Politstrategen, Märchen und der Preis dafür von Karl Müller, Deutschland

In einem Interview mit der «Frankfurter Rundschau» vom 13. November hat der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Reinhard Bütikofer, zum Wahlausgang in den USA Stellung genommen. Er machte zwei sehr interessante Aussagen:

Erstens: «Die Linke ist gut beraten, genau zu studieren, wie in den USA mit populistischer kultureller Agitation die Hegemonie der Konservativen gestärkt wurde.»

Zweitens: «[...] die Amerikaner haben Bush wiedergewählt, und seine demokratische Legitimation ist diesmal grösser als vor vier Jahren. Darüber kann man nicht hinwegträumen.»

Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» veröffentlichte am 18. November im Feuilleton ein Essay des US-amerikanischen Schriftstellers Charles Simic. Dort ist zu lesen, dass die üblichen Wahlanalysen kaum erwähnen, «in welchem Ausmass schiere Lügen zur Wiederwahl des Präsidenten beitrugen». Weiter unten heisst es: «Um nur ein Beispiel zu nennen: Die meisten Bush-Wähler glauben nach wie vor, dass Saddam Hussein an den Anschlägen vom 11. September beteiligt war und dass der Rest der Welt den Irak-Krieg unterstützt. Menschen in einem freien Land von solchen Unwahrheiten zu überzeugen, ist wirklich eine beispiellose Leistung. In der Sowjetunion wurde die Realität bekanntlich mit Hilfe von Geheimpolizei und Erschiessungskommandos manipuliert, aber selbst damals ist es nur zum Teil gelungen, die Bevölkerung zu täuschen.»

Reinhard Bütikofer ist kein Dummkopf. Wenn er aufrecht gewesen wäre, dann hätte er sagen müssen: In den USA hat es keine ehrlichen Wahlen gegeben. Der neue Präsident hat sich seine Mehrheit mit Lügen und Propaganda erschlichen. Wir stellen uns unter Demokratie etwas anderes vor. Von demokratischer Legitimation kann also keine Rede sein. Aber Bütikofer hat etwas anderes gesagt. Und dass die Linke von Bush lernen soll: vielleicht wie «mit populistischer kultureller Agitation die Hegemonie» der Linken zu erreichen ist. Hatte nicht vor rund 15 Jahren ein namhafter marxistischer Psychoanalytiker aus der Schweiz, Emilio Modena, geschrieben, die Linke solle aus den Propaganda-Erfolgen der Nationalsozialisten lernen?
Oder geht es um den Kniefall vor dem neuen Imperator aus Washington?

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder sieht, so berichteten die Nachrichtenagenturen dpa und ap am 17. November, der Zusammenarbeit mit der künftigen US-Aussenministerin Condoleezza Rice «durchaus gerne entgegen». Von Condoleezza Rice stammen die Worte zum Irak-Krieg: «Bestraft Frankreich, ignoriert Deutschland und verzeiht Russland.» Die «Frankfurter Rundschau» titelte am 17. November: «Hardlinerin im US-Aussenamt».


Oder haben wir es mit einer neuen Variante von Appeasement-Politik zu tun, in der Art: Wir wollen das Imperium nicht stoppen, damit es schneller zerbricht.


Ganz aktuell ist ein Buch erschienen, von Eva Schweitzer, einer früheren «taz»- und «Tagesspiegel»-Redakteurin, heute arbeitet sie als Korrespondentin für die «Financial Times Deutschland», Die Zeit, die «Berliner Zeitung» und die «Frankfurter Rundschau». Der Titel des Buches: «Amerika und der Holocaust. Die verschwiegene Geschichte».* Die Autorin hat viel Material zusammengetragen, um, wohl erstmals auf seriöser Grundlage in deutscher Sprache, die finstere Seite der US-Kollaboration mit Nazi-Deutschland darzustellen.

Was auch immer in den Köpfen der Polit-strategen vor sich geht - Charles Simic schreibt am Ende seines Essays etwas, das nicht nur für die USA, sondern genauso für Europa von Bedeutung ist.

Erstens: «Jeder unfähige Politiker wird im Amt bleiben, jede katastrophale Politik, im In- und Ausland, muss bis zum bitteren Ende verfolgt werden. Und vor allem brauchen wir Feinde, aber von denen haben wir gottlob reichlich. Da die Realität dummerweise auch in Zukunft anders aussehen wird, werden wir uns immer mehr Märchen erzählen müssen.»

Zweitens: «Für Selbsttäuschung muss früher oder später immer ein Preis bezahlt werden.»


* Eva Schweitzer. Amerika und der Holocaust. Die verschwiegene Geschichte. München 2004

Artikel 4: Zeit-Fragen Nr.45 vom 22.11.2004, letzte Änderung am 23.11.2004