Brasilien - Aus Lula wird Mandela - Von Wolf Gauer, São Paulo

Nach 37 Jahren hat Brasilien wieder einen politischen Gefangenen.

Am 7. April zur Mittagsstunde wird Luiz Ignácio Lula da Silva (72) nochmals auf den Schultern seiner Wähler getragen. Rund 10 000 Menschen haben sich vor dem Gewerkschaftshaus der Metaller versammelt, um den bedeutendsten Präsidenten der brasilianischen Geschichte vor seiner Inhaftierung zu sehen, möglicherweise zum letzten Mal - in São Bernardo bei São Paulo, wo er in den 70er Jahren die historischen Streiks der Automobilarbeiter dirigierte und wo er als Dreher bei VW einen Finger eingebüßt hatte. Lula tröstet: »Dieser Nacken wird sich nicht beugen, und mit erhobenem Haupt werde ich zurückkommen«. 

Der Arbeiterkanal TVT, die allmächtige Medienorganisation Globo, überträgt die 70 Stunden Sendezeit auf die Negativdarstellung des ehemaligen Arbeiterpräsidenten (2003-2011), nur streckenweise live. In den Wohnsilos meiner Nachbarschaft nur zaghaftes Töpfeklappern der aufsteigenden Mittelschicht, der es mittlerweile schon an die Arbeitsplätze geht. Gegen Abend hie und da Böllerschüsse. Etwa um 18.40 Uhr macht sich Lula von seinen Anhängern los und geht zu der wartenden Bundespolizei. Bewegende Szenen auch am Flughafen vor dem Abtransport nach Curitiba, Staat Paraná. Dort findet ein blutiger Polizeieinsatz gegen die nächtlichen Ovationen für den ersten politischen Gefangenen seit der Militärdiktatur statt. Einzelhaft in einer spartanischen Zelle erwartet den Sohn einer analphabetischen Landarbeiterfamilie, der der Mehrheit der Brasilianer zu gesellschaftlicher Inklusion verholfen hat - zum ersten Mal in 500 Jahren.

Fachleute aller Couleur stufen Lulas Prozeß als äußerst fragwürdig ein. Die Richter dreier Instanzen hätten sich mehr auf Überzeugungen als auf Beweise  gestützt, auch auf kollegiale Konformität, wie die Bundesrichterin Rosa Weber eingestanden hat, deren Votum Lulas Schicksal besiegelte. Als Präsidentschaftskandidat der Arbeiterpartei (PT) sollte Lula da Silva um jeden Preis von den Wahlen am 7. Oktober ausgeschlossen werden. Er hatte nämlich seine zweite Amtszeit 2011 mit einer Zustimmungsrate von 87 % beendet und lag nun mit einer Wahlvoraussage von 35 % weit vor den Mitbewerbern.

Landesweit und in vielen internationalen Zentren wird gegen Lulas Verurteilung protestiert. Musterhaft und in seltener Klarheit demonstriert sie das Raffinement und die Methodik des globalen Kriegs Reich gegen Arm. Der US-amerikanische Milliardär Warren Buffet bezeichnete ihn 2006 als Klassenkrieg: »Es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir werden gewinnen.«  [New York Times vom 26. 11. 2006]  Anno 2014 besaßen 85 Menschen schon genauso viel wie die arme Hälfte der Menschheit [Oxfam].  

Lulas Beseitigung wie auch die seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff folgten weitgehend den Regeln der für den desinformierten Laien unsichtbaren hybriden  - gemischten, nicht unbedingt militärischen -  Kriegsführung, die von den USA weltweit praktiziert wird. Sie verbindet politischen Druck mit Unterwanderung der Medien und Kommunikationsmittel, mit Meinungsmache und Ausforschung der sozialen Netze, mit massiver finanzieller, psychologischer und technischer Einmischung in Wahlen und Verwaltungsprozesse. Entscheidungsträger werden gekauft, trainiert und zur Ausformung eines fremdbestimmten tiefen Staats angeleitet. 

Michel Temer beispielsweise, jetziger Präsident Brasiliens und Verschleuderer des Staatseigentums, war laut Wikileaks Informant der US-Botschaft. Der Richter Sérgio Moro, der Lulas Verhaftung zustande brachte, wurde wiederholt in den USA geschult. Der Senator Roberto Requião teilte seinem Plenum am 6. 4. 18 mit, daß Moros Haftbefehl »haargenau die Vorgaben des US-Department of Justice, des US-Justizministeriums, erfüllt« »und nicht die legalen brasilianischen Verfahrensregeln« [Brasil247].  

Lulas eigentliches Vergehen ist nicht der nach wie vor unbewiesene Vorwurf, eine Eigentumswohnung entgegengenommen zu haben, sondern die Tatsache, daß es erst seine Amtszeit  [wie die seiner entmachteten Nachfolgerin Dilma Rousseff, 2011-2016] ist, die der brasilianischen Demokratie zu einer völlig neuen sozialorientierten Sinngebung verholfen hat.

Auf die Militärdiktatur [1964-1985] folgten zunächst nur dem Namen nach sozialdemokratische, faktisch jedoch von den traditionellen Oligarchien angeführte konservative Mitte-Rechts-Regierungen. Erst mit Lula begann die Umverteilung des brasilianischen Reichtums in weniger als 10 Jahren. Laut UN-Belegen wurden 36 Millionen Brasilianer von der Armut befreit, die Kindersterblichkeit um 45 % und die Unterernährung um 82 % vermindert. Es entstanden 18 weitere öffentliche Hochschulen. Inzwischen empfiehlt die Weltbank die Schließung der kostenfreien, öffentlichen Universitäten und Präsident Temer denkt auch schon daran.

Vollends unverzeihlich: Lula beendete die Endlosverschuldung beim US-hörigen Weltwährungsfonds und verlegte die traditionelle vertikale Denkausrichtung des Landes, den Blick zum US-Norden, in die horizontale Achse: Fühlung mit Ost und West, mit Afrika, dem die Hälfte der 208 Millionen Brasilianer entstammen und, zum Ärger der USA, mit Indien, China und Rußland. Lulas Brasilien wurde Mitbegründer des BRICS-Staatenbundes und dessen unabhängiger Finanz- und Entwicklungsorganisationen.

Mit Lula da Silva wurde die Konvergenzfigur der sozial fortschrittlichen Kräfte Brasiliens aus dem Weg geräumt. Der Gouverneur des Staats Maranhão, Flávio Dino (PCdoB), sagt eine Verschärfung und Polarisierung des politischen Konflikts voraus. Angesichts der 35 %, die Lula wählen wollten, kündigt sich eine reaktionäre Gegenbewegung mit fortschreitendem Verlust der demokratischen und sozialen Rechte an. Die brasilianische Linke denkt an eine Neuformierung.

Luiz Ignácio Lula da Silva ist inzwischen von den Friedensnobelpreisträgern Mohamed El-Baradei und Adolfo Perez Esquivel für die gleiche Ehrung vorgeschlagen worden.

Der Kampf um Lulas Freiheit geht weiter. 

 

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Quelle:  
https://www.seniora.org/wunsch-nach-frieden/der-wunsch-nach-frieden/aus-lula-wird-mandela.html   Aus Lula wird Mandela – Von Wolf Gauer São Paulo