«Viele Juden schämen sich Israels» - Britischer Politologe und Friedensaktivist wirft Israel Verbrechen vor

Der anglikanische Friedensaktivist Paul Oesterreicher ist der Ansicht, dass es den Deutschen aus «sehr verständlichen Gründen» schwerfällt, Israels Politik zu kritisieren. Man habe Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus. Der Antisemitismus heute werde jedoch «durch die Politik Israels gezeugt ».

Deutschlandfunk: Israel will nach den Worten von Verteidigungsminister Perez die umstrittenen Flüge über Libanon vorerst fortsetzen. Der Waffenschmuggel von Syrien an die Hizbollah sei noch nicht gestoppt, erklärte Perez zur Begründung. Zuvor hatte der Kommandeur der UN-Truppen in Libanon, der französische General Alain Pellegrini, gesagt, er wolle die andauernden Verletzungen des libanesischen Luftraumes durch israelische Kampfflugzeuge notfalls auch mit militärischen Mitteln stoppen. Israel gegen Hizbollah? Der asymmetrische Sommerkrieg hat die Region nicht stabilisiert und auch den Grundkonflikt zwischen dem jüdischen Staat und den Palästinensern einer Lösung nicht eben nähergebracht. Das einzige Neue ist der erste Einsatz der Bundeswehr in der Region, den die Bundeskanzlerin damit begründete, die Sicherheit Israels schützen zu wollen.
 
 «Wir haben die Palästinenser vergessen, haben Israels Urteil über sie angenommen, das oft das Urteil von Verachtung ist.»
Dieser Satz stammt aus einem Buch von Rupert Neudeck, dem Gründer der Hilfsorganisation «Cap Anamur» und «Grünhelme». Nicht nur Rupert Neudeck sagt, er wolle nicht mehr schweigen. Zwei Gleichgesinnte, der französische Politikwissenschafter Prof. Alfred Grosser und der Brite Dr. Paul Oesterreicher, Leiter des Internationalen Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry, wollen dies auch nicht. Beide sind Söhne deutsch-jüdischer Ärzte. Beide hielten sich am Wochenende in Köln auf. Ich habe Paul Oesterreicher vor dieser Sendung gefragt, wozu er nicht mehr schweigen will. Paul Oesterreicher: Aus sehr verständlichen Gründen ist es wahnsinnig schwer, auf deutschem Boden angesichts dessen, was Auschwitz bedeutet, offen und kritisch die Verbrechen Israels wirklich ehrlich anzusprechen. Und dazu darf man nicht schweigen. In den 30er Jahren haben anständige Deutsche, die keine Judenhasser waren, sondern die Politik Hitlers gegenüber den Juden schlecht fanden, Angst, Philosemiten genannt zu werden, und sie schwiegen. Heute ist es so, dass die Deutschen Angst haben, Antisemiten genannt zu werden und deswegen fühlen sie sich als Deutsche dazu verpflichtet, zu den Verbrechen Israels zu schweigen. Ich muss sagen, die Deutschen hätten lernen müssen, dass man sich bei jedem Verbrechen gegen die Menschheit klar ausdrücken muss. Das ist eine menschliche Pflicht, und Juden sind Menschen. Meine jüdische Grossmutter, die im Holocaust umgekommen ist, das war für mich das Schlimmste meines Lebens. Ich stehe zur jüdischen Vergangenheit meiner Familie, aber ich stehe auch dazu, wenn das jüdische Volk heute Verbrechen auf dem Gewissen hat; das muss gesagt werden. Das sage ich aus Solidarität mit der kleinen Minderheit in Israel, die den Mut hat, das andere Israel zu vertreten, das gute Israel.
 
Welche Verbrechen meinen Sie?
Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, sagte, als die Zionisten arabische Dörfer zerstörten und die Hälfte der arabischen Bevölkerung verjagten: Wenn ich ein junger Palästinenser wäre, dann würde ich uns auch hassen. Das steht in seiner Autobiographie. Das ist die Geschichte, und es ist so weitergegangen, dass die Soldaten  heute im besetzten Palästina die Knochen der Kinder, die Steine werfen, brechen. Die Verbrechen gehen dann in Staatsverbrechen über, wie wir gesehen haben: die Bombardierung Libanons in einer Weise, die völlig unberechtigt ist, die in keinem Verhältnis zu dem steht, was die Hizbollah getan hat. Ich bin Politologe vom Fach. Da kann ich einfach sagen, das ist Bruch der Menschlichkeit, aber auch des internationalen Rechtes. Um Israels willen muss die Wahrheit ausgesprochen werden.
 
Wie reagiert die jüdische Gemeinde in Grossbritannien, in Ihrer Heimat, wenn Sie so etwas zuhause sagen?
In ihrer Mehrheit empört, in ihrer Minderheit begeistert. Mit anderen Worten, es besteht in Grossbritannien natürlich eine grosse Mehrheit der Juden, die sagen, wir müssen Israel unterstützen, Recht oder Unrecht, das ist unsere Pflicht, wir haben ein schlechtes Gewissen, dass wir nicht dort sind, das wenigste, was wir tun können, ist, solidarisch mit diesem Staat zu sein. Eine Minderheit hat eine Organisation geschaffen, die «Juden für Gerechtigkeit für Palästina» heisst. Das sind englische, britische Juden, die für Gerechtigkeit für das andere Volk sind. Das ist eigentlich die gute jüdische Tradition aus der Heiligen Schrift, wir müssen mit unseren Nachbarn in Frieden leben. Viele Juden schämen sich Israels, aber die meisten sind verständlicherweise darüber empört.
 
Sie haben es eben angesprochen. Wer in Deutschland Israels Politik verurteilt, der wird schnell zu hören bekommen, die Deutschen haben dazu auf Grund ihrer Vergangenheit nicht das Recht. Kritik an Israel ist immer gleich auch Kritik am Judentum. Wie sollte man damit umgehen,in diesem Fall?
Man muss das radikal in Frage stellen. Kritik an Israel hat mit Antisemitismus, mit Antijudaismus überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil! Meine Kritik an der Politik Israels ist ein Ausdruck meiner Solidarität mit der guten Minderheit der Israeli, die wirklich Patrioten sind. Die Piloten der israelischen Luftwaffe - und das wissen die meisten Leute gar nicht - die heute im Gefängnis sitzen, weil sie sich weigern, auf Gaza zu schiessen, weil sie sich weigern, im besetzten Gebiet Besetzer zu sein, das sind die echten Patrioten, genau wie die Geschwister Scholl die echten Patrioten in Nazi-Deutschland waren.
 
Nun wird aber, Herr Dr. Oesterreicher, keiner von den Israeli verlangen können, die andere Wange hinzuhalten, wenn sie von selbstmörderischen Terroristen oder von Leuten wie dem iranischen Staatspräsidenten bedroht werden?
Dann muss die Frage gestellt werden, warum die selbstmörderischen Terroristen das tun. Warum sind sie in diesen Fanatismus getrieben worden? Und das ist die Politik Israels, die sie zu diesem verzweifelten Fanatismus getrieben hat. Das verteidige ich nicht, in keiner Weise. Es ist falsch, es ist unmoralisch. Aber warum? Weil die Politik Israels so ist, wie sie ist. Wenn es kein besetztes Gebiet gäbe, dann gäbe es auch keine Selbstmörder. Dann wäre die abscheuliche Politik des Irans gegenstandslos. Dann würde die Welt und sogar die restliche arabische Welt nicht so reden. Aber der Antisemitismus heute wird durch die Politik Israels gezeugt.
 
Aber die Attentäter vom 11. September kamen aus Hamburg. Die Attentäter aus London kamen aus Grossbritannien, die mit israelischer Besetzungspolitik überhaupt nichts zu tun hatten?
Ja, aber da die Vereinigten Staaten besonders bedingungslos Israel unterstützen, ist natürlich Amerika das erste Ziel der arabischen Wut.
 
Herr Oesterreicher, haben Sie nicht die Sorge, wenn Sie von israelischen oder jüdischen Verbrechen sprechen, aus der falschen Ecke Beifall zu bekommen?
Dieses Risiko muss man im Leben immer hinnehmen. Ich bekomme tatsächlich Beifall von Menschen, die ich in keiner Weise achten kann. Das ist peinlich, aber solche Peinlichkeiten muss man auf sich nehmen. Im Kampf der Kulturen übernehmen Moslems und der Islam inzwischen häufig die Feindbildrolle. Der rechtspopulistische belgische Vlaams Belang zum Beispiel betreibt eine projüdische und für Israel ausgerichtete Politik, ist aber gegen den Islam und gegen den Bau von Moscheen gerichtet. Sind nach den Juden jetzt die Moslems dran?
Tragischerweise ist das in unserer westlichen Welt zum grossem Teil wahr. Die heutigen Juden sind die Moslems geworden. Die bedingungslose Unterstützung Israels kommt jetzt aus rechtsextremen Gruppen, tragischerweise auch aus fundamentalistisch christlichen Gruppen in den USA; es ist für mich als Pfarrer eine grosse Peinlichkeit, dass es heute Christen gibt, die jedes jüdische Verbrechen sogar begrüssen. Ich muss als Christ sagen, ich schäme mich meiner Mitchristen in Amerika, aber natürlich muss ich als Christ jüdischer Herkunft sagen, ich schäme mich der Christenheit überhaupt durch 2000 Jahre.
 
Wenn die Juden Israels nicht die Angst in den Knochen hätten, die ich so wohl verstehe, da ich die eigene Familie im Holocaust verloren habe. Menschen, die verängstigt sind, die traumatisiert sind, reagieren dann nicht rationell im eigenen Interesse. Das eigene Interesse Israels ist eine neue Politik, die darauf ausgerichet ist, einen Ausgleich mit der arabischen Welt zu finden. Das ist die einzige langfristige Sicherheit, nicht militärisch, sondern politisch. Wenn das Volk Israels nicht zu einer neuen Politik gegenüber Palästina und dem palästinensischen Volk fähig ist, um eine wirklich richtige Staatlichkeit zu ermöglichen und nicht ein Bantustan, ein Land, das aufgeteilt ist, wo jüdische Siedlungen Rechte haben, die die eigene Bevölkerung gar nicht hat - ich meine, dann ist letzteres kein Staat mehr. Das ist ein Opfer, das Israel bringen muss, um selbst zu überleben.     
 
Quelle: Deutschlandfunk vom 23.10.2006
Erschienen in Zeit-Fragen Nr. 43 vom 24. 10. 2006 www.zeit-fragen.ch