Und warten noch immer

BERLIN/BEIRUT (Eigener Bericht) Die frühere Oppositionsführerin im Deutschen Bundestag und heutige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist seit elf Monaten über das Foltergeschehen im Zuge eines deutschen Ermittlungsverfahrens unterrichtet, ohne gegen die Verbrechen juristisch einzuschreiten. Dies belegen Dokumente, die dieser Redaktion vorliegen. Demnach wurde Frau Merkel am 24. Februar 2005 über den Sachverhalt schriftlich informiert. Auch die Vorsitzenden der übrigen Bundestagsparteien oder deren parlamentarische Vertreter sind seit elf Monaten in Kenntnis der Vorwürfe. Wie den Parlamentariern mitgeteilt wurde, endete das "Outsourcing" staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen in den Libanon mit schweren Menschenrechtsverletzungen durch Folter. Unmittelbarer Auftraggeber der Auslagerung deutscher Strafverfolgungsmaßnahmen in einen Folterstaat war der Generalbundesanwalt; Beihilfe leistete das Bundeskriminalamt (BKA). Als sich ein Zeuge der offenkundigen Verbrechen auch an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages wandte, wurde er über sechs Monate hingehalten. Die parlamentarische Nichtbehandlung des Foltergeschehens wirft ein Schlaglicht auf die innere Verfasstheit der Bundesrepublik, die sich berufen fühlt, weltweit Menschenrechte einzuklagen.

German-foreign-policy.com veröffentlicht Dokumente:

Mit Datum vom 24. Februar 2005 erreichte die "Frau Abgeordnete Dr. Angela Merkel"
ein vierseitiges Schreiben, dessen Absender wegen ihrer Stellung im Staatsdienst Aufmerksamkeit beanspruchen durften: "Robert MAYER, Polizeihauptkommissar im Bundesgrenzschutz", und "Ralph TREDE, Kriminaloberkommissar im Bundeskriminalamt" wandten sich "nachrichtlich" an die damalige Oppositionsführerin. [1] Auch bei oberflächlichem Studium musste dem Büro Merkel auffallen, dass die Absender eine Angelegenheit von Verfassungsrang behandelten. Bereits auf Seite eins des Schreibens wurde über alarmierende Ereignisse, damit beschäftigte Hoheitsträger und prominente Exekutivorgane informiert. Wörtlich heißt es unter "Betreff":

"A. Verfassungswidrige Handhabung dienstlich gemeldeter Menschenrechtsverletzungen (Art. 20 Abs. 3 GG) (Foltererkenntnisse, anlässlich operativer Einsätze des Bundeskriminalamts im Libanon gewonnen)
B. Verletzung internationaler Vertragspflichten auf dem Gebiet des Schutzes der Menschenrechte
C. Verdacht der Strafvereitlung im Amte, gerichtet gegen:
a) den Präsidenten des BKA, J. ZIERCKE
b) Herrn Bundesminister des Innern, Otto SCHILY
c) Herrn Generalbundesanwalt K. NEHM und involvierte Mitarbeiter".
 
Haftverbrechen
Wie dem Schreiben auf Seite zwei zu entnehmen war, hatte BKA-Kriminaloberkommissar Trede den BKA-Präsidenten Ziercke über "Folterungen an Festgenommenen" im Zuge einer BKA-Operation im Libanon persönlich informiert. [2] Nach Informationen von Amnesty International (AI) wurden die Zielpersonen des BKA-Einsatzes Opfer schwerer Haftverbrechen, darunter Essensentzug und Hängefolter. Fünf Monate nach dem Foltervortrag im Chefzimmer des BKA musste Trede feststellen, dass die zwingend notwendige Verbrechensanzeige seines Dienstvorgesetzten entweder nicht ergangen war oder den Generalbundesanwalt zu keinerlei Ermittlungsverfahren veranlasst hatte. Dies teilte Trede Frau Dr. Merkel mit.
 
Hilferuf
Des weiteren erfuhr die heutige Bundeskanzlerin, dass Kriminaloberkommissar Trede, der Folterinformant und Beschwerdeführer, seinen BKA-Arbeitsplatz räumen musste. Offiziell wegen Krankheit vom Dienst befreit, war der BKA-Mann durch die Hölle gegangen: In dem Schreiben vom 24. Februar 2005 bat Trede die CDU-Parlamentarierin Merkel "nachrichtlich" um "persönlichen Schutz". Wegen "Thematisierung der (Folter-)Ereignisse" und Tredes Weigerung, "für weitere Verdunkelungsbemühungen" zur Verfügung zu stehen, müsse er "mit einer Verstärkung schon eingeleiteter Repressalien" rechnen. [3] Aber der erkennbare Hilferuf des mehrfach ausgezeichneten Polizisten brachte Trede keine Entlastung: Frau Merkel antwortete nicht.
 
Personalangelegenheiten
Nicht nur Frau Merkel kümmerte die Sorge Tredes um den Bruch der Verfassung und um die Unversehrtheit seiner Person wenig. Auch die "Herrn Abgeordneten Franz MÜNTEFERING, Michael GLOS" und "Dr. Guido WESTERWELLE", denen ebenfalls Hilferufe zugegangen waren, würdigten die Folteranzeige mit keinem Wort. Immerhin teilten Bündnis 90/Die Grünen mit, man werde sich im Petitionsausschuss des Bundestages darum kümmern, wie schnell klar werden sollte, ein Begräbnis dritter Klasse. Die sozialistische Bundestags-Opposition, der ein Hilferuf an die "Frau Abgeordnete Petra PAU" gegolten hatte, setzte den deutschen Parteien ein Glanzlicht auf: Wegen BKA-Personalien werde es wohl kaum zu Interventionen der PDS kommen, verlautbarte Frau Pau aus Berlin. Weitere Mitteilungen ergingen nicht, berichten die Absender des Briefes dieser Redaktion.
 
Doppelbödig
Damit blieb den Beamten Mayer und Trede nur noch Artikel 17 der Verfassung : der Weg zum besagten Petititonsausschuss. Durch Einschreiben mit Rückschein, der am 9. März des vergangenen Jahres in Berlin gegengezeichnet wurde, wandten sich der Polizeihaupt-kommissar und der Kriminaloberkommissar an den "Herrn Vorsitzenden Dr. Karlheinz GUTTMACHER". Das Petitionsschreiben ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
"Die Bundesrepublik Deutschland erhebt (...) einen sehr hohen rechtspolitischen und auch moralischen Anspruch, was den internationalen Schutz der Menschenrechte betrifft. Vor diesem Hintergrund kann es sich der Rechtsstaat Deutschland nicht leisten, dienstlich bekannt gewordene Foltervorgänge zu ignorieren (...). Im Blickwinkel der Weltöffentlichkeit muss die Bundesrepublik Deutschland damit den Eindruck einer doppelbödigen Moral aufkommen lassen, indem sie die Folter verbal ächtet, andererseits jedoch durch Gewaltanwendung erlangte Aussagen in eigene Ermittlungsverfahren einfliessen läßt."
 
Personalangelegenheiten
Über das Ausmaß der Vorwürfe und ihren politischen Gehalt konnte nach diesen Einlassungen kein Zweifel bestehen. Die Angelegenheit war eilbedürftig. Tatsächlich antwortete der Petitionsausschuss bereits binnen drei Wochen. Der Sachbearbeiter meinte festgestellt zu haben, dass es sich bei der Petition um eine Angelegenheit des Bundesgrenz-schutzes (BGS) handeln musste, da der Petent Robert Mayer als BGS-Polizeihauptkommissar gezeichnet hatte. In richtiger Erkenntnis der Identität, aber seltsam falscher Zuordnung in der Sache heißt es deswegen auf dem Formschreiben: "Betr.: Personalangelegenheiten des Bundesgrenzschutzes". Inhaltliche Ausführungen zu der angeblichen BGS-Sache tätigte der Petitionsausschuss nicht, aber ließ ein Aktenzeichen wissen ("Bitte bei allen Zuschriften angeben: Pet 1-15-0621911-032005").
 
Ohne Widerrede
Als Mayer und Trede empört reagierten, den Verdacht einer absichtlichen Fehlzuordnung äußerten und die parlamentarische Behandlung unter dem angemessenen Sachtitel (Folter) verlangten, antwortete der Vorsitzende des Petitionsausschusses kraft seines Amtes persönlich: Bei dem Foltergeschehen, so Karlheinz Guttmacher (FDP), handle es sich endgültig und ohne weitere Widerrede um "Personalangelegenheiten". Zum Zeitpunkt dieser Mitteilung waren seit Petitionseingabe fünf Monate vergangen, ohne dass der von Trede und Mayer erbetene Schutz in irgendeiner Weise behandelt, geschweige der Foltervorwurf geklärt worden wäre. Dabei sollte es bleiben. Am 4. Oktober 2005, also nach acht Monaten, teilte der parlamentarische Ausschuss, ein angebliches Instrument des Souveräns, den wegen Folter-verbrechen vorstellig gewordenen Antragstellern kurz und bündig mit: "Die parlamentarische Prüfung Ihrer (!) Angelegenheit hat sich wegen der Wahlen zum Deutschen Bundestag leider verzögert. Sobald die Zusammensetzung des Petitionsausschusses der neuen Wahlperiode bekannt ist, wird der Vorgang den als Berichterstatter eingesetzten Abgeordneten zugeleitet. Nach abschließender Beratung durch den Deutschen Bundestag werde ich Ihnen das Ergebnis mitteilen."
 
Sofern sie noch leben
Auf das angekündigte Ergebnis warten der Polizeihauptkommissar und der Kriminalober-kommissar noch immer. Es warten auch Haydar Zammar [4], Murat Kurnaz [5] und die übrigen Folteropfer des internationalen "Outsourcing"-Systems - sofern sie noch leben.
 
[1] Schreiben vom 24.02.2005
[2] s. dazu Die Folterer
[3] Schreiben vom 24.02.2005
[4] s. dazu Wo ist Haydar Zammar? und Wer ist "Sam", der deutsche Foltergesandte? sowie Täuschen und lügen
[5] s. dazu Nach Recht und Gesetz und Sofern sie noch leben sowie Interview mit Rechtsanwalt Bernhard Docke
 
Quelle:  http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56186   vom 9.1.06