»Wir müssen klarmachen, dass ein EU-Beitritt nicht infrage kommt«

Das Beitrittsgesuch der Schweiz lagert bekanntlich seit 23 Jahren in Brüssel

und wird in der kommenden Woche auch Gegenstand der Debatte des Nationalrats über das Verhältnis zur EU sein. Doch während es in all den Jahren im EU-Hauptquartier unbearbeitet Staub ansetzte, schreibt die Basler Zeitung, ist das Papier hierzulande omnipräsent. »Schon die knappe bundesrätliche Entscheidung, das Gesuch nach Brüssel zu entsenden, hatte im Mai 1992 für heftige Kontroversen gesorgt. Als das Stimmvolk ein halbes Jahr später Nein zum EWR-Beitritt sagte, war die Konsternation über die nunmehr vertrackte Europapolitik gross.« Seither hat das Parlament regelmässig über Vorstösse abgestimmt, die einen Rückzug des Gesuchs fordern und dem Anliegen jedes Mal eine Absage erteilt. Nach dem EWR-Nein sei das Beitrittsgesuch gegenstandslos geworden: »Das Beitrittsgesuch beeinflusst die Verhandlungen mit der EU in keiner Weise, und dessen Rückzug brächte der Schweiz keinen Nutzen.«

Der SVP-Nationalrat Lukas Reimann beurteilt das anders, wie er gegenüber der
BaZ in dem nachfolgenden Interview erläutert.  

Mit Ihrer Rückzugsforderung, so die BaZ, betreiben Sie Symbolpolitik.Wenn das Beitrittsgesuch wirklich gegenstandslos wäre, könnte es ja problemlos zurückgezogen werden. Äusserungen von EU-Politikern zeigen, dass das Gesuch in Brüssel zu Irritationen führt: Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative sprach zum Beispiel der luxemburgische EU-Abgeordnete Frank Engel von einem faktischen Austritt der Schweiz aus der EU. Andere Stimmen bezeichneten das Volksverdikt als Abbruch der Annäherung an die EU.

Aber die EU betrachtet die Schweiz gar nicht als potentielles Beitrittsland. Wir haben keinen entsprechenden Status.
Und trotzdem hört man immer wieder Äusserungen, die den gegenteiligen Eindruck erwecken. Viele Politiker in Brüssel denken, dass die Schweiz früher oder später ohnehin der EU beitreten wird. Mit dem offiziell deponierten Gesuch bestätigen wir diese Ansichten. Wir müssten darum eindeutig klarmachen, dass der Beitritt nicht infrage kommt und auch keine Option ist.

In den letzten Jahren scheiterten bereits mehrere Vorstösse zum Thema. Warum versuchen Sie es gerade jetzt erneut, mitten in einer europapolitisch heiklen Phase?
Das hat zwei Gründe. Zum einen hat auch Island das EU-Beitrittsgesuch formell zurückgezogen, ohne dass das zu Problemen geführt hätte. Im Gegenteil: Die EU hat das zur Kenntnis genommen und akzeptiert. Zum anderen würde der Rückzug die Position der Schweiz in den   zugegebenermassen schwierigen Verhandlungen stärken. 

Inwiefern?  
Ein Land geht anders in Gespräche, wenn es als unabhängig gilt, als wenn es formell Mitglied des Verhandlungspartners werden möchte. Nur so würden wir auf Augenhöhe verhandeln. Wer hingegen formell beitreten will, muss sich auch an die Beitrittsbedingungen der EU-Organisation halten. Würde diese Frage geregelt, würde auf beiden Seiten Klarheit über das Verhältnis herrschen.

Nun wird Ihr Vorstoss in einem Wahljahr debattiert. Mit dem aufgewärmten Anliegen will die SVP doch nur um Wählerschaft buhlen.  
Wir greifen damit ein grosses Anliegen vieler Menschen in diesem Land auf. Dass wir dies zum wiederholten Mal tun, zeigt, dass wir beharrlich am Thema dranbleiben. Die Mitgliedschaft steht noch immer im Raum, und wir wollen das auch im Inland klären. Diese Diskussion wäre auch für den Bundesrat und die anderen Parteien eine Chance, für die Wähler ein Zeichen zu setzen, dass sie nicht in die EU wollen. Die EU-Lobby unternimmt doch alles, um zu verhindern, dass das Thema vor den Wahlen debattiert wird. Der Wähler hat aber ein Recht zu wissen, was Sache ist. 

In der Schweiz denkt zurzeit keine Partei ernsthaft über einen Beitritt nach. Selten herrschte in dieser Frage so grosse Einigkeit. Warum braucht es dann diese Diskussion? 
Offiziell denkt zwar niemand darüber nach, das stimmt. Aber inoffiziell schon. Das zeigt die Arbeit im Parlament: Sobald die EU ein Gesetz ändert, fordern Politiker hierzulande in Vorstössen, die Schweiz solle diese Änderungen der Einfachheit halber übernehmen. Das ist eine Salamitaktik und zielt nur darauf ab, die Bevölkerung, die den Beitritt nicht will, nicht zu verärgern. Der Rückzug des Gesuchs wäre ein deutliches symbolisches Zeichen im In- und Ausland, dass wir den Beitritt nicht wollen.  

Also doch Symbolpolitik?
Das Gesuch hat hohen symbolischen Charakter. Nur so lässt sich erklären, warum es der Bundesrat nicht zurückziehen will, wenn es doch angeblich so unbedeutend ist. 

Ex-Staatssekretär Michael Ambühl hält es für schädlich, wenn Parteien, Medien und Öffentlichkeit den Bundesrat bei den Verhandlungen mit der EU nicht stützen, sondern verzettelte europapolitische Debatten führen. Was sagen Sie dazu?
Mit seinen Aussagen, die Schweiz müsste bei den Verhandlungen sachfremde Dossiers verknüpfen und selbstbewusster auftreten, hat er mir aus dem Herzen gesprochen. Nur so ist ein Kompromiss möglich. Und auch in diesem Punkt gebe ich ihm recht: Die Debatte in der Schweiz, ob wir noch einmal abstimmen sollen, schwächt unsere Verhandlungsposition massiv. Genau eine solche Abstimmung will doch die EU letztlich erreichen. Es war ein Fehler, dass wir uns nicht zuerst im Inland über einen Umsetzungsvorschlag der Masseneinwanderungsinitiative geeinigt haben, bevor wir nach Brüssel gingen.  [1]

EU verlangt bedingungslose Unterwerfung
Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über einen sogenannten Rahmenvertrag stocken. Sie waren Mitte 2014 aufgenommen worden; dies aufgrund der von der EU gestellten Forderung, dass weitere bilaterale Abkommen mit der Schweiz nur noch denkbar seien, wenn sich die Schweiz in die EU institutionell einbinden lasse. Was die EU unter institutioneller Einbindung versteht, hat sie in 5 Punkten festgehalten: 

-  Die Schweiz muss EU-Recht zu allen Sachbereichen, die in bilateralen Verträgen und Vereinbarungen zwischen Bern und Brüssel je angesprochen worden sind oder in Zukunft noch angesprochen werden, automatisch von Brüssel übernehmen – ohne Mitspracherecht

-  Die Schweiz muss bei Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung bilateraler Verträge Entscheide des EU-Gerichtshofs als nicht anfechtbar anerkennen.

-  Kann die Schweiz einen Entscheid des EU-Gerichtshofs nicht übernehmen, zum Beispiel wegen eines anders lautenden Volksentscheids in der Schweiz, dann muss sie Sanktionen, also Strafmassnahmen seitens der EU, hinnehmen.     

-  Die EU verzichtet zwar künftig auf Forderungen nach einzeln von der Schweiz zu bewilligenden Kohäsionszahlungen [Entwicklungshilfeleistungen an wirtschaftsschwache EU-Mitglieder im Osten]. Stattdessen müsse die Schweiz Jahresbeiträge an die EU entrichten.  

-  Die Schweiz hat ein von der EU eingesetztes Überwachungsorgan zu akzeptieren, das, mit Sitz in der Schweiz, zu beaufsichtigen habe, ob die Schweiz Verpflichtungen, die sie gegenüber Brüssel vertraglich eingegangen ist, auch einhält.  

Kürzlich hat Brüssel eine schon früher geäusserte Drohung bekräftigt: Sie versagt sich allen Gesprächen zu irgendwelchen denkbaren Sachbereichen, solange Bern die institutionelle Einbindung gemäss den Vorstellungen der EU nicht endlich akzeptiere. Seither verharren die Verhandlungen auf dem toten Punkt.  [2]

Sommaruga anerkennt Brüssel als Weisungsgeberin 
Angesichts des Ausmasses der illegalen Einwanderung via Mittelmeer haben sowohl Schweizer Hilfswerke als auch Parlamentarier Justizministerin Sommaruga die Forderung unterbreitet, Asylgesuche bereits in den Schweizer Botschaften in den Herkunftsländern der Gesuchsteller zu behandeln. Dieses System hat den Vorteil, dass Gesuchsteller, deren Gesuche abgelehnt werden, nicht bereits in der Schweiz sind und nach Gesuchsablehnung kaum mehr zur Ausreise veranlasst werden können. Fällt der Entscheid im Herkunftsland der Gesuchsteller, fallen alle Ausweisungs-Schwierigkeiten weg. Was unternahm hierauf Simonetta Sommaruga, ihres Zeichens Schweizer Bundesrätin, mit dieser an ihre Adresse gerichteten Forderung? Sie begab sich damit eilends nach Brüssel. Dort wurde ihr offenbar kategorisch beschieden, dass die Behandlung von Asylgesuchen auf Schweizer Botschaften in den Herkunftsländern der Gesuchsteller nicht infrage komme. Mit dieser Antwort in der Tasche eilte die Bundesrätin nach Bern zurück, wo sie sie brav nach Brüsseler Anweisung an die Urheber der Forderungen weiterleitete. Wofür braucht die Schweiz eigentlich noch gut bezahlte Bundesräte, wenn sich diese selbst zu Briefträgern Brüssels abwerten?  [3]  

Der »Club Helvétique«    
legt Grossrat Patrick Freudiger dar, ist eine illustre Schar linker oder linksliberaler Intellektueller und Politiker. Dazu gehören etwa der Historiker Georg Kreis, der Soziologe Kurt Imhof, alt Bundesrichter Giusep Nay, der Berner SP-Ständerat Hans Stöckli oder die grüne alt Nationalrätin Cécile Bühlmann. Auch in seinem aktuellen Thesenpapier positioniert sich der Club unhelvetisch links: Ein EU-Beitritt der Schweiz sei ein »geeigneter, wenn nicht sogar der Königsweg zur Schaffung verlässlicher langfristiger Perspektiven für Wirtschaft und Bevölkerung.« Auch der Nutzen unseres Frankens  - in den Augen des Clubs einer »eigenen, nur scheinbar unabhängigen und unberechenbar gewordenen Währung« -  wird angezweifelt. Schon der Inhalt der Forderungen an sich, aber erst recht deren Zeitpunkt, irritieren: Die EU ist in einer Krise. Wie auch die EU-Parlamentswahlen diesen Mai gezeigt haben, hat die politische Elite in den Augen vieler Bürger den europäischen Einigungsprozess übersteuert. Ursprünglich sollte die EU zum Frieden auf dem Kontinent beitragen. Heute aber erlässt sie europaweite Vorschriften für die Verbraucher oder z.B. zur Errichtung eines Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen. Es ist nicht einzusehen, was dieser bürokratische Zentralismus noch mit einem Friedensprojekt zu tun haben soll. Die Europäer von heute sind der heutigen EU überdrüssig.  

Erst recht nicht nachvollziehbar ist die Forderung des »Club Helvétique«, einen Beitritt zur Euro-Zone zu prüfen: Die letzten Monate haben die Untauglichkeit des Euros schonungslos offengelegt. Die Einheitswährung macht Krisen in einzelnen Euro-Staaten zur Bedrohung für den ganzen Euro-Raum. Das Sorgenkind Griechenland will zudem die eingeleiteten überfälligen Strukturreformen wieder relativeren. »Intellektuelle neigen immer zu Spinnereien«, sagte einst der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Man muss das harte Verdikt nicht gleich wortwörtlich auf die Intellektuellen im »Club Helvétique« anwenden. Aber der eigentliche Gedanke hinter Schmidts Intellektuellenkritik trifft im Fall des Clubs zu: Intellektuelle neigen dazu, fernab der Realität des wirtschaftlichen und politischen Alltags Theorien zu entwickeln, die einem Praxistest nicht standhalten. 

Mit dem gebotenen Respekt sei dem Club also geantwortet: Es ist das Privileg von Intellektuellen, das Undenkbare zu denken und unkonventionelle Theorien zu präsentieren. Demgegenüber ist es das Privileg der Stimmbürger, abgehobene Theorien nicht weiter beachten zu müssen.  [4]

 

[1]   http://bazonline.ch/schweiz/standard/Wir-muessen-klarmachen-dass-ein-EUBeitritt-nicht-infrage-kommt/story/29766363  29. 4. 15 Interview mit Raphaela Birrer

[2]  http://eu-no.ch/news/eu-verlangt-bedingungslose-unterwerfung_58

Quelle: Nordwestschweiz, 28. 4. 2015

[3]  http://eu-no.ch/news/sommaruga-anerkennt-bruessel-als-weisungsgeberin_57  30. 4. 15

Quelle: NZZ vom 27. 4. 2015

[4]  Communiqué von Patrick Freudiger vom April 2015   http://www.patrick-freudiger.ch/