Der Sturm, den die Schulen ernten, wurde jahrzehntelang gesät - von Berthold Kohler - Die Erblast von Achtundsechzig

Wieder ist die Republik über sich erschrocken. An ihren Schulen geht es schlimmer zu, als sie es wahrhaben wollte. Dem Schock über die Bildungsmisere, attestiert in den Pisa-Berichten, folgt nun das Entsetzen darüber, daß die deutschen Schulen auch als Integrationsmaschinen viel weniger leisten, als nötig wäre. Schon ganze Ausländergenerationen leben in abgeschlossenen Parallelwelten, die von außen kaum noch zu erreichen sind. Frühzeitig müßte diesen Segregationsprozessen entgegengewirkt werden. Doch den Schulen gelingt es nur mangelhaft, den Nachschub für die Ghettos abzuschneiden und junge Menschen aus Ausländerfamilien in die bürgerliche Gesellschaft einzugliedern. Aber auch Schüler ohne "Migrationshintergrund" scheitern am Übertritt in ein ordentliches Berufsleben, weil Eltern und Schulen ihre Erziehungsaufgaben nicht ausreichend erfüllen.

Gründe für das Erschrecken gibt es genug. Doch woher kommt die Überraschung? Kreuzberg und Neukölln liegen nicht irgendwo, sondern mitten in der deutschen Hauptstadt Berlin. Es soll sogar fortschrittliche Bundestagsabgeordnete geben, die in diesen angeblich multi-, in Wirklichkeit aber recht monokulturellen Stadtteilen wohnen. Doch nicht nur ihnen ist seit Jahrzehnten bekannt, wohin die Ghettoisierungsprozesse in den deutschen Groß- und auch schon Kleinstädten führen. Unter dem Banner der Toleranz fand in den Kommunen das Gegenteil von Integration statt. Dort entstanden gleichsam exterritoriale Zonen, in denen sich etwa ein Türke kaum stärker an die Gepflogenheiten des öffentlichen Lebens in Deutschland anpassen muß als in Istanbul.
 
Kritik daran ist aber kaum laut geworden, weil sie von den Meinungsführern der Ausländerdebatte sogleich niederkartätscht wurde; kaum jemand konnte so intolerant sein wie die Hohenpriester des Toleranzgedankens. Besonders für die aus der Studentenbewegung hervorgegangene Linke gehörte der Import fremder Kulturen zum Entnationalisierungsprogramm, mit dem das Deutschsein der Deutschen möglichst stark verdünnt werden sollte. Die bürgerlichen Parteien, die 1968 die Diskurshoheit verloren, wehrten sich nur schwach dagegen, weil sie nicht als "ausländerfeindlich" an den Pranger gestellt werden wollten. Lieber steckten sie fortan den Kopf in den Sand. Das Dogma, daß schon alles gut werde, wenn man bis zur Aufgabe der eigenen Werte und Ordnungssysteme tolerant und antiautoritär sei, bezog sich freilich nicht nur auf die Ausländerpolitik. Nach 1968 versuchten die progressiven Geister in Deutschland möglichst alles zu schleifen, was ihnen irgendwie als Herrschaftssystem vorkommen wollte. Auch die unselige Rechtschreibreform geht auf dieses Motiv zurück. Autorität an sich ist damals als ein (deutsches) Erzproblem identifiziert worden, wie überhaupt alles problematisiert wurde, als die "Achtundsechziger" als Lehrer an die Schulen kamen.
 
Sie säten auch im Bildungssystem jenen antiautoritären Geist aus, der erheblich zur Schwächung und Verwahrlosung der Schulen beitrug, die jetzt (für wie lange?) die Öffentlichkeit schockieren. Die Anforderungen an die Schüler wurden zurückgenommen, die sogenannten Sekundärtugenden verunglimpft, Grenzen wurden, wenn überhaupt, nur noch weit gesteckt. Der Autoritätsverlust, den manche Lehrer heutzutage beklagen, gehörte für ihre Vorgänger zum Programm ihres gesellschaftlichen Befreiungskampfes. Zu den Kindern dieser Revolution zählen die Kohorten von kaum noch "beschulbaren" Jugendlichen, die die Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens schon deswegen nicht schätzen können, weil niemand sie ihnen beibrachte.
 
Die Jugend aus den Ausländervierteln hält den Deutschen jetzt am drastischsten vor Augen, wohin die als Liberalität ausgegebene Permissivität geführt hat. Nach allem, was man über die Lebenswelt von jungen Türken, Arabern und Afrikanern in Deutschland weiß, spielt in ihr der Respekt vor Autoritäten - ob in der Person des Bandenanführers oder (noch) des eigenen Vaters - eine große Rolle. Die Schule aber flößt ihnen so wenig Respekt ein wie die anderen staatlichen Institutionen, die ihnen gleichermaßen defensiv entgegentreten. Wer soll auch einen Staat und dessen Repräsentanten achten, wenn diese vorrangig Selbstzweifel und Selbstaufgabe verkörpern? Gerade jungen Muslimen, deren agile Religion sich ausbreitet, kann nicht entgehen, wie sehr die christlich-abendländische Kultur in Deutschland in die Ecke gedrängt worden ist.
 
Integration wird nur dann gelingen, wenn sie den zu Integrierenden erstrebenswert erscheint. Darum muß, wenn die Eltern dazu nicht willens oder nicht in der Lage sind, der Staat durch umfassende schulische Bildung dafür sorgen, daß den Ausländerkindern der Weg in ein erfülltes bürgerliches Leben offensteht. Die Gleichgültigkeit, mit der Deutschland bislang dem Wachstum eines schlecht ausgebildeten und vor allem deswegen arbeitslosen Jugendproletariats zusah, ist ein Skandal. Der Staat muß die jungen Leute, ob ausländischer oder deutscher Abstammung, aber auch spüren lassen, daß er die Verletzung der Regeln des zivilisierten Zusammenlebens nicht hinnimmt.
 
Das ist eine der Botschaften, die von der Schule zu vermitteln sind. Dazu braucht man nicht die Zeit bis vor 1968 zurückzudrehen. Es reichte schon, wenn man von einigen Irrtümern abrückte, die jahrzehntelang als Dogmen in der Ausländer- und Schulpolitik verkündet worden sind. Der Verlauf der aktuellen Debatte läßt immerhin darauf hoffen - obwohl sich die Protagonisten von damals immer noch mit dem Eingeständnis schwertun, Irrwege verfolgt zu haben. Dabei könnten sie doch als leuchtende Vorbilder auftreten. Die meisten von ihnen führen heute das, was sie früher mit aller Gewalt bekämpften: ein bürgerliches Leben.
 
 Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 82 vom 6.04.2006