Der Ständerat und die Personenfreizügigkeit - Da wird Demokratie zerstört

Wer vor zweieinhalb Jahren, im Abstimmungskampf über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Osteuropa die Behauptung aufstellte, ein Ja beinhalte auch die Personenfreizügigkeit mit Rumänien, Bulgarien und der Türkei, wurde aufs schärfste zurechtgewiesen. Wer Einzelabkommen mit neuen EU-Mitgliedern mit dem gesamten Konzept «Personenfreizügigkeit» vermische, sei ein übler Demagoge, ein Populist, ein politischer Lügner. So tönte es damals.

Das Ständerats-Paket
Doch genau diese Verbindung des Prinzips der Personenfreizügigkeit einerseits, Abkommen mit einzelnen Ländern andererseits, will der Ständerat jetzt erzwingen: Das ist nichts anderes als demokratiefeindliche Abstimmungsmanipulation. Worum geht es? 2009 kann, so wie es dem Stimmvolk anlässlich der Bilateralen I versprochen wurde, per Referendum eine Abstimmung für Weiterführung oder Abbruch der Personenfreizügigkeit verlangt werden. Im gleichen Jahr 2009 kann auch das Abkommen, das die Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien ausdehnen will, per Referendum der Volksabstimmung unterstellt werden.
Der Ständerat hat - ein Nein zu Rumänien/Bulgarien befürchtend - die beiden Vorlagen nunmehr zu einer einzigen zusammengezurrt - auf dass dem Schweizer Stimmbürger der Einzelentscheid zu Rumänien/Bulgarien verunmöglicht werde. Fadenscheinige, durch nichts bewiesene Begründung für diese Verschnürungs-Manipulation: Die Ablehnung der beiden Vorlagen hätte den Totalausstieg der EU aus allen bilateralen Verträgen zur Folge. Damit wird die Abstimmungsmanipulation mit nichts anderem als einer Polit-Erpressung begründet - bedenkliche Desavouierung der direkten Demokratie.
 
Chronologie
Im ersten Paket der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union vereinbarte die Schweiz Personenfreizügigkeit mit den «alten», den westeuropäischen Mitgliedern der EU. Schon damals wurde klar, dass die Personenfreizügigkeit im Rahmen der Bilateralen einen Sonderstatus geniesst: Während Brüssel in allen anderen Bereichen der Bilateralen volle Hoheit und damit Handlungsfreiheit im Namen aller EU-Länder besitzt, ist zur Personenfreizügigkeit immer auch das Ja aller EU-Einzelstaaten im Rahmen eines Ratifizierungsbeschlusses notwendig. Personenfreizügigkeit ist auch innerhalb der EU noch Angelegenheit der Mitgliedländer, nicht von Brüssel allein. Damit können auch innerhalb der EU für neu der EU beitretende Mitglieder Freizügigkeits-Sonderbestimmungen vereinbart werden. Solche gelten gegenüber Rumänien und Bulgarien z. B. von Seiten Deutschlands und Österreichs, die ihre Arbeitsmärkte vor einwandernden Rumänen und Bulgaren damit stärker schützen als vor Einwanderern aus andern EU-Ländern. Solche Sonderregelungen werden in Einzelverträgen festgehalten, was selbstverständlich rechtfertigt, dass alle Verträge einzeln und gesondert ratifiziert werden. Nicht nur in der Schweiz - auch in der EU. Das zweite bilaterale Paket zwischen der Schweiz und der EU erfasste bereits auch die nach der Osterweiterung der EU neu beigetretenen Mitgliedländer aus Osteuropa. Auch für dieses Paket wurde die Personenfreizügigkeit besonders ausgehandelt, weil Brüssel die Hoheit über Personenfreizügigkeits-Bestimmungen weiterhin nicht besitzt. Dazu waren Ratifizierungsbeschlüsse aller EU-Mitgliedländer nötig.
 
Versprechungen
Zum Zeitpunkt der Abstimmung über die Bilateralen II führte die EU bereits Verhandlungen und Vorverhandlungen mit weiteren Beitrittskandidaten. Verhandlungen mit Rumänien/ Bulgarien, Vorverhandlungen mit der Türkei. Im Bundesbüchlein für die Volksabstimmung vom 25. September 2005 (Erweiterung der Personenfreizügigkeit aus Osteuropa) machte der Bundesrat dazu eine klare Aussage: Er erinnerte einerseits daran, dass das gesamte Prinzip der Personenfreizügigkeit im Jahre 2009 mittels Referendum den Stimmberechtigten noch einmal vorgelegt werden könne. Und sagte dann wörtlich: «Auch eine Ausdehnung der Freizügigkeit auf künftige neue EU-Staaten (gemeint: Rumänien und Bulgarien, allenfalls auch Türkei - Anm. der Red.) muss vom Parlament genehmigt werden und untersteht dem fakultativen Referendum.» Von einer Zusammenlegung beider referendumsfähigen Beschlüsse in eine einzige Abstimmungs-Vorlage fand sich im Bundesbüchlein kein Wort.  
 
Im Januar 2007 liess der Bundesrat durch das Integrationsbüro den «Fahrplan Osteuropa» bezüglich der Personenfreizügigkeit präzisieren. Mit Ausnahme der Personenfreizügigkeit, sagte er, würden alle von der Schweiz bisher eingegangenen bilateralen Verträge automatisch auf Bulgarien/Rumänien ausgedehnt. Zur Personenfreizügigkeit sagte das Integrationsbüro wörtlich: «Einzig beim Abkommen über die Personenfreizügigkeit sind neue Verhandlungen nötig. Die Schweiz will mit der EU Übergangsregelungen für eine schrittweise und kontrollierte Ausdehnung der Freizügigkeit auf die beiden neuen Beitrittsländer festlegen. Gegenstand der Verhandlungen werden insbesondere die Übergangsfristen für arbeitsmarktliche Beschränkungen sein, zu welchen die bevorzugte Einstellung von Inländern (Inländervorrang), die vorgängige Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie die Höhe der Kontingente von Aufenthaltsbewilligungen gehören. Wie bei den zehn Staaten, die der EU 2004 beigetreten sind, wird dieses Übergangsregime in einem Protokoll zum bestehenden Vertrag festgelegt. Der Bundesbeschluss zu diesem Protokoll wird dem fakultativen Referendum unterstellt.» Auch nicht der Hauch einer Andeutung kann aus dieser für die Öffentlichkeit abgegebenen bundesrätlichen Erklärung abgeleitet werden, wonach die Personenfreizügigkeit mit Rumänien und Bulgarien mit der ungefähr zum gleichen Zeitpunkt abstimmungsreifen Verlängerung des Prinzips der Personenfreizügigkeit mit allen bisherigen EU-Mitgliedern zu einem Gesamtpaket geschnürt werden könnte. Die Öffentlichkeit konnte immer von zwei Abstimmungen ausgehen.
 
Auch die Türkei wäre eingeschlossen
Eine klare Trennung der beiden Vorlagen hat der Bundesrat bereits auch in einem Papier vorgenommen, welches das Integrationsbüro im bundesrätlichen Auftrag im Juli 2003 veröffentlicht hat. Nebst dem Bundesrat haben aber auch engagierte Personenfreizügigkeits-Befürworter gleich kommuniziert. Für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer verbreitete z. B. Travail.Suisse ein Argumentarium für die Personenfreizügigkeits-Abstimmung vom 25. September 2005. Unter dem Titel «Die Antworten auf die falschen Argumente der Gegner» brandmarkt Travail.Suisse als unredliches Gegenargument, dass «ein Ja zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Osteuropa bedeutet, dass die Schweiz nicht Nein sagen kann, wenn Rumänien, Bulgarien und vielleicht die Türkei Mitglieder der EU werden.» Wörtlich stellt Travail.Suisse dieses angeblich falsche Argument der Gegner wie folgt richtig: «Es gibt keine automatische Ausweitung und das Volk wird immer die Möglichkeit haben, im Rahmen einer Volksabstimmung zu entscheiden (Referendum).»
 
Interessant: Es sind die Gewerkschafter von Travail.Suisse, die bezüglich Ausweitung der Personenfreizügigkeit ausdrücklich auch die Türkei ins Spiel bringen. Wenn jetzt also der Ständerat in taktisch-manipulatorischer Absicht den Schweizer Stimmbürger in den Schwitzkasten nimmt, indem er ihm ein als gefährdet eingestuftes Ja zur Personenfreizügigkeit mit Rumänien und Bulgarien dadurch abzunötigen sucht, dass er die Rumänien/Bulgarien-Vorlage unauflösbar mit der Fortführung der Personenfreizügigkeit gegenüber allen EU-Ländern verknüpft, dann würde diese Verknüpfung zwangsläufig auch die Türkei mit beinhalten. Eine brisante Entdeckung, welche sich der Bürger merken sollte.
 
Bundesrat: Fein raus?
Der Bundesrat redet sich derweil heraus, die Idee der unfairen Abstimmung im Doppelpack zwecks Nötigung der Stimmbürger zu einem Ja zu Bulgarien und Rumänien sei im Ständerat aufgekommen, nicht bei ihm. Das stimmt freilich nur zum Teil. Denn der Bundesrat selbst hat, als er das Verhandlungsmandat gegenüber Rumänien und Bulgarien den aussenpolitischen Kommissionen zur Konsultation unterbreitete, bereits mit dieser Doppelpack-Idee zu liebäugeln begonnen. Er hat diese Idee - damals zweifellos unter nachhaltigem Druck von Christoph Blocher - seinerzeit zwar nicht weiterverfolgt. Aber unschuldig ist er nicht an der Tatsache, dass sie der Ständerat als «Zuchtinstrument» gegen die Stimmbürger heute wieder aufgreift.
 
Einheit der Materie
In der Schweiz gilt das Prinzip der «Einheit der Materie» für jede Abstimmungsvorlage. Es müsste garantieren, dass die Bürger jede Sachfrage gesondert, einzeln, ihrem eigenen genauen Inhalt nach prüfen und dann an der Urne beurteilen können. Dieses Prinzip durchbricht der Ständerat mit seiner Doppelpack-Idee - auf der erpresserisch-unbewiesenen Behauptung fussend - die EU würde gegenüber der Schweiz alles annullieren, wenn die Schweiz nicht beide Vorlagen (sowohl die Fortführung der Personenfreizügigkeit insgesamt als auch deren Erweiterung auf Rumänien und Bulgarien) vorbehaltlos schlucke. Ein schwaches, manipulatorisches Argument. Jene Mehrheit im Ständerat, die solche Manipulation des freien Volksentscheids durchgedrückt hat, beweist mit ihrem Vorgehen nur eines: Dass die hiesige Classe politique offensichtlich auch hier an der Demokratiefeindlichkeit, wie sie der EU längstens eigen ist, Gefallen findet.

Ulrich Schlüer, Chefredaktor der «Schweizerzeit»; 30. 4. 08
 
Empfohlene Veranstaltungen
Mittwoch, 7. Mai 2008: Biel
Waffenbesitz: Sicherheit oder Freiheit
Kongresshaus Biel, Podiumsgespräch 19.15 Uhr
mit (u.a.) NR Oskar Freysinger (SVP), NR Jo Lang (Grüne), NR Daniel Jositsch (SP), Chefredaktor Ulrich Schlüer (SVP) (OG Biel)
 
Dienstag, 13. Mai 2008: Windisch AG
Demokratische Einbürgerungen: Ja oder Nein
Restaurant Sonne, 19.30 Uhr
Podium: Roberto Rodriguez (SP-Parteisekretär) gegen Ulrich Schlüer (SVP Windisch)
 
Donnerstag, 22. Mai 2008: Lilienberg TG
Lilienberg-Tagung «Ja zur Neutralität»
Unternehmerforum Lilienberg, Ermatingen TG, 16.30 Uhr
Referent: Ulrich Schlüer, Co-Referenten: NR Jakob Büchler (CVP), NR Hans Widmer (SP)
(Lilienberg)