Um Gaza ist es still geworden - Von John Pilger

Ein Genozid schwappt gerade über die Menschen im Gazastreifen, während die, die dies aus der Nähe und Ferne beobachten, sich in Schweigen hüllen. Etwa 1,4 Millionen Menschen, meistens Kinder, leben zusammengepfercht in einem der am dichtesten bewohnten Region der Erde, ohne Bewegungsfreiheit, ohne Spielplatz und ohne einen Ort, um sich zu verbergen und Schutz zu finden, schrieben der ranghohe UNO-Hilfsvertreter Jan Egeland und Jan Eliasson, der damalige schwedische Außenminister, in Le Figaro. Sie beschrieben die Menschen, die wie in einem Käfig leben, die weder vom Land noch vom Meer oder aus der Luft zu erreichen sind oder nach draußen können. Ohne regelmäßigen Strom und mit nur wenig Wasser, von Hunger, Krankheiten und ständigen Angriffen durch israelisches Militär und Flugzeuge gequält. Egeland und Eliasson schrieben dies vor vier Monaten. Es war ein Versuch, das Schweigen in Europa zu brechen, dessen gehorsame Allianz mit den USA und Israel sich darum bemühte, die demokratischen Ergebnisse, mit denen Hamas bei den letzten palästinensischen Wahlen zur Macht kam, rückgängig zu machen. Der Terror hat sich seitdem verschlimmert; eine Familie von 18 Personen ist durch eine US-israelische ½ t-Bombe umgebracht worden; unbewaffnete Frauen wurden aus kürzester Entfernung niedergemäht. Dr. David Halpin, einer der wenigen Briten, spricht von einer "mittelalterlichen Belagerung" und berichtet vom Mord an 57 Kindern durch Artillerie, Raketen und kleineren Waffen, ein Beleg dafür, daß die Zivilisten die eigentlichen Ziele Israels sind - genau wie im Libanon im vergangenen Sommer. Dr. Mona El-Farra mailte: »Ich sehe bei meiner 13 jährigen Tochter die Auswirkungen der schonungslos ohrenbetäubenden Knallbomben - eine Kollektivstrafe von Seiten der israelischen Luftwaffe - und der Artillerie. Nachts zittert sie vor Angst. Schließlich kauern wir zusammen im Flur. Ich versuche, ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Doch wenn ich die Bomben fallen höre, dann erschrecke ich zu Tode und schreie «

Als ich das letzte Mal in Gaza war, zeigte mir Dr. Khalid Dahlan, ein Psychiater, die Ergebnisse einer bemerkenswerten Untersuchung: »Die Statistik - die ich persönlich unerträglich finde - besagt, daß 99,4% der Kinder, die wir untersucht haben, an Traumata leiden. Sie waren folgendem ausgesetzt: Das Haus wurde bombardiert (99,2%), Tränengasangriffen (97%), Schießereien (96,6), Bombardements und Begräbnissen; fast ein Viertel sah, wie Familienmitglieder verletzt oder getötet wurden. »Dr. Dahlan lud mich ein, an einer der Sitzungen mit Kindern in der Klinik teilzunehmen. Es waren 30 Kinder und alle waren traumatisiert. Er gab jedem einen Stift und Papier und bat sie darum, etwas zu malen. Sie malten Bilder mit grotesken Akten von Terror, ebenso Frauen, die in Tränen aufgelöst waren.« Der Vorwand für den letzten israelischen Terrorangriff war die Gefangennahme eines israelischen Soldaten, eines Mitgliedes einer illegalen Besatzung, durch den palästinensischen Widerstand. Das war (den Medien) eine Nachricht wert. Das Kidnappen ein paar Tage davor von zwei Palästinensern durch Israel - zwei von Tausenden in den letzten Jahren - das war keine Nachricht wert. Ein Historiker und zwei auswärtige Journalisten berichteten die Wahrheit über den Gazastreifen. Alle drei sind Israelis. Sie werden Verräter genannt. Der Historiker Ilan Pappe dokumentierte, dass die genozidale Politik nicht aus einem Vakuum käme, sondern ein Teil der zionistischen, beabsichtigten, historischen ethnischen Säuberung ist. Gideon Levy und Amira Hass sind Reporter der israelischen Zeitung Haaretz. Im November beschrieb Levy, wie die Leute vor Hunger zu sterben beginnen: »Es gibt Tausende von Verwundeten, Verkrüppelten und von Raketen unter Schock stehende Menschen, die keine medizinische Behandlung bekommen können …. menschliche Schatten streunen durch die Ruinen … sie wissen nur, dass die israelische Armee zurückkommen wird und was das für sie bedeutet: wochenlanges Eingesperrtsein in ihren Häusern, mehr Tod und mehr Zerstörung in unvorstellbaren Proportionen.«
 
Amira Hass, die in Gaza gelebt hat, beschreibt dieses als Gefängnis, das ihrem eigenen Volk zur Schande gereicht. Sie erinnert sich daran, wie ihre Mutter Hannah im Sommer 1944 von einem Viehtransportzug zum Nazi-KZ in Bergen-Belsen laufen mußte. Diese sah, wie deutsche Frauen sich den Zug der Gefangenen anschauten, also nur ‚zuschauten’, schrieb sie. Dieses Bild hat sich mir sehr eingeprägt, dieses verächtliche Danebenstehen und ‚Nur Zusehen’. Dieses Danebenstehen und Nurzuschauen ist das, was all die von uns tun, die schweigen, weil man sie sonst als Antisemiten bezeichnen würde. Dieses Danebenstehen und Zusehen ist das, was zu viele westliche Juden tun. Während jene Juden, die die humanistischen Traditionen des Judentums achten und sagen ‚Nicht in meinem Namen!’ werden als Selbsthasser beschimpft. Daneben stehen und nur zusehen, das ist das, was fast der ganze US-Kongress als Hörige oder Eingeschüchterte der zionistischen Lobby tut. Daneben stehen und nur zusehen, ist das, was ‚objektive’ Journalisten tun, wenn sie die Gesetzlosigkeit entschuldigen, die die Ursache israelischer Brutalität ist und die historischen Veränderungen im palästinensischen Widerstand unterdrücken, wie die stillschweigende Anerkennung Israels durch die Hamas.
 
politonline: Ob Seuchen, die infolge der unablässig angeheizten Kriegsherde ausbrechen,  massenhaftes Erschiessen mutmasslicher Terroristen in Afghanistan und im Irak - deren Mehrheit sich lediglich gegen die Beschlagnahmung ihres Landes wehrt - oder das Auslöschen palästinensischen Lebens, es ist nicht damit zu rechnen, dass die verantwortlichen Politiker der hierdurch ausgelösten Vernichtung entgegentreten werden. Vermutlich wird nichts das Abschlachten all jener, die nicht gewillt sind, sich der US-Hegemonialmacht zu unterwerfen, aufhalten. Da uns unsere Scheindemokratie verwehrt, die diese Politik betreibenden Kräfte zu entfernen, zwingen uns letztere, immer tiefer zu sinken, denn sie lassen den Gedanken, dass man dieses Vorgehen nur noch als entfesselten Wahnsinn betrachten kann, nicht an sich heran.
 
Wie Interinfo Linz im Januar 2007 mitteilte, tötete Israel 2005 dreimal so viele Palästinenser als im Jahr zuvor, was aus Erhebungen der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem hervorgeht. Mindestens 322 dieser Personen hätten nicht an Feindseligkeiten teilgenommen. Dagegen sei die Zahl der israelischen Opfer im Jahr 2005 mit 23 so niedrig wie noch nie gewesen. Davon waren 17 Zivilisten und sechs Mitglieder von Sicherheitskräften. Ein Armeesprecher bedauerte lediglich die zivilen Opfer. Was das Jahr 2004 betrifft, so vermerkte Interinfo bereits im Mai desselben Jahres, dass allein in den zurückliegenden 18 Monaten etwa 2 700 Palästinenser von den Israelis getötet wurden - potentielle Terroristen, unbeteiligte Passanten, Frauen und Kinder. Jüdische Gruppierungen, die mit den Palästinensern friedlich zusammenleben wollen und dies jahrelang getan haben, werden von den israelischen Behörden fast genauso verfolgt und schikaniert, wie die Palästinenser selbst. Jedem israelischen Ministerpräsidenten sind die Machtverhältnisse im Weissen Haus und der Einfluss der Israellobby genauestens bekannt. Deshalb braucht er sich auch an keine UNO-Resolution zu halten, kann Verdächtige liquidieren, Palästinenser vertreiben - entgegen jeglicher internationaler Rechte einen »Schutzwall« um die verbliebenen Palästinensergebiete errichten, kann jede Kontrolle seiner Atomwaffen und der Atomprogramme ablehnen, Menschenrechte ohne Sanktionen verletzten, usw. Die Staatengemeinschaft ignoriert diese Massnahmen, die Morde, den Terror und die Provokationen. Als Belgien vor einigen Jahren versuchte, per Gesetz die Strafverfolgung auch von amerikanischen und israelischen Bürgern zu ermöglichen (Sharon wurde daraufhin wegen Kriegsverbrechen angeklagt, der Hauptzeuge unmittelbar nach der Klageerhebung vom Mossad liquidiert), genügte eine Rüge aus Washington und das Gesetz wurde zurückgezogen.
 
So erfolgte am 6. 12. 06 eine Weisung des israelischen Innenministeriums, mehr als 42.000 Wohnstätten palästinensischer Beduinen in der Negevwüste, von denen behauptet wurde, dass sie illegal wären, zu zerstören. Gleichzeitig erfolgte die Warnung, dass dort alle neuen Häuser, die in den Dörfern, die von den Israelis als ‚nicht anerkannt’ bezeichnet werden, erstellt würden, dem Erdboden gleichgemacht würden. Der regionale Rat dieser von Israel ‚nicht anerkannten’ Beduinendörfer verurteilte das Vorgehen: Dieses bedeute die Vernichtung der gesamten Gemeinde, wobei er ausführt, dass einige der Häuser, die zerstört werden sollen, vor der Errichtung des Staates Israel 1948 gebaut worden waren. Das alles vollzieht sich unter den Augen der UNO und des neu konstituierten Menschenrechtsrates. Sich dagegen erhebende Stimmen kommen in den Medien nur begrenzt zum Zug. Das Knesset-Mitglied Talab El-Sana erklärte, dass die Zerstörungen eine »Kriegserklärung des Staates Israel an seine Beduinen-Bürger sei« und verurteilte diese als »ein Verbrechen, das nicht besser wäre als diejenigen, die vom israelischen Militär in Beit Hanoun (im nördlichen Gaza gelegen) begangen wurden.« Dort hatten die israelischen Streitkräfte Anfang November 2006 eine 6 Tage dauernde, unter dem Namen »Herbstwolken« laufende tödliche Offensive durchgeführt. Man kann sich ungefähr die Einstellung des Heeres vorstellen, führt man sich die von diesem benutzten Bezeichnungen vor Auge. So war der unter »Herbstwolken« in Beit Hanoun durchgeführte Angriff Teil des unter »Sommerregen« laufenden Kriegs gegen die Palästinenser. Die Folgen dieser Wolken sind die üblichen: 56 getötete Palästinenser und ein israelischer Soldat. Bereits wenige Stunden nach dem Ende der Teiloffensive töteten israelische Soldaten in nahegelegenen Ortschaften mindestens sechs weitere Palästinenser. Es hat nicht den Anschein, als fiele es auf, dass wir fast nur noch von Tötungen lesen. Wie der Jungen Welt vom 8.11.06 zu entnehmen war, folgte ausführliches Eigenlob: Die Armee habe Dutzende Palästinenser bei Feuergefechten und Luftangriffen getötet. Neun »Kommandos« seien angegriffen worden, als sie versucht hätten, Raketen auf Israel zu feuern. Dutzende von Verdächtigen seien festgenommen worden. Die Armee habe grosse Mengen an Waffen beschlagnahmt, darunter Raketenwerfer, Panzerabwehrraketen und Granaten. Offiziell richtete sich die Militäroffensive gegen den wiederholten Abschuss von Kassamraketen von Beit Hanun aus. Die »Herbstwolken«-Bilanz vor Ort: In der 30’000-Einwohnerstadt hinterliessen die Invasionstruppen eine Spur der Verwüstung. In der Altstadt sind die Asphaltdecken von Panzern aufgebrochen, Kanalisation sowie Telefon- und Stromleitungen sind zerstört. Das Abwasser steht in den Strassen, aller Orten sieht man ausgebrannte Autowracks. Von einer Moschee ist nur noch das Minarett übrig, selbst der Friedhof ist beschädigt. Laut AP ist jedes Haus vom Krieg gezeichnet. Die Anwohner irrten am 7.11.06 zwischen den Trümmern umher, um einige Habseligkeiten zu retten. »Dies ist ein Terrorakt«, zitierte die US-Agentur den 45jährigen Bewohner Chalil Jasgi, dessen dreistöckiges Familienhaus zerstört wurde. Dennoch: keine voreilige Aufregung. Der Steuerzahler wird auch diese Schäden in seiner für ihn massgeschneiderten Funktion als Internationale Gemeinschaft ohne Murren, ohne Einwände und, seien wir ehrlich, unter Zwang beheben müssen. Ganz anders liest sich allerdings eine Mitteilung der israelischen Tageszeitung Haaretz, der zufolge jüdische Siedler in den vergangenen 6 Monaten ohne offizielle Genehmigung (aber, wie die Redaktion von Interinfo Linz anmerkt, mit wohlwollender Duldung) 200 Wohneinheiten im Westjordanland errichteten. Dies gehe aus Unterlagen der israelischen Armee hervor, die den (wie wir meinen, sicherlich höchst unwillkommenen) Zeitungsbericht jedoch sofort dementierte. »Wenn ich vorher gegen die Raketen war, werde ich die Leute nun ermutigen, von jedem Ort aus Raketen abzuschiessen«, sagte Jasgi.
 
Wie wir alle wissen, wird Israels Krieg gegen die Palästinenser von Washington ausdrücklich gebilligt. Im Umgang mit der islamischen Hamas zeichnete sich derweil eine leichte Kurskorrektur ab. Auf einem politischen Forum in Washington sagte US-Aussenministerin Condoleezza Rice, eine Hamas in der Regierung sei immer noch besser als eine Hamas, die ausserhalb der politischen Strukturen agiere und Terroranschläge ausführe. Selbstredend kommt auch hier die Staatengemeinschaft ins Spiel, die aufgefordert wird,  mehr zu tun, um militante Gruppen im Nahen Osten vom Terror abzubringen und in den politischen Prozess einzubinden, ungeachtet der Tatsache, dass die US-Regierung bislang den totalen Hamas-Boykott propagiert hatte und dass unseren ‚Marionettenpolitikern’ diesbezüglich praktisch vollständig die Hände gebunden sind.
 
Dieses Jahrhundert, das auf allen Ebenen so vollmundig als eines des Friedens angekündigt worden war, hat sich bereits als ein Jahrhundert tödlicher Greuel entpuppt.
 
Quelle: http://www.antiwar.com/ 18. 1. 07
Der Buchautor John Pilger ist ein bekannter Reporter britischer, US- und australischer Zeitungen, Buchautor, Kritiker der US-Politik, der zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten hat. Von ihm haben wir das Buch ‚Verdeckte Ziele’ vorgestellt.
http://www.jungewelt.de/2006/11-08/053.php
Wir empfehlen unseren Leser auch einen Blick auf die homepage von Thomas Immanuel Steinberg: http://www.steinbergrecherche.com/