Feindbild Russland

d.a. Im Januar dieses Jahres hielt Prof. Dr. Albert A. Stahel vom Institut

für Strategische Studien in Wädenswil fest, dass der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, am 31. Dezember 2015 die neue nationale Sicherheitsstrategie und -konzeption in Kraft gesetzt hat. »Dank der Einheit in der russischen Gesellschaft, der sozialen Stabilität, dem Zusammenwirken zwischen allen Ethnien und der religiösen Toleranz in Russland können die verschiedenen Bedrohungen abgewehrt werden.« Ferner heisst es: »Durch die Bestimmung eines umfassenden Sicherheitsbegriffes und der Gegenüberstellung mit dem gesamten Spektrum der Bedrohung werden die strategischen Massnahmen und Handlungen für das Erreichen der Sicherheit, so für den Bereich der Verteidigung und der Streitkräfte, erstellt. Diese neue Sicherheitskonzeption der Russischen Föderation stellt eine wirkliche Herausforderung für die USA, ihr NATO-Bündnis und die EU dar. 

Die Sicherheit Russlands wird durch die NATO bedroht
denn das Bündnis verlegt seine militärische Infrastruktur zunehmend in die Nähe der russischen Grenzen. Eine weitere Herausforderung für Russland stellt das amerikanische Raketenabwehrsystem in Europa, im Mittleren Osten und im westlichen Pazifik dar. Damit schafft die USA die Voraussetzungen für die Implementierung ihrer global strike-conception, die den Einsatz von konventionellen Gefechtsköpfen innert Stunden auf der gesamten Welt vorsieht. Zum Bedrohungs- und Gefahrenspektrum gehören für die Russische Föderation auch die Lage in der Ukraine, der Terrorismus, Organisationen wie der Islamische Staat und die Proliferation von Nuklearwaffen. Auch der Einsatz der Kommunikation gegen Russland, die illegale Migration, der Menschenhandel, die Organisierte Kriminalität und die Knappheit an Trinkwasser werden zum Spektrum der Bedrohung gerechnet.  [1]  Ende Januar bot Putin die Zusammenarbeit mit Europa an; das zweiteilige, in der Bildzeitung vom 11. und 12. 1. veröffentlichte Exklusivinterview mit Putin stellte eine energische Intervention zur Kriegsvermeidung in Europa und gegen die Geopolitik dar. In diesem beschreibt Putin die von deutscher Seite voll und ganz unterstützten Zusagen gegenüber der Sowjetunion zur Zeit der Wiedervereinigung, die garantieren, dass die NATO nicht nach Osten ausgeweitet wird. Indessen ist das Gegenteil eingetreten. Hinzu komme, dass die USA trotz der Fortschritte bei der Einigung mit dem Iran eine Raketenabwehr in Europa stationiert. Im zweiten Teil des Interviews räumt Putin ein, dass der Ausschluss Russlands aus der G-8 zwar ein Verlust sei, dass Russland jedoch weiterhin hochrangige Treffen mit der G-20, APEC und BRICS hat. Soweit die Sicht Russlands.

Wenn immer es darum geht, Putin selbst, seinen Regierungsstil und seine Ziele zu verunglimpfen, so ist die Findigkeit Washingtons, des Westens und der Medien schlichtweg nicht zu überbieten, was aus den folgenden, im Verhältnis zur Vielfalt der ausgesprochenen Verleumdungen zahlenmässig geringen Beispielen hervorgeht:

Philip Breedlove, bis Mai 2016 Chef der United States European Command (USEUCOM) mit Sitz in Stuttgart, und NATO-Oberbefehlshaber, erklärte am 28. Januar: »Laut dem Bericht des Europäischen Kommandos der US-Streitkräfte soll 2015 eines der schwierigsten Jahre seit dem Ende des Kalten Krieges gewesen sein. In diesem wird Russland als Aggressor in Osteuropa beschrieben; das Land sei daher neben dem internationalen Terrorismus als grösste Gefahr für Europa zu sehen. Man werde bei der neuen Strategie den Fokus verstärkt auf Russland, den Terrorismus und die Migration legen. Mit neuen Militärmissionen wolle man den Frieden, die Freiheit und die Prosperität in Europa sichern.« »Die Tatsache, dass die USA und der Westen mit ihrer unverantwortlichen Politik für diese Gefahren selbst verantwortlich sind«, vermerkt hierzu Christian Saarländer, »wird dabei natürlich nicht erwähnt.«  [2]  Als Grund für die zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer europäischen Verbündeten im Finanzjahr 2017 geplanten 3,4 Milliarden $ nannte Obama Anfang Februar aggressive Handlungen seitens Russlands an der Grenzen der Militärallianz. General Hans-Lothar Domröse, ehemaliger General des Heeres der Bundeswehr und bis 4. März 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command in Brunssum, Holland, trug bezüglich des Syrienkriegs Anfang Februar in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt eine, gelinde gesagt, recht abstruse Sicht vor: »Es macht uns vielmehr grosse Sorge, dass Russland im Syrien-Konflikt bisher zweimal seine Stärke demonstriert hat. Wir haben gesehen, dass ein russisches Kriegsschiff Marschflugkörper aus dem Kaspischen Meer bis in den Irak hineingeschossen hat. Zudem hat ein russisches U-Boot, das auf der Höhe Zyperns lag, dieselben Geschosse in Richtung Syrien geschickt. Das war militärisch beides nicht notwendig. Es war eine Machtdemonstration. Yes we can, war Putins Botschaft. Wenn man vom Kaspischen Meer aus den Irak erreicht, dann kommt man auch nach Berlin, London oder Paris.« Die Welt: Wie soll die NATO darauf antworten? Domröse: »Wir müssen die Abschreckung erhöhen und gleichzeitig mit Russland reden. Auch wenn sich Präsident Putin nicht an internationale Verträge hält.«  [3]  Wer sich hier nicht an vertragliche Vereinbarungen hält, ist die NATO und der Westen, das liegt längst vor aller Augen offen. Und mit der Bereitschaft des Westens, mit Putin zu reden, ist es bekanntlich nicht weit her!  

Auf der diesjährigen Sicherheitskonferenz in München im Februar hat der russische Regierungschef Dmitri Medwedew die Beziehungen zwischen Moskau und Westeuropa als neuen Kalten Krieg bezeichnet: »Wir sind in eine neue Periode des Kalten Kriegs hineingeraten. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland sind verdorben, in der Ukraine tobt ein Bürgerkrieg. Praktisch jeden Tag werden wir zur grössten Bedrohung erklärt, mal für die NATO insgesamt, mal für Europa, mal für die USA und andere Länder. »Manchmal frage ich mich, ob wir im Jahr 2016 oder im Jahr 1962 leben.« Russland, beteuerte Medwedew ferner, werde jedoch weiterhin an der Umsetzung der Friedensinitiative für das Bürgerkriegsland Syrien arbeiten. »Wir müssen einen einheitlichen syrischen Staat erhalten«. Der Zerfall des Landes dürfe nicht zugelassen werden. Die Welt könne sich kein weiteres Libyen leisten.  [4]  

Was an geradezu irren Vorwürfen herumgeistert, zeigte sich in der Eröffnungsrede zur Münchner Konferenz, die US-Senator McCain hielt: Bezüglich eines Friedensprozesses zeigte er sich skeptisch: Schuld sei Russlands Präsident Putin. Der betrachte Syrien als Übungsplatz für sein Militär und wolle so die Flüchtlingskrise in Europa verstärken, um das transatlantische Projekt zu untergraben. McCain wörtlich: »Putins Hunger hat noch zugenommen, je mehr er gegessen hat!« Des weiteren betonte er, dass der russische Präsident ehrgeizige Ziele verfolge und eine Diplomatie eingeschlagen habe, die im Dienste der Aggression stehe. Putin wolle die Flüchtlingskrise verschärfen, um die EU zu unterminieren, auch der Iran verfolge hegomonistische Ziele in der Region. Wenn Vereinbarungen Aggression belohnen, wird das den Westen viel Glaubwürdigkeit kosten, mehr Terroristen nach Syrien und mehr Angriffe auf den Westen bringen, warnte er; die Weltordnung werde attackiert, die Machtbalance gerate aus den Fugen und er befürchte eine globale Anarchie. Man müsse, so der Senator, entschlossen handeln und einen Kurswechsel vornehmen. Ein solcher kann allerdings nur dann erfolgen, wenn Washington seine mit allen Mitteln betriebene Einkreisung Russlands einstellt. Es war der Presse nicht zu entnehmen, ob einer der Teilnehmer den Mut aufbrachte, McCain mit dieser unabdingbaren Notwendigkeit zu konfrontieren. Die Rede von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg war ein einziger Angriff auf Russland; auch er warf dem Land Aggressivität und Destabilisierung der europäischen Sicherheitsordnung vor: Die NATO-Alliierten würden die illegale und illegitime Annexion der Krim nicht anerkennen. Stoltenberg ferner: Das Militärbündnis werde die Ukraine weiter dabei unterstützen, seine Souveränität und territoriale Unversehrtheit zu erhalten. Russland habe massiv Truppen entlang der ukrainischen Grenze zusammengezogen, sagte Stoltenberg nach einer Sitzung der NATO-Ukraine-Kommission. Die Separatisten in der Ostukraine würden mit Ausrüstung, Waffen und Beratern unterstützt. Auf der Halbinsel Krim setze Moskau gleichzeitig die militärische Aufrüstung fort.  [5]  Kein Wort davon, dass auch der Umsturz in der Ukraine das Werk Washingtons ist, und dass diese erneute US-Aggression in der Folge direkt zur Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation geführt hat.

Am 4. Juni gelangte dann der Inhalt des neuen, von der Regierung abzusegnenden Weißbuchs des BRD-Verteidigungsministeriums über Die Welt an die Öffentlichkeit. »Der gefährlichste Aspekt«, schreiben die Deutschen Wirtschafts Nachrichten hierzu, »ist die Umkehr der deutschen Haltung zu Rußland im Vergleich zum letzten Weißbuch von 2006. Russland sei kein Partner mehr, sondern ein Rivale, wird Die Welt zitiert. »Durch seine auf der Krim und im Osten der Ukraine zutage getretene Bereitschaft, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben, stelle Russland die nach dem Kalten Krieg geschaffene europäische Friedensordnung offen infrage.« Wo hätten Washington und die NATO ihre als Demokratievermittlung getarnten Ziele nicht mit Gewalt durchgesetzt? Und wer verschiebt hier Grenzen? Doch die NATO. Nochmals: Was auf der Münchner Konferenz offen auszusprechen gewesen wäre, ist der Fakt, dass die USA durch die NATO die 1990 abgegebenen Versprechen, einen cordon sanitaire zwischen den NATO-Staaten und Russland zu belassen, überall im europäischen Raum klar gebrochen hat. Heute stehen die Stützpunkte der NATO resp. der USA überall vor den russischen Eingangspforten - von den baltischen Staaten bis zur Türkei. Jedenfalls wird Russland des Einsatzes hybrider Instrumente zur gezielten Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden und einer subversiven Unterminierung anderer Staaten beschuldigt.  [6]  Man sollte meinen, dass bei der Drucklegung des Weißbuchs die Länder verwechselt wurden, denn die beiden letzten Punkte treffen nicht etwa auf Russland, sondern unwiderlegbar auf die USA zu. So musste auch der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General Petr Pavel, am 21. Juni in einer Pressekonferenz zugeben, dass die Aufrüstung im Baltikum und in Polen nicht durch eine reale russische Aggression zu begründen ist. Und General Harald Kujat, früherer Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, sagte in einem Radiointerview Anfang Juli, in Krisenzeiten wie diesen wirkten militärische Massnahmen immer als Eskalation. Besser wäre ein Dialog mit Russland zur Lösung der zahlreichen Konflikte auf der Welt. Kujat spricht damit für einen Konsens unter den deutschen Militär- und Strategieexperten, die überzeugt sind, dass der Konflikt mit Russland vom Westen ausgeht und unnötig ist, und dass eine Eskalation in einer nuklearen strategischen Machtprobe enden könnte.  [7] 

So erklärte denn auch Medwedew in München, dass die Zerstörung des einheitlichen Wirtschaftsraumes und der europäischen Identität sowie der Zerfall der Schengen-Zone aufgrund des unkontrollierten Andrangs von Flüchtlingen eine echte Gefahr geworden sei: »Es ist die reale Gefahr entstanden, dass der einheitliche Wirtschaftsraum, der nach Kriegsende jahrzehntelang mit so grosser Mühe geschaffen wurde, zerstört wird. Und anschliessend der kulturelle Raum und sogar die europäische Identität selbst.« Gleichzeitig warnte er vor einer Konfrontation und sprach sich betont für eine Konsolidierung von Russland und dem Westen aus.

Feindbild Russland
Nun hat der Wiener Historiker und Publizist Hannes Hofbauer im März 2016 sein neues Buch Feindbild Russland – Geschichte einer Dämonisierung im Promedia Verlag veröffentlicht; das hierzu von Zeit-Fragen mit Hofbauer geführte Interview hält folgendes fest:

»Aktuelle Situationen sind besser begreifbar,  wenn man die Geschichte der jeweiligen Entwicklungen darstellt« 

Hofbauer: Ich beschäftige mich schon länger mit Osteuropa, insbesondere auch mit der Situation in der Ost-Ukraine seit der Gründung der unabhängigen Ukraine im Jahr 1991. Die für mich entscheidende Zäsur war im November 2013, als beim Gipfel der Europäischen Union in Vilnius das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine unterschrieben werden sollte. Kiew hat dann relativ überraschend, wohl aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft, nicht unterschrieben, und Brüssel hat diese Haltung ignoriert. Ich habe mir damals gedacht: Da geht es jetzt nicht mehr nur um die Ukraine, sondern mit der aggressiven westlichen Politik ist Russland gemeint. Brüssel hat das «Njet» von Janukowitsch nicht akzeptiert. Das war für mich der Punkt, an dem ich dachte: Jetzt ist der Zeitpunkt, um über die Ukraine hinauszudenken, jetzt muss man über die Beziehungen zwischen dem Westen – insbesondere der EU, und später den USA – zu Russland nachdenken.

Wie sind Sie darauf gekommen, dass diese Reaktion gegen Russland gerichtet war? Weil die Assoziierungsabkommen auf die Zollunion gezielt haben, die zwischen Russland, Weissrussland, Kasachstan mit der Ukraine als assoziiertem Mitglied bestanden hat. Dieses westliche Instrument der Erweiterung, der Heranführung der entsprechenden Länder an die Wirtschafts- und Militärstrukturen der EU stand dem Projekt einer Integration unter russischer Führung diametral entgegen. Es betraf ja nicht nur die Ukraine, sondern auch fünf andere ehemalige sowjetische Republiken. Janukowitsch selbst meinte, er wolle die Ukraine als Brücke zwischen Ost und West verstehen und nicht nur in eine Richtung tendieren. Das hat Brüssel nicht anerkannt.

Worum geht es in Ihrem Buch Feindbild Russland?  
Ich sehe mir insbesondere die letzten 20 Jahre an, um zu erklären, warum es im Jahr 2000 und danach wieder zu dieser Feindbild-Wahrnehmung gekommen ist, obwohl ja in Westeuropa während der 90er Jahre eine völlig andere, positive Rezeption Russlands bestand. Es fällt auf, dass Jelzins Politik für die Russländische Föderation eine zerstörerische Funktion hatte, die dazu geführt hat, dass Privatisierungen in wilder Manier durchgeführt worden sind. Russland wurde auch territorial zersplittert, Republiken und autonome Regionen bekämpften sich. Der Staat befand sich in Auflösung. Diesen Befund würde heute fast jeder in Russland teilen, und mittlerweile sehen das auch sehr viele Leute im Westen so. In der Phase zwischen 1991 und 1999 ist Russland gerade wegen dieser katastrophalen Politik Jelzins in Westeuropa und den USA positiv dargestellt worden. Mit der Machtübernahme Putins hat sich das geändert. Meiner Meinung nach deswegen, weil Putin gleich am Anfang seiner Amtszeit klargestellt hat, das Land konsolidieren zu wollen, sowohl administrativ als auch in bezug auf die Ökonomie. Er brachte den Staat zurück auf die Bühne und versuchte, gegen die ganz wilde Privatisierung vorzugehen. Das ist bisher allerdings nur mangelhaft gelungen. Im Westen stiess die Putinsche Konsolidierung von Anfang an auf Skepsis und später auf Widerstand, bis hin zu dem, was wir heute haben – eine Feindbildgeschichte. 

Was hat Sie dazu bewogen, die ganze Geschichte des Feindbildes darzulegen? Sie beginnen ja Ihr Buch im 15. Jahrhundert, beim Zarenreich, und gehen bis in die heutige Zeit.
Das hat mit meiner Ausbildung als Historiker zu tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass aktuelle Situationen besser begreifbar sind, wenn man die Geschichte der jeweiligen Entwicklungen darstellt. Insofern ist es relativ logisch, dass man an die Wurzeln des Feindbildes Russland geht, dorthin, wo es seine Ursprünge hat. So bin ich im Zuge meiner Recherchen auf die Zeit des späten 15. Jahrhunderts gekommen, in die Jahre zwischen 1470 und 1480, als Iwan III. das Zarentum etablierte und die Tatarenoberherrschaft abschüttelte. Auf dem Weg zur Ostsee ist der Zar auf den Deutschen Orden und die polnisch-livländische Union gestossen. Und begleitend zu dieser durchaus geopolitisch konfrontativen Situation war sofort von polnischen und deutschen Philosophen eine Feindbildzuschreibung zur Hand. Der Krakauer Philosoph Johann von Glogau hat dann das Wort vom halbasiatischen, barbarischen, schmutzigen Russen geprägt, welches sich als Stereotyp über die Jahrhunderte gehalten hat.

Sie haben gesagt, dass das Zurückdrängen der Privatisierung der Jelzin-Ära in Russland nur mangelhaft gelungen ist. Heisst das, dass das noch nicht abgeschlossen ist oder dass die Kreise, die eine Privatisierung vorantreiben, nach wie vor stark wirken? 
Es gibt eigentlich nur eine wesentliche Branche, die für Russland von grosser Bedeutung ist, nämlich den Energiesektor, in der diese wilde Privatisierung eingedämmt worden ist. Unter anderem durch die Verhaftung von Michail Chodorkowski im Oktober 2003, als der Kreml klarmachte, dass kein amerikanisches Kapital in diese Branche eindringen soll. Es war nämlich die Absicht von Chodorkowski, seinen Yukos-Konzern an Exxon Mobil zu verkaufen. Dem ist mit seiner Verhaftung ein Riegel vorgeschoben worden, und die ganze Branche ist heute wieder mehr unter staatlicher Kontrolle. Ansonsten ist Russland nach wie vor in weiten Teilen eine Oligarchen-Ökonomie, und man kann überhaupt nicht davon reden, dass die Privatisierung zurückgedrängt wird. In einzelnen Bereichen gibt es staatliche Anstrengungen, zum Beispiel bei der Infrastruktur, aber die Oligarchen haben im grossen und ganzen weiter freies Feld.

Der Verhaftung Chodorkowskis folgte im Westen ja eine deutlich wahrnehmbare Änderung der Stimmung gegenüber Russland.  
Ja, absolut, das war für Amerika nicht hinnehmbar. Es ist ja um den amerikanischen Konzern Exxon Mobil gegangen. Der damalige US-Vizepräsident Dick Cheney war selbst in die Verhandlungen involviert, und Putin persönlich ist nach Washington geflogen, um zu signalisieren, dass ohne Einverständnis auf hoher politischer Ebene ein solcher Deal nicht über die Bühne gehen könne. Nach der Verhaftung von Chodorkowski haben die Amerikaner extrem aggressiv reagiert und gemeint, es sei kein Verlass mehr auf Russland, das private Kapital sei nicht geschützt. Obwohl natürlich gesagt werden muss, dass in strategisch wichtigen Branchen in jedem Land ausländischem Kapital argwöhnisch und feindselig begegnet wird.  [1]

In einem Kapitel Ihres Buches geht es um die Sanktionspolitik gegen Russland
Die Sanktionen begannen im März 2014 – parallel zum Zusammenbruch der Ukraine und der Vertreibung von Janukowitsch aus dem Präsidentenamt, der verfassungswidrigen Machtübernahme in Kiew und der Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation. Die Europäische Union und die USA sind im Gleichschritt marschiert. Am 6. März 2014 wurden Sanktionen gegen führende Persönlichkeiten erlassen, die den, wie es hiess, demokratischen Prozess in der Ukraine unterminieren, eine sehr beliebige Ausdrucksweise für das, was dort am Anfang des Bürgerkrieges stand. Kurz darauf, im April, wurden die Sanktionen ausgeweitet. Nun waren nicht mehr nur Personen betroffen, die mit Einreiseverboten, Kontosperren und so weiter belegt wurden, sondern auch Unternehmen und ganze Branchen. Insbesondere drei Branchen sind mit westlichen Sanktionen konfrontiert: Militärgüter, Produkte, die mit der Erdöl- und Erdgasförderung zu tun haben, nicht jedoch die Erdgaslieferung selbst, und der Bankensektor. Im August desselben Jahres 2014 reagierte Russland mit Gegensanktionen im Agrarsektor. Das betrifft fast ausschliesslich die Länder EU-Europas, weil die Amerikaner mit Russland kaum entsprechende Wirtschaftskontakte haben.

Nochmals grundsätzlich zu Ihrem Buch, zum Thema Feindbilder. Im Buch stellen Sie die Ereignisse ja immer im geostrategischen Zusammenhang der Beziehungen zwischen EU und Russland dar. Sind Feindbilder immer mit einer politischen Zielrichtung, als politisches Instrument geopolitischer, strategischer Ziele zu sehen? 
Feindbildern gehen Feindschaften voraus, begleiten sie im historischen Kontext und bereiten die Heimatfront auf eine mögliche grössere Auseinandersetzung vor, wenn man das etwas überspitzt formulieren will. Das ist ja das Gefährliche daran, insbesondere auch, weil die Trennlinie quer durch Europa geht. Diejenige Kraft, die das besonders betreibt, zumindest seit der Kiewer Maidan im Februar/März 2014 gewalttätig geworden ist, sind die USA. Das muss klargemacht werden: Wie ökonomisch expansiv diese Assoziierungsabkommen der EU auch waren, so ist es die US-amerikanische Politik, die derzeit ein geopolitisch höchst gefährliches Spiel spielt, gefährlich auch deshalb, weil Washington bei den Sanktionen kaum etwas zu verlieren hat. Der wirtschaftliche Austausch zwischen Russland und der EU lag vor dem Embargo im Bereich von 30–40 % aller Ex- beziehungsweise Importe, während er mit den USA im Bereich von 2–3 % liegt. Das heisst, alles, was sich auf dieser Wirtschaftskriegsebene abspielt, betrifft die Amerikaner kaum, insofern können sie auch viel aggressiver sein. Ich ziehe daraus auch den Schluss, dass es von amerikanischer Seite her nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen die EU geht.

Wie kann man diesem Feindbild entgegenwirken? 
Mit Information und Aufklärung, und die ist nicht vergebens, weil die Medien, die das Feindbild in die Haushalte tragen, in den vergangenen Jahren einen extremen Glaubwürdigkeitsverlust hinnehmen mussten. Ich spreche hier von den meinungsbildenden Medien. Die Menschen informieren sich immer mehr über andere Wege, über alternative Medien. Man sieht ja, dass zum Beispiel die Sanktionspolitik keinen massenhaften Zuspruch in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat. In der Schweiz sowieso nicht, denn sie macht ja bei den Sanktionen nicht mit, und das ist schon mal ein gutes Zeichen. Im Volk ist das  Feindbild Russland weniger verankert als bei den Eliten. Aber auch die Eliten sind gespalten. Zum Beispiel gibt es in Deutschland Unternehmerkreise, die genau sehen, wie sie sich mit den Sanktionen ins eigene Fleisch schneiden, und sie deshalb ablehnen.

Wie wird dieses Russlandbild von den Menschen in Russland wahrgenommen? Ist es dort bekannt, wissen diese, wie in den westlichen Medien über Russland geschrieben wird?  
Absolut, das wird sehr wohl reflektiert. Am Anfang, also unmittelbar nach dem Beitritt der Krim zur Russländischen Föderation, ist man dem Vorgang mit etwas Unverständnis begegnet, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass sich dieser zu einer solchen Krise ausweiten könnte. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Russland-Bashing schon lange davor eingesetzt hatte, nämlich schon 1999 beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schon damals verschlechterte sich die Beziehung zwischen dem Westen und Russland. Die Mehrheit der Menschen in Russland hat damals aber auch miterlebt, wie der Kosovo aus Jugoslawien herausgelöst wurde, und war dagegen. Viele Staaten haben den Kosovo als eigenständiges Land anerkannt, andere jedoch nicht; sogar in der EU gibt es fünf Länder, die die Staatlichkeit Kosovos nicht anerkennen. Heute ist es umgekehrt. Russland hat sich einen Teil der Ukraine, die Krim – die Geschichte der Krim wäre noch extra zu behandeln – ins eigene Staatsgebiet einverleibt, und plötzlich steht man vor einer grossen militärischen Auseinandersetzung. Das war für die Menschen in Russland kaum zu verstehen, warum deswegen international so grosse Aufregung besteht. Die Think Tanks in Moskau sind interessanterweise sehr gut auf dieses Szenario vorbereitet und diskutieren die Folgen der Sanktionen offen. Es gibt einige, die eher der Meinung sind, Russland müsste sich einem eurasischen Projekt annähern, und die Vorstellung von einem Wirtschaftsraum, der von Lissabon bis nach Wladiwostok geht, in einen Integrationsraum ändern, der von Brest Litowsk bis nach Schanghai reicht. Dann gibt es wieder andere Institute, die sagen, ohne die EU könne Russland ökonomisch nicht überleben. Diese haben allerdings die nicht unberechtigte Angst, die EU könne eventuell ihre Integrationsversprechen nicht einhalten, unabhängig von den Sanktionen, weil die EU selbst am Scheideweg steht und es nicht klar ist, ob es sie überhaupt noch länger in dieser Art geben wird.  [8]

 

[1]  http://strategische-studien.com/2016/01/20/russlands-neue-umfassende-sicherheitskonzeption/ 
20. 1. 16  
[2] 
https://www.contra-magazin.com/2016/01/neue-europa-strategie-usa-epressen-europa-mit-der-russischen-gefahr/  28. 1. 16  Christian Saarländer
[3]  http://www.welt.de/politik/ausland/article151805608/Nato-General-besorgt-ueber-russische-Machtdemonstration.html   4. 2. 16  Interview mit NATO-General Hans-Lothar Domröse  
[4]  http://bazonline.ch/ausland/europa/Wir-sind-in-einem-neuen-Kalten-Krieg/story/10519474  
13. 2. 16 

[5]  http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/06/15/nato-fordert-von-russland-abzug-von-truppen-aus-der-ukraine/   15. 6. 16 
Nato fordert von Russland Abzug von Truppen aus der Ukraine    
[6]  http://deutschewirtschafts-nachrichten.de/2016/06/06/merkelerklaert-russland-zum-rivalen-von-deutschland/   6. 6. 16
[7]  Strategic Alert Jahrgang 29, Nr.27 vom 6. Juli 2016
[8]  http://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2016/nr-15-5-juli-2016/feindbild-russland.html  Zeit-Fragen Nr. 15 vom 5. Juli 2016
Das Interview führten Eva-Maria Föllmer-Müller und Erika Vögeli