Karl Müller -

Im Zusammenhang mit den Aussagen der Bundeskanzlerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz erschliesst der von Professor Karl Müller verfasste Artikel weitere Hintergrunddetails

So titelte das deutsche «Handelsblatt» auf der Frontseite am Tag der Wahl der CDU-Vorsitzenden zur neuen Bundeskanzlerin. Über dem Artikel ist das Profil Angela Merkels mit Blick auf die Fahne der USA zu sehen. Im Artikel heisst es gleich zu Beginn: «Die US-Regierung erwartet nach dem Regierungswechsel in Berlin wesentlich engere Beziehungen zu Deutschland.» Im Inneren der Zeitung kommt der neue US-Botschafter in Deutschland, William Timken, zu Wort. Wie schon neuerdings bei den Neokonservativen («Committee for a Strong Europe»), fällt auch beim Botschafter öfter das Wort vom «starken Europa», auch vom «starken Deutschland»: «Der US-Präsident», so Timken, «hat mir folgendes gesagt: Ohne ein starkes Europa und ein starkes Deutschland kann ich nicht tun, was ich tun muss, und die Welt kann ihre Probleme nicht lösen.»
 
Deutschland soll sich intensiver um den Mittleren Osten, den Balkan und den Kaukasus kümmern. «Von der neuen Bundesregierung erhoffen sich die Amerikaner vor allem Unterstützung bei der Demokratisierung Osteuropas, Zentralasiens und des Mittleren Ostens», heisst es in einem Kommentar der Zeitung vom selben Tag. Der Knackpunkt aus der Sicht des Botschafters: «Das Problem scheint mir zu sein, dass hier noch nicht wirklich akzeptiert wurde, dass die Globalisierung unumkehrbar ist und man sich deshalb komplett ändern muss.» Dasselbe hatte schon ein paar Wochen zuvor der Neokonservative Jeffrey Gedmin vom Think tank Aspen Institute in Berlin gesagt. Nun fordert auch der US-Botschafter, ein enger Vertrauter des US-Präsidenten, energische wirtschaftliche Reformen, damit Deutschland «sich nicht weiter mit internen Problemen beschäftigen muss». Und wie soll Merkel verhindern, dass ihre Abhängigkeit von der US-Politik allzu arg ins Auge sticht? Sie werde, so im schon erwähnten Kommentar, «bei aller Amerika-Freundlichkeit auch nach Nischen suchen, um ihre Unabhängigkeit zu beweisen». «Mit dem Türkei-Thema könnte sie deutlich machen, dass sie Bushs Kurs nicht blind folgt.» Wer sagt das? Der Neokonservative Gedmin, von dem es heisst, dass er Angela Merkel «brieft». (Welt am Sonntag vom 27. Juli 2003)
 
Wissen die Deutschen und die Bürger der anderen europäischen Staaten, was es bedeutet, wenn die Pläne der US-Regierung umgesetzt werden? Eine US-Regierung, die über das Völkerrecht hinweggeht («Krieg gegegen den Terrorismus») und im Inneren immer mehr eine Diktatur aufbaut («Patriot Act»), sucht in Deutschland einen erneuten «Vasallen» (Brzezinski) für ihre Politik und glaubt, mit der neuen Bundeskanzlerin eine geeignete Marionette gefunden zu haben. Wir wissen, was Bush denkt, was er «tun muss». Wir wissen, was Bush unter «Demokratisierung» versteht. Wir wissen auch, dass die Bush-Regierung die Antwort auf die Gretchenfrage schon gegeben hat: Wer bei der Globalisierung mitmacht, der ist der «Freund», wer nicht mitmacht, dem drohen die nächsten Kriege. Wortreich hat dies vor mehr als zwei Jahren ein enger Berater der Bush-Regierung zum Ausdruck gebracht. «Die neue Weltkarte des Pentagon» hiess der Artikel von Thomas P. M. Barnett, der in der «Frankfurter Rundschau» vom 25. Juni abgedruckt war. Und wer wissen will, warum Globalisierung vor allem Unterordnung der Welt unter US-Interessen heisst, dem sei das neue und wichtige Buch der Mittelstandsforscher Eberhard und Eike Hamer mit dem Titel «Wie kann der Mittelstand die Globalisierung bestehen?» empfohlen. (aton-Verlag, 2005, ISBN 3-9809478-1-5)
 
Was heisst es, mit «wirtschaftlichen Reformen» keine «internen Probleme» mehr zu haben? Geld sparen für mehr Kriegseinsätze und Militäreinsätze im Inneren des Landes? Menschen arm werden zu lassen, damit sie vor lauter Existenzsorgen keine Zeit mehr und keine Kraft mehr für bürgerschaftliches Engagement haben? Timken hat gesagt, bei Reisen durch Deutschland sei es «schwer, eine Bevölkerung zu entdecken, die ökonomisch leidet». Wohin hat er geschaut? Auf die vielen Millionen, die in Sorge sind, ihren Arbeitsplatz zu verlieren? Wegen Anteilseignern, denen der reichlich erarbeitete Gewinn noch immer nicht reicht. Auf die 5 Millionen Arbeitslosen? Auf die weiter wachsende Anzahl von Sozialhilfeempfängern oder Beziehern von Arbeitslosengeld II? Oder mehr auf die Reichen im Land? In der Tat:
Die Luxusgüterindustrie vermeldet zweistellige Umsatzsteigerungen; so berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 18. November in ihrem Wirtschaftsteil. Dieselbe Zeitung berichtete übrigens auch ein paar Tage später, am 23. November, über den neuen Welternährungsbericht der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO). Danach sterben jedes Jahr 6 Millionen Kinder an Hunger. Fast 1 Milliarde Menschen auf der Welt sind unterernährt. Die Taten der Bushs in der Welt und die Globalisierung haben hier keine Besserung gebracht. Wohl eher das Gegenteil. Die Bushs der Welt haben andere Pläne. Dabei brauchen sie die Merkels der Welt. Früher sprach man einmal von Marionettenregimes.
 
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 47 vom 28.11.2005