, Fragen nach Al Kaida usw. Sie sagten, wir sollten weiter miteinander reden, aber informell und ohne Öffentlichkeit....« Selcuk wurde am 21. 3. 08 verhaftet und befragt, warum sein Korrespondent sich mit Cheney treffe. Cheney wird selbst nicht verdächtigt, doch ist es interessant, daß die türkische Polizei den gesunden Verdacht hegt, wer sich mit Cheney treffe, der habe vielleicht landesfeindliche Absichten. Wie in der Türkei allgemein bekannt ist, befindet sich Cheneys neokonservativer Apparat auf Konfrontationskurs mit der Regierung Erdogan. Michael Rubin von der Neocon-Denkfabrik American Enterprise Institute hat sogar die absurde Behauptung aufgestellt, Erdogan sei der türkische Ahmadinedschad. Am 14. 3., wenige Wochen nach dem Washingtoner Treffen, eröffnete der Oberstaatsanwalt das Verfahren gegen die AKP. Am 24.3. folgte Cheneys eigene offizielle Reise in die Türkei. Wie vielfach gemeldet, wurde, setzte Cheney die Regierung unter Druck, zusätzliche Truppen nach Afghanistan zu entsenden, was diese jedoch zurückwies. Viele Kommentatoren vermuteten auch, daß er mit der Reise Unterstützung für einen Angriff auf den Iran mobilisieren wollte, was die Regierung Erdogan ebenfalls ablehnt.
 
Was das Gladio-Netz betrifft, so ist Daniele Ganser in mehrjähriger Forschungsarbeit auf brisante Dokumente gestoßen: Sie belegen, daß die von der USA angeführte Militärallianz nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Ländern Westeuropas geheime Armeen aufgebaut hat, welche von den Geheimdiensten CIA und MI6 trainiert wurden. Ihr Ziel: im Falle einer sowjetischen Invasion als Guerilla zu kämpfen, um die besetzten Länder wieder zu befreien. Doch dabei ist es nicht geblieben. Gezielt wurden Attentate gegen die eigene Bevölkerung ausgeführt, um Unsicherheit zu erzeugen und den Ruf nach einem starken Staat zu unterstützen. Sowohl die ursprüngliche Planung als auch die antikommunistisch motivierten Verbrechen sind heute der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt. Die diesbezüglichen Fakten sind in Gansers Buch NATO - Geheimarmeen in Europa niedergelegt.
 
1 Strategic Alert, Jahrgang 22, Nr. 32 vom 7. August 2008