Die Schweiz und Europa

An der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Volkspartei SVP am 3. Dezember 2005 in Suhr AG hatte Nationalrat Ulrich Schlüer die wichtigsten Einwicklungen sowohl innerhalb der EU als auch im Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union seit 1990 zusammenzufassen. Seine Ansprache im Wortlaut:

Politische Entwicklungen seit 1990
 
Die Idee, in Europa auf dem Fundament von Freihandel und Wirtschaftsfreiheit Wohlstand und friedliches Miteinander zu bewirken, wäre vorbehaltlos zu unterstützen.
 
Wäre sie nicht von Anfang an ans Zwillingsvorhaben gekettet, gleichzeitig auch die politische Gleichschaltung der europäischen Staaten zentralistisch zu erzwingen. Die Vereinheitlichungs-Ideologie, genannt «Harmonisierung» setzte sich unter dem Druck einer demokratisch nicht wirklich kontrollierten Zentralverwaltung in der EU durch. Der freie Wettbewerb wurde der Harmonisierung untergeordnet.
 
Genau deshalb hielt sich die Schweiz der EWG zunächst konsequent fern. Bis der französische Sozialist Jacques Delors 1985 die Idee des grossen, einheitlichen europäischen Binnenmarkts lancierte. Eine Idee, die den Bundesrat nach anfänglichem Zögern 1992 zu einer radikalen Kehrtwendung veranlasste: Bern deponierte zu Brüssel das Beitrittsgesuch.
 
 
Jahre der Orientierungslosigkeit
 
Offene Märkte, ungehinderte Handelsströme: Für die Schweiz – Land ohne Rohstoffe, dessen Volkseinkommen allein aus Händen und Köpfen der Schweizer erarbeitet wird – auf den ersten Blick zweifellos attraktiv. Nur übersahen Berns Funktionäre und Bundesräte, dass Delors nicht einen freien, sondern einen gleichgeschalteten, durchreglementierten Binnenmarkt anstrebte, ganz seinem sozialistischen Credo verbunden, mit Auswüchsen bis hin zu Vorschriften über Gurkenkrümmung, über die Kondom-Einheitslänge, über Traktorsattel-Normen. Brüssel schuf ein Eldorado für Bürokraten und Lobbyisten. Nicht Ideen befruchtender Wettbewerb, vielmehr Bürokratie-nährende Gleichmacherei dominierte. Der Wettbewerb, auch der politische Wettbewerb unterschiedlicher Demokratieformen wurde ebenso kurzsichtig wie demokratiefeindlich als «Nationalismus» diffamiert. Weil Brüssels Zentralbürokratie in Demokratie und Wettbewerb eine Bedrohung ihrer Machtstellung sieht.
 
Die Schweiz – das Nein des Souveräns zum EWR hatte dem Bundesrat die direkte Unterstellung unter das Brüsseler Delors-Regime verwehrt – trudelte derweil in eine Phase der Orientierungslosigkeit, ja Kopflosigkeit. Statt dass sie sich auf eigene Stärken konzentrierte, gründete der Bundesrat ein Integrationsbüro, das sich eilfertigster Anpassung an alles verschieb, was Brüssel genehm war oder auch nur genehm schien. Das eigene, als widerborstig empfundene Volk glaubte Bern damit bestrafen zu können, dass es ihm süffisant immer wieder «autonomen Nachvollzug» von Brüsseler Auswüchsen vorhielt. Dabei war es der Bund selbst, der dem Schweizervolk mit seinem Integrationsbüro immer wieder Nachvollzug auch dort aufzwang, wo ihn das Volk, hätte man ihm die Freiheit dazu eingeräumt, sich nie und nimmer dafür entschieden hätte.
 
 
Von der Orientierungslosigkeit zur Blindheit
 
In vielerlei Hinsicht Konfusion auslösende, auf Maastricht-Brüssel fixierte Orientierungslosigkeit mündete mitunter gar in realitätsblinde Duckmäuserei. Zum Beispiel als Deutschland – genau einen Tag nach der Schweizer Volksabstimmung über die Bilateralen I – den Luftverkehrsvertrag mit der Schweiz aufkündete und – trotz Luftverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU – eine Politik unverblümter Diskriminierung zu Lasten des Flughafens Zürich aufzog. Und wenig später versuchte Bern krampfhaft zu übersehen, dass die Europäischen Union, als sie eine politische Kampagne zur Ächtung Österreichs nach der Abwahl der dortigen Sozialisten aufzog, sich in aller Form zur Exekutorin eines Beschlusses der Sozialistischen Internationale machte. Die demokratiefeindlichen, gegenüber Österreich gar totalitären Allüren Brüssels passten ganz einfach nicht in die EU-Idylle, welche Bern der Öffentlichkeit vorzugaukeln suchte. Und so wie sich die Schweiz als blind gegenüber politisch mehr als nur fragwürdigen Entwicklungen zeigte, verschloss Bern auch die Augen vor der sich immer deutlicher abzeichnenden Tatsache, dass das zentralistische, auf Gleichschaltung ausgerichtete Wirtschaftsmodell à la Maastricht weltweit zum offensichtlichen Misserfolgsmodell geriet. Der Binnenmarkt Europa brachte den EU-Ländern alles andere als die versprochenen Wachstumsschübe. Die von Brüssel ausgehende Gleichschaltungs-Bürokratie behinderte, ja verhinderte Wachstum – vor allem in jenen Staaten, die einst die Lokomotiven des wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa gewesen waren. Gefangen im Korsett wachsender Steuern und Abgaben, um sich greifender Gleichschaltungs-Bürokratie und wettbewerbsfeindlicher Harmonisierungspolitik geriet die EU gegenüber den USA, gegenüber Japan, gegenüber allen Fernostländern wirtschaftlich hoffnungslos ins Hintertreffen.
 
Die offizielle Schweiz, in Brüssel als zahlungswilliger Gast immer wieder gern gesehen, wollte und will diese Realität nicht wahrhaben. Vielmehr lieferte sie sich zunehmend diesem EU-Misserfolgs-Modell aus. Sie bürdete unserem Land mit den Neat-Beschlüssen einseitige Vorleistungen in Milliardenhöhe auf. Als man wahrnehmen musste, dass sich die Nachbarstaaten, statt leistungsfähige Zufahrtsstrecken zu bauen, zunehmend in vage Zusicherungen flüchteten, verfiel Bern sogar auf die abenteuerliche Idee, Eisenbahnstrecken auch im Ausland zu finanzieren – dem Schweizer Souverän dafür riesige Schuldenberge hinterlassend.
 
 
Von der Blindheit zur Untertänigkeit
 
Seit auch die Ost-Personenfreizügigkeit in der Schweiz Zustimmung gefunden hat, scheint das offizielle Bern – wenigstens seine Aussenministerin – zunehmend Gefallen zu finden an einer Rolle, welche der Schweiz ein eigentliches Untertanen-Verhältnis gegenüber der Europäischen Union zumutet. Da wurden mit der Europäischen Union bilaterale Verträge vereinbart. Die Verhandlungen dazu dauerten lange, verliefen zeitweise harzig. Aber beide Seiten sicherten sich, als sie ihre Unterschriften unter die fertigen Vertragswerke setzten, ausdrücklich zu, dass das erzielte Verhandlungsergebnis als «gegenseitig ausgewogen» anzuerkennen sei. Was von diplomatischer in allgemein verständliche Sprache übersetzt heisst: Geben und Nehmen sind in den Verträgen im Gleichgewicht. Tatsächlich erhält die Schweizer Wirtschaft im Rahmen dieser Verträge vollen Zugang auf den gesamten Markt der Europäischen Union, auch auf jenen der osteuropäischen EU-Mitglieder. Umgekehrt erhalten aber auch sämtliche Firmen in der gesamten EU, in den alten wie in den neuen EU-Mitgliedländern, uneingeschränkten Zutritt auf den begehrten, zahlungsfähigen Schweizer Markt. Jede Behinderung wäre Diskriminierung und müsste von Staats wegen ausgemerzt werden. Darin spiegelt sich die in den Verträgen von beiden Vertragsparteien betonte Ausgewogenheit.
 
Doch die EU, seit ihrer Osterweiterung in immer schwierigere Finanzkrisen schlitternd, entwickelt zunehmend Freibeutermentalität: Die Schweiz müsse, wenn sie diese Verträge wirklich wolle, nachzahlen, lässt Brüssel verlauten. Eine volle, runde Milliarde Schweizer Franken. Micheline Calmy-Rey – die vorschnelle Zusage offenbar telefonisch übermittelnd – gab sich betont zahlungsbereit – und versucht seither verzweifelt, das Milliarden-Vorhaben irgendwie an der Referendumshürde vorbeizuschmuggeln. Brüssel, von Berns signalisierter Zahlungswilligkeit angetan, lässt derweil bereits ungeschminkt durchblicken, es sei dann noch mit Nachforderungen zu rechnen – schliesslich wolle die EU noch weiter nach Osten wachsen…
 
Zwischen den EU-Staaten – zwischen den sich als arm etablierten alten und den auf Armuts-Subventionen gierigen neuen EU-Mitgliedländern – tobt bereits der Streit um die Schweizer Milliarden…
 
Und in Tschechien wandte sich die Akademie der Wissenschaften ganz unverblümt an eine dorthin gereiste Schweizer Parlamentarierdelegation: Man möge doch die tschechische Wissenschaft mit Projekten betrauen, auf dass die Milliarde aus der Schweiz «nicht ins schwarze Loch der Ministerien verschwindet» (Reisebericht der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, 15. 11. 2005, Seite 10).
 
Dabei gilt die für den Schweizer Steuerzahler und Stimmbürger als einzig ausschlaggebende Tatsache: Irgend eine Rechtsgrundlage für die von der EU geforderte «Kohäsions-Milliarde» existiert in keiner Art und Weise. Es geht doch nicht an, einen Vertrag abzuschliessen, ihn bei Abschluss ausdrücklich als «gegenseitig ausgewogen» anzuerkennen, um dann, wenn die Ratifikation in der Volksabstimmung erfolgt ist, eine Nach-Rechnung in Höhe einer vollen Milliarde Schweizer Franken nachzuliefern. Das ist nichts anderes als eine unverfrorene Anmassung Brüssels.
 
Nur ein Untertan, nur ein Vasall, ein Knecht leistet für einen Herrn Dienste, die diesem Herrn von Rechts wegen gar nicht zustehen. Ein wirklich freier Staat verweigert sich solcher Untertanenhaltung. Attribut des freien Staates ist es, in uneingeschränkter Souveränität über den eigenen Staatshaushalt verfügen zu können. Wer Tribut zahlt, für den es keine Rechtsgrundlage gibt, begibt sich in Abhängigkeit, in Unfreiheit. Deshalb uneingeschränkt Nein zu dieser Kohäsions-Milliarde!
 
 
Fazit
 
Brüssel, uneuropäischem Zentralismus verfallen, befindet sich in tiefster Krise. Europas Völker wenden sich vom Brüsseler Machtapparat ab. Bundesbern aber – in diametralem Gegensatz zum Volk, zum Souverän – klammert sich krampfhaft an seine ihm längst davonschwimmende Beitritts-Option. Womit auch die Schweiz an den Folgen des Misserfolgsmodells EU mitzutragen hat: Die Stagnation im Wachstum zeugt davon.
 
Ein Land wie die Schweiz, verwurzelt in der direkten Demokratie, kann nur Schaden nehmen, wenn seine Regierung jahrelang eine andere Ausrichtung seiner Politik, vor allem auch seiner Wirtschaftspolitik durchzuzwängen sucht, als die Öffentlichkeit will. Zumal dann, wenn der Regierungskurs zunehmend auch von der Wirtschaft des Landes abgelehnt wird. Das kann nur schiefgehen. Da kann das Land nur Schaden nehmen.
 
So liegt es im ureigenen Interesse der Schweiz und der Schweizer Wirtschaft, im Interesse des Souveräns und im Interesse unserer direkten Demokratie, dass der Bundesrat von seiner schädlichen Fixierung auf Brüssel endlich ablässt. Der Schlüssel zu einer positiven Weichenstellung, zu vielversprechendem Aufbruch liegt allein beim Bundesrat: Der Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs wäre jener Entschluss, der unser Land von seiner Ankettung an ein gescheitertes Zentralismus-Modell endlich befreien würde. Also, geschätzte Mitglieder unserer Landesregierung:
 
Tut endlich diesen überfälligen, diesen unser Land befreienden Schritt.


Ulrich Schlüer