Bundesrat Cassis: Erst die Fakten zum Rahmenabkommen mit der EU auf den Tisch legen, dann entscheiden

Die Fraktion der SVP widmete sich am 16. Februar an der Fraktionssitzung

in Hergiswil (NW) unter anderem dem geplanten institutionellen Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU. Die 74köpfige Fraktion verlangt vom Bundesrat, die Fakten endlich klar auf den Tisch zu legen. Die hinsichtlich dieses für die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung unseres Landes wichtigste Dossier existierende Vernebelungstaktik  - nebst entsprechenden Wortkreationen -  sind endlich zu beenden. 

Die SVP-Fraktion hatte vom Bundesrat verlangt, im Hinblick auf dessen Klausur vom 21. 2. in Bezug auf folgende Fragen Klarheit zu schaffen: 

Für welche bestehenden bilateralen Abkommen soll das institutionelle Rahmenabkommen gelten?

-   Gemäss dem bundesrätlichen Aussenhandelsbericht sollen fünf Abkommen betroffen sein: Personenfreizügigkeit, gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen MRA, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr. Dahingehend sind im Verhandlungsmandat der EU explizit 9 Abkommen aufgeführt, darunter auch das Freihandelsabkommen von 1972 oder das Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen.

Für welche künftigen bilateralen Abkommen soll das institutionelle Rahmenabkommen gelten?

-   Falls nur Binnenmarktzugangsabkommen davon betroffen sind: Wer definiert, welche Regulierungsbereiche zum EU-Binnenmarkt gehören? 

Ist der Bundesrat der Überzeugung, dass das institutionelle Rahmenabkommen dem Landesrecht übergeordnet ist, d.h. vorgeht? 

Was sind die konkreten Folgen, sollte sich das Parlament oder das Stimmvolk weigern, gewisse EU-Regelungen zu übernehmen? Im Faktenblatt des EDA steht, dass eine Ausgleichsmassnahme bis zur Suspendierung des entsprechenden Abkommen reichen kann. Würde das heissen, dass mit der Guillotine-Klausel automatisch alle 7 Verträge aus dem Bilaterale I-Paket suspendiert würden? Welche anderen Ausgleichs- bzw. Strafmassnahmen sieht die EU vor?

Warum will der Bundesrat ausgerechnet nur das Personenfreizügigkeits-Abkommen aus dem institutionelle Rahmenabkommen ausnehmen [Beibehalten der 8-Tage-Regel usw.]? Kauft er sich damit indirekt die Unterstützung der Gewerkschaften und der Linken für diese Abkommen? Welche anderen roten Linien sind sonst noch vorgesehen [40-Tonnen-Limite usw.]?  

Wie sieht der neue Streitschlichtungsmechanismus genau aus, den der Bundesrat dem Vernehmen nach der EU vorgeschlagen hat? Geht der neue Vorschlag mit der Bedingung einher, dass der EuGH als EU-Gericht keine für die Schweiz verbindlichen Entscheide fällen bzw. verbindlichen Gutachten erstellen kann? 

Ist das institutionelle Rahmenabkommen mit regelmässigen oder wiederkehrenden Zahlungen der Schweiz an die EU verbunden? 

Was sind die konkreten finanziellen und regulatorischen Auswirkungen des institutionellen Rahmenabkommens auf der Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinden? Hat sich die Schweiz den Beihilferegeln der EU zu unterwerfen? Welche konkreten staatlichen Beihilfen der Kantone und Gemeinden wären betroffen? 

Hat das institutionelle Rahmenabkommen Auswirkungen auf das föderale Steuersystem der Schweiz? Ist z.B. damit zu rechnen, dass die Schweiz bei der Mehrwertsteuer das Maximalsatzsystem an das Minimalsatzsystem der EU anpassen muss? Wird es zu einer weiteren Steuerharmonisierung kommen? Wenn ja, in welchen Bereichen? 

Geht mit dem institutionellen Rahmenabkommen die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie oder Teilen davon einher? 

Welche Auswirkungen hat das institutionelle Rahmenabkommen im Sozialversicherungsbereich? Sind Mehrkosten im Bereich der Arbeitslosenversicherung zu erwarten, etwa weil Leistungen aus der ALV an Grenzgänger über einen längeren Zeitraum als bisher ausgerichtet werden müssten? Welche Änderungen sind bei der EL, der IV, der AHV, der Sozialhilfe usw. zu erwarten?

Im Anschluss an die Fraktionssitzung nahmen Bundesrat Maurer und zahlreiche National- und Ständeräte bei einem SVP bi dä Leyt in Stans beim Winkelrieddenkmal teil.   

Der EU-Rahmenvertrag: Behauptungen und Fakten 
Das «Paket I» der bilateralen Verträge besteht aus 7 Verträgen. Diese sind mit einer sogenannten Guillotine-Klausel, eine stumpfe Waffe, aneinandergeknüpft. Diese Klausel besagt: Wird einer der 7 Verträge gekündigt, laufen die anderen 6 Verträge ein halbes Jahr später automatisch aus. Mit dieser Guillotine-Klausel zielt die EU ganz direkt auf die Ausschaltung der Direkten Demokratie in der Schweiz. Weil der Schweizer Souverän, Volk und Stände, Brüssel und dem EU-Beitritt in Volksabstimmungen mehrmals die kalte Schulter gezeigt hatten, wollte Brüssel diesen Souverän ein- für allemal entmachten. Es sollte unterbunden werden, dass Volk und Stände der Schweiz in einzelnen Verträgen auf einzelne Vertragsbestimmungen Einfluss nehmen können, beispielsweise mittels Wahrnehmung des in der Schweizerischen Bundesverfassung gewährleisteten Referendumsrechts.  

Traurig genug, dass die Schweizer Unterhändler, angeleitet von Bundesrat, diese den Schweizer Souverän entrechtende Bestimmung aus Brüssel devot akzeptierten. Bundesrat und Bundesverwaltung wurden damit zu Komplizen der fundamentalistischen Feinde der Direkten Demokratie: Stellungnahmen zu Sachfragen sollten dem Volk damit kategorisch untersagt werden. 

Wie dem auch sei: Die Guillotine-Klausel ist derzeit in Kraft. Weil der Bundesrat ihr ausdrücklich zugestimmt hat, dürfte sie so rasch nicht wegzubringen sein, auch wenn FDP-Präsidentin Petra Gössi von deren Eliminierung träumt. Da sie nun einmal besteht, soll nachfolgend untersucht werden, welchen Schaden diese Guillotine-Klausel der Schweiz bereiten könnte, wenn seitens der Schweiz die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit erfolgen würde, jener  Personenfreizügigkeit, welche die wesentliche Ursache der nicht aufzuhaltenden Masseneinwanderung in die Schweiz darstellt. Deren Kündigung drängt sich um so mehr auf, als Bundesrat und Parlament sich weigerten, den Volksentscheid vom 9. Februar 2014 gegen die Masseneinwanderung auch umzusetzen. Nicht nur diese Weigerung ist verfassungswidrig. Verfassungswidrig ist auch das Ansinnen, der Personenfreizügigkeit höhere Geltung einzuräumen als der Bundesverfassung.  

Dennoch: Die Klausel besteht. Welchen Schaden kann sie der Schweiz bereiten, falls die EU sie in die Tat umsetzen wollte?   

Technische Handelshemmnisse  
Inhalt: Der Vertrag bewirkt die Vereinfachung der gegenseitigen Produktezulassung: Wer in die EU exportiert, muss sein Produkt aufgrund dieses Vertrags nur noch von einer Zertifizierungsstelle überprüfen lassen. Das spart Zeit und Geld. Der Vertrag vereinfacht den Handel mit allen zertifizierten Produkten.   

Beurteilung
: Bereits vor diesem Vertrag hat die Schweizer Wirtschaft Vereinfachungen bezüglich Produktezulassung und -zertifizierung in Absprache mit europäischen Partner-Firmen erreicht. Ein Wegfall dieses Vertrags würde keine existenzbedrohenden Probleme verursachen. Es ist Schweizer Firmen schon heute möglich, ihre Produkte von einer EU-Zertifizierungsanstalt in einem EU-Land freiwillig zertifizieren zu lassen. EU-Firmen teilen das Schweizer Interesse an einer vereinfachten Produkte-Zulassung. Und die Schweiz importiert wesentlich mehr Güter aus der EU, als sie in die EU exportiert. Die Kosten aus technischen Handelshemmnissen liegen bei rund 0,08 bis 0,16 % des Schweizer Exportvolumens. Die Behauptung, Schweizer Firmen müssten bei Wegfall dieses Vertrags ihre Produkte in den 28 EU-Mitgliedländern einzeln zertifizieren lassen, ist falsch. Die Zertifizierung in einem einzigen EU-Land gilt für die ganze EU. 

Öffentliches Beschaffungswesen 
Inhalt: Die Ausschreibungspflicht für Beschaffungen oder Bauten wird ausgedehnt auf Gemeinden und gewisse private Unternehmen. 

Beurteilung: Die Ausschreibungspflicht für öffentliche Aufträge ab 8,5 Millionen Franken wird in erster Linie durch WTO-Abkommen geregelt. Das EU-Abkommen bringt einerseits gewisse Verbesserungen, anderseits baut es auch immer mehr bürokratische Hindernisse auf. Der Wegfall dieses Abkommens würde wenig spürbare Nachteile verursachen.  

Landwirtschaft   
Inhalt: Vereinfachung von Export und Import von Agrarprodukten. Freihandel für Käse. Senkung der Zolltarife für Früchte, Gemüse und Fleischspezialitäten.    

Beurteilung: Ein Wegfall hätte keine spürbaren Auswirkungen.  


Landverkehr

Inhalt: Dieser Vertrag garantiert die Marktöffnung für den Transport von Personen und Gütern zwischen der Schweiz und der EU.

Beurteilung: Dieses Abkommen ist für die EU sehr wichtig. Ohne Vertrag ist der freie Landverkehr auf der Nord-Süd-Achse Basel - Chiasso für EU-Spediteure nicht gewährleistet. Die Schweiz subventioniert mit dem Landverkehrsabkommen jede Transitfahrt von Grenze zu Grenze indirekt mit mindestens Fr. 300.–. Aufgrund dieser Vorteile wird die EU dieses Abkommen kaum je fallenlassen. Für die Schweiz brächte der Verzicht auf das Abkommen Vorteile: Sie könnte den Verkehr von Grenze zu Grenze wieder selbst regeln.   

Luftverkehr  
Inhalt:  Der Vertrag gewährt gegenseitige Zugangsrechte zu den Luftverkehrsmärkten. Schweizer Airlines können Flughäfen in der EU diskriminierungsfrei anfliegen.   

Beurteilung: Die Garantie diskriminierungsfreien Zugangs zu den Flughäfen der EU-Mitgliedstaaten für alle Fluggesellschaften ist zwar von etwelcher Bedeutung. Nach eventueller Kündigung des Luftverkehrsabkommens ist indessen keinerlei Zusammenbruch des Flugverkehrs zu befürchten. Sehr viele Fluggesellschaften fliegen die Schweiz gerne an. Und die früheren, vor Abschluss des Luftverkehrsabkommens mit den europäischen Staaten einzeln abgeschlossenen Abkommen sind für Schweizer Fluggesellschaften noch immer gültig.

Wollte die EU dem Schweizer Luftverkehr vorsätzlich Schaden zufügen, wäre die Lufthansa-Tochter Swiss am stärksten betroffen. Ob Deutschland das zulassen würde?  

Forschung 
Inhalt: Schweizer Forscher und Firmen können sich an Forschungsprogrammen der EU beteiligen und davon wissenschaftlich, technologisch und wirtschaftlich profitieren – allerdings zu hohen Kosten.   

Beurteilung: Im internationalen Vergleich belegen unsere Hochschulen (ETH Zürich, ETH Lausanne) Spitzenplätze. Sie sind zusammen mit britischen Universitäten, die bald die EU verlassen werden, in Europa einsame Spitze, arbeiten am häufigsten aber mit amerikanischen Hochschulen zusammen. EU-Hochschulen ziehen aus der Schweizer Spitzenstellung hohen Gewinn. Würde die Schweiz von der EU ausgeschlossen, könnte sie die dadurch eingesparten Beitragskosten an EU-Programme auf schweizerische Forschungsprojekte konzentrieren und resultatorientiert einsetzen. 

Fazit   
Die Schweiz könnte, käme die Guillotine-Klausel je zur Anwendung, ohne grosse Probleme auf die Bilateralen I verzichten. Die Beibehaltung der Personenfreizügigkeit verursacht ihr weit mehr Nachteile als ein eventueller Wegfall der Bilateralen I.

Von zentraler Bedeutung ist dabei: Das Freihandelsabkommen von 1972, das sowohl der Schweiz als auch der EU den Zutritt zum Binnenmarkt der Vertragspartnerin garantiert, untersteht ebenso wenig der Guillotine-Klausel wie weit über hundert weitere bilaterale Abkommen zwischen Brüssel und Bern.

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang: Die Schweiz bezieht deutlich mehr Produkte und Dienstleistungen aus der EU, als sie dorthin exportiert. Die Schweiz ist also Kundin gegenüber der EU. Notabene  - keineswegs eine Selbstverständlichkeit -  eine zahlungsfähige Kundin. Auf der Kundenliste der EU steht die Schweiz nach den USA und China auf dem dritten Platz. Sie ist, obwohl viel kleiner als die EU, so Kundin von Gewicht.       

»Am Abend der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative«, so eine Notiz der NZZ vom 6. Dezember 2017, »wurde Angela Merkel gefragt, ob die EU nun die übrigen bilateralen Verträge fallenlassen würde. Sie sagte: Wir lassen doch nicht Verträge fallen, die wir in unserem Interesse abgeschlossen haben.