»Vom Großen Krieg zur permanenten Krise«

Die nachfolgenden Ausführungen über den Aufstieg der Finanzaristokratie und das Versagen der Demokratie

sind dem Buch von Marc Chesney, Professor für Quantitative Finance an der Universität Zürich und Autor verschiedener Artikel über die Gefahren, die mit der Größe und Komplexität der Finanzsphäre verbunden sind, entnommen. Chesney zieht Parallelen zwischen dem Kriegsjahr 1914 und heute. Der Zürcher Finanzprofessor zeigt auf, was bei Banken falsch läuft und wie alle Schweizer von einer Finanzsteuer profitieren würden. 

Die wenigsten von uns machen sich das Ausmaß und den Prozeß hinter den molochartigen Strukturen der Finanzgesetze klar. In einem Interview mit der Schweizer Handelszeitung mahnte der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney folgendes an: »Zwar gibt es keinen Krieg im Kern Europas zwischen Deutschland und Frankreich. Aber wir haben eine Weltkrise, die entgegen der Beteuerungen der Politik nicht vorbei ist. Weltweit sind Millionen mehr Menschen arbeitslos als kurz vor der Finanzkrise. Ein großer Teil der Bevölkerung leidet unter einem Krieg anderer Art - einem Finanzkrieg.« Chesneys Buch ist nicht nur deswegen ein Wachrüttler, weil es das Heute mit 1914 vergleicht, sondern weil es außerdem die nutzlosen riesigen Auswüchse des heutigen Finanzapparates und dessen entartete Absurdität erklärt: »Im Jahre 1914 wurden die jungen europäischen Generationen auf dem Altar der Nation geopfert. Heute, hundert Jahre später, werden sie dies auf internationaler Ebene, auf demjenigen der Finanzmärkte. Die aktuelle Krise ist nicht nur finanzieller Art. Heute, da im Finanzsektor Zynismus und Sozialisierung der Verluste oft Vorrang gegenüber Vertrauen und Verantwortung als Motor der Gewinne haben, ist die Finanzkrise das Symptom einer anderen, tieferen Krise, derjenigen der Werte unserer Gesellschaft. Tatsächlich sind mächtige Lobbys am Werk und zwingen Wirtschaft und Gesellschaft ihre gefährliche Logik auf.«

Damals wie heute sehen wir eine gebildete und zivilisierte Gesellschaft, wie z.B. in Frankreich und Deutschland in ihrer Blütezeit um die Jahrhundertwende, beide christlich geprägt und mit hohen Grundprinzipien auf der Basis der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, die in Art. 12 sagt: »Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden.« Dennoch begannen diese Länder damals einen verheerenden Krieg mit den Massenvernichtungswaffen, die ihnen zur Verfügung standen. Heute werden nicht nur die demokratischen Grundprinzipien mit Füßen getreten, wie das von Edward Snowden aufgedeckte PRISM-System zeigt, sondern der Absturz des Systems ist in vollem Gange: »Erinnert die gegenwärtige Situation so nicht eher an den Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, als die westliche Zivilisation von ihrer Vormachtstellung gegenüber dem Rest der Welt so lange überzeugt war, bis der Erste Weltkrieg ausbrach?« Die riesigen Verluste auf den Finanzmärkten beim Zerplatzen der verschiedenen Blasen der letzten Jahre sind bereits auf die Schultern der Bevölkerungen abgewälzt worden. Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen, hohe persönliche Verschuldung, werden zu Dauerthemen. Depressionen und Alkohohlabhängigkeit sind insgesamt Begleiterscheinungen von Not und Verzweiflung. Die heutige Generation wird von den Medien, die zumeist Belangloses als wichtig darstellen und wichtige Themen, wenn überhaupt, in belangloser Form abhandeln, abgestumpft. Da ihnen die Orientierung fehlt, um zu erkennen, worum es wirklich geht, erscheint ihnen die Zukunft allzu oft undurchschaubar und somit beunruhigend. Im übrigen zeigen die Statistiken schon lange nicht mehr alle Arbeitslosen: Südeuropa und besonders Griechenland sind ausgeblutet, nachdem ihnen rigorose Sparprogramme auferlegt wurden. In Spanien und in Griechenland, wo ein Drittel der Bevölkerung 2012 unter der Armutsgrenze lebte, betrug die Jugendarbeitslosigkeit für das Jahr 2013 über 50 %; in Deutschland, das noch immer als eine angeblich vorbildliche Wirtschaft dargestellt wird, leben mittlerweile 12 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. In Frankreich sind es ungefähr 8,7 Millionen, in Italien 12 %, also ca. 7,1 Millionen.

Auch nach 2007 wurde das Finanzsystem durch die Behauptung des too big to fail auf Kosten der Steuerzahler, die Opfer auf dem Altar der Kasino-Finanzwelt, gerettet. Gestern wie heute, so Chesney, sind alle Opfer erlaubt, um die mächtigen Banken gegen ihre selbstverschuldeten Risiken abzusichern, sogar die Preisgabe der Demokratie. Dadurch ist der gleiche Geist der Zerstörung in unser Denken eingezogen, wie man an Äußerungen von damals und heute sehen kann. Heute wird alles verwettet. Hinter den massiven Verlusten stecken die Existenzen von Menschen, oft von ganzen Städten und Dörfern. Auch wenn Regulierungen vielleicht oft sogar ehrlich gemeint sind, sie greifen nicht mehr. Vielfach wird aber auch, so Chesney, nur so getan, als wolle man etwas ändern. Durch geschickte Tricks lavieren sich die Banken um Regelungen herum, wie zum Beispiel die Erhöhung des Eigenkapitals, man lagert viele der Arbitragegeschäfte einfach in sogenannte Betriebsunternehmen der Bank aus. Tatsächlich ist der Finanzbereich immer größer geworden; und heute reichen »sechs Transaktionstage auf den Devisenmärkten, um den gesamten internationalen Güter- und Dienstleistungsverkehr eines Jahres abzuwickeln.« 

Als Insider ist sich Prof. Cheney sicher: Wir müssen und können aus dem Absturz heraus, da dieser sonst die gesamte reale Wirtschaft mitsamt ihrer Bevölkerung verschlingt; er muß und kann besiegt werden. Cheney zeigt in seinem Buch Lösungen auf, die sofort durchführbar wären, obwohl die meisten Politiker das Gegenteil behaupten: »Zwei Grundprinzipien braucht es, um gegen die Krise und das Krebsgeschwür, das die Gesellschaft zerfrißt, anzugehen: Erstens gilt es, die Demokratie wiederzubeleben und aus ihrer Betäubung zu holen, zweitens ist die Finanzsphäre wieder in den Dienst an Wirtschaft und Gesellschaft zu stellen.« Zu den weiteren wichtigen Maßnahmen, mit denen dies zu erreichen ist, zählt  - neben der starken Einschränkung der Bankenverschuldung und der Beschränkung der Größe der Banken -  vor allem die Trennung der Investmentbanken von den Geschäftsbanken, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 bis 1999 in den USA der Fall war, als entscheidender Schritt. »Eine solche Trennung schützt die   Kunden von Geschäftsbanken, da die Investmentbanken ihre Ersparnisse nicht länger zu Kasino-Spekulationen heranziehen können, ein Faktor, der für ökonomische Stabilität sorgt.« 

Des weiteren müssen Finanzprodukte »vor ihrer Markteinführung zertifiziert werden, damit sie bestimmte Normen einhalten, wie dies auch in anderen Branchen der Fall ist.« Des weiteren sollte der Verkauf toxischer Produkte ein Finanzdelikt darstellen. Verbriefungspraktiken, schreibt Cheney, sollten verboten werden und die Aktivitäten von spekulativen Fonds sollten stark reguliert und kontrolliert werden. Ebenso sollten Over the Counter-Transaktionen reglementiert werden. Als ganz wichtigen Schritt bezeichnet er eine einzuführende Steuer auf sämtliche elektronische Zahlungen. »Ein Steuersatz von 0,1 %«, so Cheney, »wäre im Vergleich zur Mehrwertsteuer sehr niedrig, aber dennoch sicherlich zu hoch für die Lobbyisten des Finanzsektors!«

 

Siehe hierzu
Europas hoffnungsloser Kampf gegen die Spekulanten - Von Wolfgang Effenberger

Quelle - auszugsweise:
Neue Solidarität Nr. 7 vom 1. Februar 2015 resp.
http://www.handelszeitung.ch/konjunktur/die-bevoelkerung-leidet-unter-einem-finanzkrieg-646813  »Die Bevölkerung leidet unter einem Finanzkrieg«

Marc Chesney  »Vom Großen Krieg zur permanenten Krise«, Versus Verlag
ISBN 978-3-03909-171-3  Fr. 19,90

Prof. Chesney ist Mitglied von Finance Watch www.financewatch.org und Kontrapunkt www.rat-kontrapunkt.ch, war Research Fellow am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (Collegium Helveticum www.zrwp.ch  und ist heute Mitglied in dessen Trägerversammlung.