Washingtons neuer Kalter Krieg und Rußlands Antwort - Von F. William Engdahl

Nachdem die Bush-Administration die mit Rußland am Ende des Kalten Krieges abgeschlossenen bilateralen Abkommen zum Verbot Anti-Ballistischer Raketen (ABM) aufgekündigt hat, die USA mit Nachdruck darauf drängt, die Ukraine und Georgien in die NATO einzugliedern und Washington sich geweigert hat, seine provokanten Pläne für die Stationierung eines ABM-Raketenschilds in Polen und der Tschechischen Republik aufzugeben, sollte es niemanden überraschen, daß Rußland auf diese Entwicklungen mit einer Verstärkung und Modernisierung seines eigenen Streitkräftepotentials reagiert [1].

Der Irrsinn der ursprünglich von Rumsfeld und Cheney ausgeklügelten Verteidigungsstrategie »Full Spectrum Dominance«, zu deutsch »Dominanz des vollen Konfliktspektrums«, wird nun offensichtlich und hat dazu geführt, daß die Welt erneut am Rande eines Atomkriegs steht - und sei es auch nur auf Grund einer strategischen Fehleinschätzung. Diese Realität stellt im Moment die größte Bedrohung für Weltfrieden und Wohlstand dar - doch sie wird praktisch totgeschwiegen. Warum sind unsere Politiker und Medien so wortkarg, wenn es um diese weltpolitisch hochbrisante Situation geht?
 
Als der Kalte Krieg im November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer auf Anweisung des letzten politischen Staatschefs der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, endete, ging ein Großteil der Welt davon aus, daß wir am Beginn einer neuen Ära friedlicher Wirtschaftskooperation mit dem ehemaligen Gegner Westeuropas stünden. Der Warschauer Pakt, die Militärallianz der UdSSR und ihrer osteuropäischen »Satelliten«staaten, wurde aufgelöst. Die Sowjetunion selbst zerfiel in ein Chaos aus Republiken, die ihrerseits ihre jeweilige Unabhängigkeit erklärten. Rußland wurde von Harvard-Ökonomen wie Jeffrey Sachs und dem von den USA kontrollierten Weltwährungsfonds (IWF) »beraten«. Sie forderten eine umgehende »Schocktherapie«: radikale Wirtschaftsreformen, um alles sofort zu privatisieren und die Wirtschaft dem Ausland gegenüber zu öffnen, was zu nichts anderem als den berüchtigten Beutezügen und unverhohlenen Plünderungen durch westliches Kapital führte. In dieser Zeit nach 1990, als Rußland in der Jelzin-Ära um sein Überleben als Nation kämpfte, ging Washington daran, seine nuklearen Erstschlagskapazitäten weiter zu modernisieren und insgeheim das kontroverse und von der Bezeichnung her irreführende »Anti-Missile Defense«-System (AMD), zu deutsch »Raketenabwehrsystem« voranzutreiben. In meinem Buch Apokalypse jetzt! beschreibe ich detailliert, daß das AMD alles andere als ein Abwehrsystem ist. In Wahrheit stellt das AMD in militärischen Begriffen so ziemlich das offensiv-aggressivste Waffensystem dar, das man sich vorstellen kann: Es ist das »missing link«, das fehlende Bindeglied, nach dem die Planungsstrategen des Pentagons seit den 1950er Jahren gesucht hatten: die atomare Vormachtstellung der USA mit der Fähigkeit, einen nuklearen Erstschlag gegen Rußland und China führen zu können, ohne einen Gegenschlag fürchten zu müssen. Trotz wiederholter Proteste und Alternativvorschläge von Ex-Präsident Putin an die Adresse Washingtons, etwa die Errichtung einer gemeinsamen Raketenabwehrstellung in Aserbaidschan, wo es bereits eine russische Radarstellung gibt, um »mögliche iranische Nuklearschläge abzuwehren« - so die öffentliche Begründung der Bush-Administration für ihr aggressives Vorgehen - hat Washington bisher jeden Kompromiß in dieser Richtung kategorisch abgelehnt und in klassischer Joseph-Goebbels-Manier einfach so oft die Lüge wiederholt, daß »Rußland paranoid und zur früheren kommunistischen Geisteshaltung zurückgekehrt« sei - die für den Kalten Krieg charakteristisch war - daß die meisten leichtgläubigen Menschen des kapitalistischen Westens zu der Ansicht verleitet wurden, das einzige Problem hier sei Rußlands Unnachgiebigkeit.   
 
Washington weitet ABM-Gespräche auf andere Nachbarstaaten Rußlands aus
In der Zwischenzeit hat Washington mehr oder weniger im Stillen seine ABM-Gespräche auf andere Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts oder der Sowjetunion an den Grenzen Rußlands ausgeweitet, dies zur Errichtung weiterer Raketenabwehrstellungen neben denen, die bereits in der Tschechischen Republik und in Polen geplant sind. Kürzlich wurde berichtet, daß Washington sich bereits in Gesprächen mit Litauen befindet, um Teile des US-Raketenschilds dort zu installieren - für den Fall, daß Warschau den Vorschlag der USA zum Bau einer Stellung für zehn Abfang«raketen ablehnen sollte. General a.D. Leonid Iwaschow, der Präsident der Akademie für Geopolitik in Moskau, sagt dazu: »Wir sollten davon ausgehen, daß Teile des US-amerikanischen Raketenschilds nicht nur in Litauen, sondern in allen Regionen errichtet werden, die unmittelbar an Rußland angrenzen und von der NATO kontrolliert werden.« Die Tschechische Republik hat der Errichtung einer US-amerikanischen AMD-Radaranlage bereits zugestimmt. Polen verlangt von den USA Hilfe bei der Modernisierung der landeseigenen Streitkräfte als Gegenleistung dafür, daß Polen in einem möglichen Atomkrieg zwischen Ost und West de facto ein strategisches Ziel allerhöchster Priorität sein wird.
 
Iwaschow glaubt, daß das Ziel des US-Raketenabwehrprogramms die vollständige Neutralisierung des russischen Nuklearpotentials bis 2012, spätestens 2015 sei, und daß diese seit 1990 konstant vorangetriebene Ausweitung der NATO nach Osten ein wesentlicher Bestandteil dieses Plans war. Der von den USA ausgeübte Druck, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen - und dies vielleicht schon beim NATO-Außenministertreffen in Brüssel im Dezember 2008 - hätte für Rußland schwerwiegende strategische Implikationen. Es würde nämlich bedeuten, daß Rußland innerhalb weniger Monate US-amerikanischen Nuklearschlägen schutzlos ausgeliefert wäre. Iwaschow erklärte: »Es besteht kein Zweifel daran, daß Teile des US-Raketenschilds in Georgien und der Ukraine stationiert werden, sobald beide Länder der NATO beigetreten sind«, und fügte hinzu, daß die Ukraine bereits Radarstellungen in Mukatschewo und Sewastopol betreibt, die gegen Rußland eingesetzt werden könnten. »Die USA will ein undurchdringliches Raketenschild errichten, mit dem sie imstande ist, russische Atomraketen zu jedem Zeitpunkt abzufangen und außer Gefecht zu setzen, sei es auf der Abschußrampe, nach dem Start, im Orbit oder vor Erreichen des Ziels«, fügte er hinzu. Der russische Strategieexperte verwies auf die reale Situation in sachlich-nüchterner Manier. Damit deutschsprachige Leser wenigstens ansatzweise nachvollziehen können, was dieses Raketenschild und die Strategie hinter ihm für die Zukunft des Friedens auf dem europäischen Kontinent bedeutet, hier nochmals Iwaschows Einschätzung etwas ausführlicher: »Rußland muß nun auch die Länder Europas warnen, daß im Falle einer potentiellen militärischen Konfrontation die großen Städte als auch Industrie- und Kommunikationszentren derjenigen Länder, die Teile des US-amerikanischen Raketenschilds innerhalb ihrer Grenzen beherbergen, unweigerlich zu Primärzielen russischer Nuklearschläge werden.«
 
Moskau hat nicht nur umfangreiche Investitionen in den Ausbau seines Nukleararsenals und seiner militärischen Schlagkraft getätigt, sondern auch eine allgemeine umfassende Modernisierung seiner Streitkräfte vorgenommen, um auf die NATO-Einkreisungsstrategie der USA zu reagieren. Erst kürzlich hat Rußland erfolgreich eine Proton-K/DM-2-Trägerrakete mit einem militärischen Satelliten der Kosmos-Baureihe vom Raumfahrtzentrum Baikonur in Kasachstan aus ins All geschickt. »Das Ziel dieser Operation ist eine Verstärkung der Satellitenüberwachung aus dem Orbit durch Hinzufügung weiterer militärischer Satelliten, um das Frühwarn- und Verteidigungssystem auf den neuesten Stand zu bringen«, sagte Oberst Alexej Kusnezow. Berichten zufolge unterhält Rußland ein strategisches Netzwerk von etwa 60 bis 70 Aufklärungssatelliten. Dies ist die Realität hinter dem Beschluß, Medwedew und Putin als doppelte Führungsspitze des Landes einzusetzen: Es geht darum, Rußland mit Augenmaß, aber auch mit Erfahrung und Weitblick durch die kommende heiße Phase der Konfrontation mit der NATO und der USA hindurchzuführen, denn nie war die Gefahr eines Atomkriegs auf Grund einer strategischen Fehleinschätzung so groß wie heute. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Sollten Sie diesen Ausführungen skeptisch gegenüberstehen, dann nehmen Sie sich bitte die Zeit, das Buch Apokalypse jetzt! vollständig durchzulesen.
 
Quelle: http://info.kopp-verlag.de/news/washingtons-neuer-kalter-krieg-und-Rußlands-antwort.html 3. 7. 08
F. William Engdahl »Apokalypse jetzt! Washingtons Geheime Geopolitik« Kopp Verlag 2007