Wie die direkte Demokratie von oben ausgehebelt wird - von Patrick Freudiger, Stadtrat in Langenthal

Bundesrat Christoph Blocher hatte anlässlich des Bundesfeiertages 2007 die Defizite des Völkerrechtes kritisiert. Die Reaktion der Juristenkaste liess nicht lange auf sich warten. Völkerrechtsprofessor Walter Kälin dozierte, das Völkerrecht habe das Land vor Kriegen verschont und Minderheiten geschützt. Was Blocher vertrete, untergrabe aber diese Tradition. Staatsrechtsprofessor Markus Schefer verkündete: »Ein absolutes Selbstbestimmungsrecht kommt weder dem Volk in der Schweiz noch sonst irgendeinem politischen Organ zu. Es ist ein Mythos, der politisch gepflegt wird.« »Blochers Aussagen sind unhaltbar«, belehrte uns schliesslich Heinrich Koller, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Justiz. Das neuzeitliche Völkerrecht hat seinen Ursprung im Westfälischen Frieden von 1648, mit welchem der 30jährige Krieg ein Ende fand. Weitere solche Friedensschlüsse waren der Friede von Utrecht (1713) sowie die Wiener Kongressakte (1815). Nach dem ersten Weltkrieg gewann das Völkerrecht mit der Gründung des Völkerbunds an Bedeutung. Dieser Vorläufer der UNO hielt jedoch den Spannungen unter Europas Staaten nicht stand und konnte den Ausbruch des 2. Weltkriegs nicht verhindern. 1946 wurde er aufgelöst. An seine Stelle trat im selben Jahr die UNO. Seither nehmen die völkerrechtlichen Rechtssätze und Verträge massiv zu. Das Völkerrecht beschränkt sich nun nicht mehr auf zwischenstaatliche Fragen bei Wahrung der staatlichen Souveränität, sondern weist eine universalistische Komponente auf und findet so auf innerstaatliche Belange Anwendung. Zumindest westliche Länder haben auf praktisch jedem politischen Gebiet völkerrechtliche Verträge abgeschlossen. Das gilt auch für die Schweiz. In Europa steht das EU-Recht im Vordergrund, eine Art regionales Völkerrecht, sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), welche Menschenrechte auf europäischer Ebene normiert.

Diese, im Fall der EMRK und des UNO-Völkerrechts grösstenteils auch für die Schweiz verbindliche Fülle an Rechtsnormen steht in keinem Verhältnis zu den geradezu kümmerlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten des Volkes auf völkerrechtlicher Ebene. Ein Staatsvertragsreferendum ist zwar möglich, jedoch kann der Souverän nur noch zu bereits fertig ausgehandelten Verträgen JA oder NEIN sagen. Gestalterische Einflussmöglichkeiten gibt es keine. Bekanntermassen sind aber aussenpolitische Vorlagen gegen den Bundesrat extrem schwierig zu gewinnen. Zudem existiert das Staatsvertragsreferendum nur in eng abgesteckten Grenzen. Stumpf ist dieses Instrument schliesslich bei einer dynamischen Rechtsentwicklung wie z.B. beim ‚Schengener Acquis’. Hier muss die Schweiz künftiges fremdes Recht widerstandslos übernehmen, eine Referendumsmöglichkeit besteht nicht mehr. 

Geradezu ein Wesensmerkmal des Völkerrechtes ist seine unpräzise Sprache, die sich z.B. in folgenden Artikeln äussert: »Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller in diesem Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen« (Art. 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte); oder: »Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist« (Art. 17 EMRK). Richter und Rechtsgelehrte machen es sich nun zur Aufgabe, diese offenen Bestimmungen ‚extensiv’ auszulegen. Laufend werden neue Ansprüche und Rechte in Artikel hineininterpretiert, ohne dass dazu je eine demokratische Auseinandersetzung stattgefunden hätte. Dieser Prozess zeigt sich am besten am Beispiel der EMRK. Der Beitritt unterlag 1974 noch nicht einmal dem Staatsvertragsreferendum. Der Bundesrat begründete dies in der Botschaft unter anderem damit: »Die Frage, ob eine Abstimmung durchzuführen ist, stellt sich im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht, denn die Konvention garantiert in der Tat Rechte, die zum grössten Teil bereits durch die Bundesverfassung anerkannt und geschützt sind.« Heute aber dient die EMRK als Instrument, um ungeliebte Volksinitiativen fernab demokratischer Prozesse scheitern zu lassen. Mit der EMRK wird die Umsetzung der vom Volk gutgeheissenen Verwahrungsinitiative blockiert. Mit der EMRK soll die Minarettinitiative gebodigt werden. Die Einbürgerungsinitiative der SVP, welche die direktdemokratische Einbürgerungstradition nach dem bundesgerichtlichen Angriff verfassungsrechtlich normieren will, verstösst gemäss Bundesrat gegen die EMRK. SP-Nationalrat Andreas Gross forderte, dass das Parlament die Initiative für ungültig erklärt. Sogar die Ausschaffungsinitiative wird von linken Kreisen als nicht EMRK-konform erachtet. Die EMRK enthält gemäss den juristisch kreativen Auslegungsmagiern in den Amts- und Universitätsstuben heute also ein Recht auf Minarettbauten, einen zumindest indirekten Rechtsanspruch auf Einbürgerung und wird zum Schutzschild für nicht mehr therapierbare, extrem gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter, für ausländische Kriminelle und Sozialbetrüger. Die Missbrauchsanfälligkeit unbestimmter Verfassungsartikel ist leider auch in der Schweiz bekannt: Sie erlauben z.B. dem Bundesgericht, laufend neue Sachverhalte in die Artikel hineinzuinterpretieren. Bei der Abstimmung über die neue Bundesverfassung dachte kaum jemand daran, dass das Bundesgericht mit dem Diskriminierungsverbot einmal die direktdemokratische Einbürgerungstradition zusammenstutzt oder mit dem harmlos klingenden Artikel über die Besteuerungsgrundsätze plötzlich den kantonalen Steuerwettbewerb unterwandert. Immerhin ist aber das Bundesgericht in ein überblickbares politisches System mit - wenn auch zu wenig - ‚check and balances’ eingebettet. Unbestimmte Artikel werden meistens durch Gesetze des demokratisch gewählten Parlamentes konkretisiert. Richter können abgewählt werden, Gerichtsverhandlungen sind öffentlich und es gibt Parteien und Medien, welche die Gerichte wachsam kontrollieren. Zwar nur wenige, aber immerhin.

Die Entstehung völkerrechtlicher Normen jedoch vollzieht sich praktisch ausserhalb jeglicher demokratischer Mechanismen. Auf internationaler Ebene ist ein entscheidendes Merkmal jeder Demokratie ausgeschaltet: die Verantwortlichkeit. Da kein europäischer oder weltweiter ‚Demos’  (also ein Staatsvolk) existiert, braucht ein Politiker für seine Tätigkeiten auf internationaler Ebene auch niemandem Rechenschaft abzulegen. In der EU z.B. werden Gesetze vom Ministerrat beschlossen. Dieser besteht aus Politikern, welche auf nationaler Ebene in der Exekutive sitzen und auf dem Weg nach Brüssel kurzerhand zu Gesetzgebern mutieren. Hinter verschlossenen Türen, intransparent und der öffentlichen Kritik kaum zugänglich, läuft die Brüsseler Legiferierungsmaschinerie auf Hochtouren. Gewaltenteilung ist ein Fremdwort. Noch bürgerferner funktioniert die UNO. Die entscheidende Rolle spielt der Sicherheitsrat, wo 15 Staatsvertreter für 192 Nationen Politik machen. Demgegenüber ist die Generalversammlung ein Alibi-Debattierclub und praktisch ohne Kompetenzen. Aber nicht einmal hier sitzen demokratisch gewählte Vertreter.

Bei den Verträgen und Resolutionen der UNO kommt ein weiteres, entscheidendes Problem hinzu: Das urtümlichste und wesentlichste Definitionsmerkmal des Rechts ist seine Durchsetzungsmöglichkeit mittels Zwang. Die diskussionslose Durchsetzung von Normen, wozu aufgrund seines Gewaltmonopols nur der Staat berechtigt und verpflichtet ist, unterscheidet das Recht letztlich von Moral und Sitte. Genau hier liegt aber das Problem des weltweiten Völkerrechtes: Es existiert weder ein weltweites Gewaltmonopol, noch kann im Einzelfall die Durchsetzung des Völkerrechtes mit Zwang garantiert werden. Der internationale Gerichtshof (IGH) nämlich wird nur gerade dann tätig, wenn es um zwischenstaatliche Konflikte geht (und nicht bei innerstaatlichen) und beide Streitparteien die Hoheit des Gerichtshofes anerkannt haben. So unterzeichnen etwa Staaten wie der Iran, Nordkorea oder China die UNO-Charta und den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, wo von lauter Menschenrechten die Rede ist. Die hehren Worte der UNO-Dokumente werden indessen durch die politische Realität in diesen Staaten geradezu verhöhnt - ohne Konsequenzen. Dass hin und wieder völkerrechtliche Standards der UNO trotzdem durchgesetzt werden, ist dem Goodwill bzw. dem Eigeninteresse von Staaten zu verdanken. Staaten wie der Schweiz einerseits, welche das Völkerrecht buchstabengetreu umsetzen. Staaten wie den USA andererseits, welche bereit sind, dem UNO-Recht wie im Golfkrieg 1990/1991 Wirksamkeit zu verleihen.

Intellektuelle zeichneten sich noch nie dadurch aus, dass sie Macht und Autorität widerstehen konnten. Die Aussicht, dank seiner höheren Bildung über andere Menschen herrschen zu können, ist zu verlockend. Sowohl der braune als auch der rote Sozialismus hatten eine fast magnetische Anziehungskraft auf zahlreiche Intellektuelle. Auch die 68er, welche heute an den Schalthebeln der Macht in der Politik, den Medien oder der Kultur sitzen, können dem Charme der Macht nicht widerstehen. Das Völkerrecht eignet sich dabei hervorragend als Instrument, um Politik im kleinen Kreis von Auserwählten fernab lästiger Volksrechte zu betreiben. Die traurige Geschichte der Machtverliebtheit von Intellektuellen ist um ein Kapitel länger geworden.