Hilferuf

In einem dringenden Appell bitten britische Konservative die USA um Hilfe gegen das deutsche Vormachtstreben und die EU. Berlin habe seinen politischen Einfluss "dramatisch gesteigert" und werde auch unter der CDU-Kanzlerin von den hegemonialen Zielen seiner Außenpolitik nicht ablassen, warnt der Londoner Parlamentsabgeordnete Bill Cash. Cash wirft Washington vor, einem "strategischen Irrtum" verfallen zu sein, indem es die europäische Integration stütze, statt gegen die kontinentale Ausweitung der deutschen Wirtschaftsmacht aktiv vorzugehen. Die stillschweigende Flankierung der Berliner "Realpolitik" schade sowohl nordamerikanischen wie britischen Interessen und müsse korrigiert werden, verlangt Cash in einem Positionspapier, das er US-Abgeordneten Anfang April vorlegte. Cash erinnert seine Gesprächspartner an die militärpolitische Verflechtung beider Staaten und hebt die wirtschaftliche Bedeutung der "transatlantischen Sonderbeziehungen" zwischen Großbritannien und den USA hervor.

Das Memorandum erscheint zum Zeitpunkt eines Übernahmekampfes um die Londoner Stock Exchange (LSE), deren Aufkauf durch die Frankfurter Börse im vergangenen Jahr am Einspruch internationaler Investmentfirmen scheiterte. Dieselben Kreise bemühen sich seit vergangener Woche, den britischen Finanzplatz neuerlichen deutschen Zugriffen zu entziehen - statt von der Frankfurter Börse soll die Londoner Stock Exchange jetzt von New York übernommen werden. Die wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen führen zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung des westlichen Staatenlagers. Nach Auffassung britischer Konservativer ist ein engerer Schulterschluss mit Washington dringend geboten, um der deutschen Konkurrenz die Stirn zu bieten. Das Memorandum der Gruppe um Bill Cash bereitete mehrere Kolloquien vor, zu denen sich britische und amerikanische Konservative in Washington trafen. [1] Der Text kritisiert die US-Außenpolitik in ungewöhnlich offener Form und ruft zu einem Strategiewechsel gegenüber Berlin, der "deutsch-französischen Achse" und ihrer EU-Integrationspolitik auf. Der Autor und Parlamentsabgeordnete Cash steht der Londoner Stiftung "European Foundation" [2] vor und bezeichnet sich als "Euro-Realist". Dem "Advisory Board" der Stiftung gehören prominente Parlamentarier an, darunter Angela Browning, David Davis, Ian Duncan Smith sowie der Europa-Abgeordnete Roger Helmer.
 
Fundamental
Begnügte sich die Stiftung in der Vergangenheit mit kritischen Analysen zu europapolitischen Themen und beließ es bei Angriffen auf deutsche Sozialdemokraten, denen eine Vorreiterrolle bei der europäisch verkleideten Ausstülpung der Berliner Einflussarbeit zugeschrieben wurde, so heißt es in dem aktuellen Grundsatzpapier, dass die konservative Regierungsbeteiligung der CDU an der herausfordernden deutschen Außenpolitik nichts Wesentliches ändere. Frau Merkels wiederholte Ankündigungen, während der kommenden deutschen EU-Präsidentschaft den bereits abgelehnten Verfassungsentwurf "wiederbeleben" zu wollen, offenbare das parteiübergreifende Hegemonialziel, "ein föderales Europa" unter deutsche Aufsicht zu stellen. [3] Dabei bediene sich Berlin der französischen Angst vor einer neuerlichen Abhängigkeit, biete Paris "Partnerschaft" an und setze seine nationalen Ziele mit Hilfe der französischen Eliten durch. Wie das Papier feststellt, genügt es, dass Berlin und Paris einen interessierten Dritten finden ("zum Beispiel Italien"), um die EU-Mehrheiten nach Belieben zu gewichten. Demgegenüber benötige Großbritannien mindestens drei andere EU-Staaten, wenn es unerwünschte Entscheidungen abwenden will. "Deutschlands Fähigkeiten, die EU in Richtung der eigenen Interessen zu steuern, wurde durch den Vertrag von Nizza gestärkt; dadurch ist es zu fundamentalen (...) Verschiebungen des geopolitischen Gleichgewichts (...) in Europa gekommen", schlussfolgert das Memorandum.
 
Großer Krieg
Ein besonderes Kapitel widmet das Memorandum der westlichen Militärpolitik und dem NATO-Bündnis. Die Aspirationen "bestimmter EU-Mitglieder", eigenen Rüstungs- und Interventionsinteressen nachzugehen, gefährde den Zusammenhalt der NATO, belaste den Militärhaushalt der USA und schwäche die gemeinsamen Anstrengungen bei der Besetzung fremder Staaten. Deutschland und Frankreich wird vorgeworfen, sich der Entlastung von US-Kampfeinheiten in Afghanistan zu widersetzen, statt die europäischen Expeditionstruppen unter das Kommando des Pentagons zu stellen. Nach Beobachtung des Parlamentsabgeordneten Cash wiederholen sich ähnliche Differenzen auf dem Rüstungssektor. So würden die (deutsch-französischen) Entscheidungsträger darauf bestehen, die Luft-Luft-Rakete "Meteor" in Europa zu bauen, und dabei annähernd zwei Milliarden Euro ausgeben, obwohl eine ähnliche Waffe in den USA für rund 700 Millionen Euro zu haben sei. Auch die Streitigkeiten um das Navigationssystem Galileo, das der US-Erfindung NAVSTAR-GPS Konkurrenz macht, ist den britischen Konservativen Beweis für ein strategisch gefährliches Auseinanderdriften des westlichen Lagers. [4] Von Galileo werde zwar ständig behauptet, die EU verfolge damit ausschließlich zivile Ziele, jedoch gehe es auch um militärische Absichten. Indem die EU Galileo für eine chinesische Beteiligung öffnete [5], erschwere sie "den Informationsaustausch mit den strategischen europäischen Partnern" der USA [6] - ein Hinweis auf militärtechnische Vorbereitungen auf den "Großen Krieg" [7].
 
Höchste Zeit
Wegen der als gefährlich angesehen EU-Politik unter deutscher Führung bieten sich die britischen Konservativen den USA als letzte Reserve im Kampf gegen die von Berlin geleitete "Achse" [8] an. Zusammenfassend heißt es, eine "weiter vertiefte europäische Integration (...) liegt nicht im Interesse der USA" und schade "der globalen Stabilität angesichts neuer Machtzentren wie China und Indien - abgesehen von den dramatischen Entwicklungen im Mittleren Osten (...). Dringend notwendig ist die US-interne Überprüfung der amerikanischen Außenpolitik gegenüber der europäischen Integration seit 1945, besonders aber seit 1990 (...). Die tektonischen Platten des internationalen Machtgefüges sind in Bewegung. Es ist höchste Zeit."
 
Belächelt
Die geforderte Neuausrichtung der US-Außenpolitik widerspricht vitalen Interessen der US-Wirtschaft, die es bereits bei Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine Schwächung des britischen Empire ankommen ließ und den Wiederaufstieg der deutschen Eliten förderte. Deren föderale Europa-Politik sollte eine Öffnung der kontinentalen Märkte ermöglichen und damit dem US-Export die Grenzen öffnen. Zwar war das Neuerstarken deutscher Hegemonialpläne in diesem Konzept nicht vorgesehen, wurde aber schrittweise hingenommen und brach sich spätestens 1990 freie Bahn. [9] Angesichts der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsverflechtungen und gewachsenen Abhängigkeiten wird der aktuelle Hilferuf britischer Konservativer in Berlin belächelt.
 
[1] Bill Cash, MP: United States Policy on European Integration - An understandable but strategic error since 1990. The European Journal, March/April 2006
[2] The European Foundation, 7 Southwick Mews, London W21JG
[3] Bill Cash, MP: United States Policy on European Integration - An understandable but strategic error since 1990. The European Journal, March/April 2006
[4] s. dazu Berlin: Europäische Satellitennavigation soll Militäreinsätze "gegen das Interesse der USA" ermöglichen, "Von deutscher Seite dominiert" und Deutsche Handschrift sowie Krieg aus dem All
[5] Die Volksrepublik China ist an dem EADS-Projekt "Galileo" mit 400 Millionen Euro beteiligt.
[6] Bill Cash, MP: United States Policy on European Integration - An understandable but strategic error since 1990. The European Journal, March/April 2006
[7] s. dazu Grande Guerra und Drohungen, Schutzgelder, Krieg sowie Zielradius bis Beijing
[8] Bill Cash, MP: United States Policy on European Integration - An understandable but strategic error since 1990. The European Journal, March/April 2006
[9] Henry Kissinger: Jahre der Erneuerung. Erinnerungen, München 1999
 
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56321 vom 20. 4.2006