Rolf Verleger, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig Holstein, distanziert sich in einem an das Präsidium gerichteten Schreiben

An das Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland Sehr verehrte Frau Präsidentin Knobloch, sehr geschätzter Herr Prof. Dr. Korn, sehr geschätzter Herr Dr. Graumann, Sie haben in den letzten Tagen öffentlich Partei für die militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung gegen den Libanon ergriffen. Dazu kann und will ich nicht schweigen. Es ist mir selbstverständlich klar, daß Sie damit die Mehrheitsmeinung der Juden in Deutschland ausdrücken. Jedoch ich hätte mir von Ihnen noch etwas mehr erwartet, denn Sie lieben Israel, Sie sind politisch erfahren, und Sie sind traditionsbewußte Juden.

1) Sie lieben Israel. Wie kann jemand, dem das Schicksal des Landes Israel am Herzen liegt, diese Militäraktion gutheißen? Unsere dortigen Freunde und Verwandte werden in den nächsten Jahren mit mehr statt mit weniger Gefährdung leben müssen. Bei mir betrifft dies unter anderen meine beiden Geschwister, die als Jugendliche aus Deutschland ausgewandert sind, und ihre Kinder und Enkel. Diese Militäraktion macht Israel nicht sicherer, sondern unsicherer. Der Zorn und die Wut und die Gewalt der Nachbarstaaten werden vervielfacht, der Konflikt wird ausgeweitet anstatt eingedämmt.
 
2) Sie sind politisch erfahren. Daher wissen Sie so gut wie jeder andere, daß der Anlaß für den Hisbollah-Terror gegen Israel der ungelöste Palästina-Konflikt ist und daß auch jetzt die  Hisbollah die zwei israelischen Soldaten offensichtlich darum entführt hat, damit sie sich als Verteidigerin der von Israel bedrängten Bewohner von Gaza in Szene setzen konnte. Jeder weiß, daß Syrien und Iran und Russland mit dem Palästinakonflikt ihr trübes Süppchen kochen - selbstverständlich aber auch die USA, die nach dem Irak-Debakel nun die israelische Armee als ihren verlängerten militärischen Arm benutzt.
 
Jeder weiß daher, daß die Alternative zum Dschungel dieser Interessen, und damit zum Krieg, darin besteht, daß die israelische und die palästinensische Regierung (und dem nachgeordnet auch die libanesische Regierung) miteinander verhandeln und Übereinkünfte treffen. Darauf sollten die Freunde Israels hinwirken, anstatt die gewählte palästinensische Regierung zu dämonisieren.
 
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat Erfahrung darin, mit einer Regierung zu verhandeln, die direkte Rechtsnachfolgerin einer Mörderbande ist. Der Erfolg gibt uns darin Recht.
 
3) Sie sind traditionsbewußte Juden. Daher wissen Sie so gut wie ich, daß es immer einen Konflikt zwischen jüdischer Religion und Nationalismus gegeben hat. Im Altertum war dies der scharfe Konflikt zwischen unseren Propheten und den Königen von Juda und Israel, und mit dem Aufkommen des Zionismus war es die Auseinandersetzung zwischen Zionisten und Aguda - eine Auseinandersetzung, in der beide Seiten gute Argumente hatten.
 
Heutzutage haben leider viele Juden diesen Maßstab verloren und denken, man sei ein um so besserer Jude, je entschiedener man für Israels Gewaltpolitik eintritt. Aber ein solches „Judentum“ - ist das noch das gleiche Judentum, dessen Wesen unser einflußreichster Lehrer Hillel so definierte: „Was Dir verhaßt ist, tu Deinem Nächsten nicht an“? Ist das noch das gleiche Judentum, als dessen wichtigstes Gebot unser Rabbi Akiba benannte: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“? Das glaubt mir doch heutzutage keiner mehr, daß dies das „eigentliche“ Judentum ist, in einer Zeit, in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert, für jeden getöteten Landsmann zehn Libanesen umbringen läßt und ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legt. Ich kann doch wohl vom Zentralrat der Juden in  Deutschland erwarten, daß dies wenigstens als Problem gesehen wird.
 
Selbstverständlich weiß ich, daß ich hier gegen jahrzehntelange festgefügte Meinungen  argumentiere. Aber ich bin nicht der erste, ich werde nicht der letzte sein, und zusammen mit besonnenen Menschen in Israel und außerhalb Israels können wir die Dinge zum Guten wenden. Die israelische Regierung braucht unsere Solidarität. Im Moment ist sie auf einem falschen Weg, daher braucht sie von solidarischen Freunden jetzt nicht mehr Waffen oder mehr Geld oder mehr public relations, sondern mehr Kritik.
 
Mit freundlichen und besorgten Grüßen
 
Prof. Dr. Rolf Verleger
Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland, 23. Juli 2006
cc: an die Mitglieder des Direktoriums