Lohn-Dumping und die Folgen - von Maria Koch

Der schweizerische Think tank Avenir Suisse hat vor kurzem zu beruhigen versucht: Die Schweizer könnten der Personenfreizügigkeit ruhig zustimmen. Angst vor einer massenhaften Einwanderung aus dem Osten Europas müssten sie nicht haben, denn: 1. wären die Europäer sesshaft, 2. würde es mit der Wirtschaft in den neuen EU-Ländern aufwärts gehen und 3. hätten die Osteuropäer viel weniger Kinder als die Schweizer. Wenn man die Situation in den EU-Ländern kennt, reibt man sich ob solcher Verlautbarungen ungläubig die Augen.

Die Situation der polnischen und rumänischen Gurkenpflückerinnen in Niederbayern erinnert an Romane von Traven oder die Zustände in Bananenrepubliken der Dritten Welt: Viel zu lange Arbeitszeiten werden ihnen zugemutet, ein Teil des Lohnes wird ihnen vorenthalten, in überbelegten Containern müssen sie leben, und damit sie nicht weglaufen, werden ihnen die Pässe weggenommen und unter Verschluss gehalten. Elf rumänische Arbeiterinnen, die solche Zumutungen nicht mehr ertragen konnten, mussten die Polizei rufen, damit sie ihre Pässe und damit ihre Freiheit wiederbekamen. (vgl. Welt am Sonntag vom 14. August) Unmenschliche Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen
Die Zustände in deutschen Schlachthöfen erinnern an Upton Sinclairs Beschreibung der Schlachthöfe von Chicago vom Anfang des letzten Jahrhunderts. 1 Der Stern 2 berichtet: «Die Schicht in dem Schweineschlachthof in Westfalen läuft schon mehr als elf Stunden, als einige aus der rumänischen Kolonne das Tempo nicht mehr durchhalten. Sie brechen in der Tierzerlegung zusammen. Der Produktionsleiter reagiert panisch: „Die fallen mir hier um“, schreit er ins Telefon. „Andere Leute gibt es nicht“', erwidert der Vermittler, der die Männer erst vor wenigen Tagen aus Südrumänien herankarren liess. „Hau den Zigeunern in die Fresse.“ Dieses Gespräch zwischen dem Produktionsleiter und dem Rumänen-Mittelsmann hat die Oldenburger Staatsanwaltschaft aufgezeichnet. Seit 2003 liess sie Telefonate von Personalvermittlern und Schlachthofbetreibern in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen abhören.»
In deutschen Schlachthöfen arbeiten offiziell 1284 Rumänen. Nicht nur, dass diese unter den oftmals unwürdigen Zuständen leiden müssen. Noch dazu verschlechtern sie ungewollt die Arbeitsbedingungen auch für ihre deutschen Kollegen. Dem Stern erzählte Franz Garschke, ein Schlachter, der 25 Jahre lang in der Norddeutschen Fleischzentrale Rinder ausbeinte, von den Zuständen in seinem ehemaligen Arbeitsbetrieb: Eine Schicht von 27 Mann «zerlegt im Akkord 80 bis 90 Tonnen Fleisch am Tag». Diese Arbeit haben bis vor einigen Jahren deutsche Schlachter erledigt. Dann wurden sie nur noch in der Tagesschicht eingesetzt, wo sie die besseren Stücke verarbeiteten. In der Nacht stellten Polen und Rumänen das Hackfleisch her. «Seitdem sank der Lohn um fast 40 Prozent», erzählt Garschke. 25 Euro die Stunde hat er einmal verdient, jetzt bekommen die Polen 9,50 Euro. Die polnischen Fleischverpackerinnen arbeiten sogar für unter 4 Euro die Stunde. Und Garschke ist arbeitslos. Einer von 15’088 arbeitslosen Fleischern in Deutschland.3 Es muss doch ein grosses Geschäft gemacht werden, wenn das Fleisch heute zu so viel niedrigeren Löhnen verarbeitet wird als noch vor einigen Jahren. Wer verdient eigentlich daran? Wessen Wohlstand wächst bei diesem schier grenzenlosen Wirtschaftswachstum? Sicher nicht der der Arbeiter, weder der deutschen noch ihrer ausländischen Kollegen. Gesetzliche flankierende Massnahmen?
Die ausländischen Arbeitnehmer kommen über das Ticket der «Dienstleistungsfreiheit». Ausländische Firmen, Schlachtbetriebe etwa, dürfen Arbeiter in EU-Länder vermitteln. Sie müssen aber in der Heimat einen entsprechenden Betrieb, also z.B. eine Schlachterei, vorweisen. Nur: Wer überprüft das? Den deutschen Schlachthofbetreibern ist das egal. Denen geht es nur um den Profit. Wer also fährt in die Slowakei, nach Polen usw. und schaut mal nach, was hinter der angegebenen Adresse steckt? In der Regel niemand. Eine Ausnahme: Markus Dietrich von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, hat eine Tour durch die Slowakei gemacht. Er fand nur Briefkastenfirmen, höchstens einmal eine Sekretärin. Nirgends hat er eine Schlachterei gefunden. Natürlich ist das illegal, doch wo kein Kläger, da kein Richter. Und da, wo ein Kläger ist, macht es der Gesetzgeber dem Beklagten leicht. Ein Gericht in Oldenburg richtete über die Schlachthofbetreiber und Rumänenschleuser. Es wertete als strafmildernd, dass «die Taten insofern leichtgemacht» wurden, «als die Gesetzeslage einen hohen Anreiz zum Missbrauch bot». Die Rumänen, die in den deutschen Schlachthöfen für einen Hungerlohn schuften, werden infolge der Ost-Erweiterung der Union ihre Jobs vor allem an Polen verlieren. Der Oldenburger Staatsanwalt Bernhard Südbeck: «Die Dämme sind gebrochen».
Bei der EU-Ost-Erweiterung hat man versucht, Schranken zu setzen, indem man verfügte, dass nur Selbständige und Firmen ihre Dienste überall anbieten können. Das führte aber zu einem Heer von Ein-Mann-Betrieben. Laut Stern gibt es in Nordrhein-Westfalen einen Anstieg um fast 900 % selbständiger Handwerker. Davon sind 90% aus Polen. Diese bieten, oft über Leiharbeitsfirmen, ihre Dienste in zahlreichen Branchen an, unabhängig davon, welchen Beruf sie offiziell angeben. Jeder darf sich z.B. «Fliesenleger» nennen, dafür und auch für einige andere Handwerke braucht man keinen Meisterbrief.
Auch in der Baubranche sieht es düster aus, obwohl dieses Gewerbe sich offiziell erst ab 2011 in allen EU-Staaten frei bewerben darf. Es gibt Baustellen, auf denen kein deutscher Bauarbeiter beschäftigt ist, wie z.B. die «Königsbaupassage» in Stuttgart. 4 Deutsche Zimmerleute sehen sich schon gezwungen, mit ihrer ganzen Familie nach Schweden auszuwandern, in der Hoffnung, sich dort eine neue Existenz aufbauen zu können  -  das deutsche Arbeitsamt zahlt den Sprachkurs, das ist allemal billiger als das Arbeitslosengeld. Und selbst die Polen, die für viel weniger Lohn auf dem Bau arbeiten, werden durch Rumänen und Bulgaren ersetzt, wenn sie dagegen protestieren, dass die Löhne zu niedrig sind oder gar nicht ausgezahlt werden. 5 Und das, obwohl im deutschen Baugewerbe bereits der Mindestlohn gilt. Mindestlohn: Schranke für Lohn-Dumping?
In den Niederlanden gilt der Mindestlohn generell. Da sollte man meinen, die Gefahr von Lohn-Dumping sei gebannt. Wie die Wiener Zeitung berichtet, beschäftigt Van Dijck in Nord-Limburg, der grösste Produzent von Eisbergsalat in den Niederlanden, 180 polnische Saisonarbeiter. Offiziell verdienten sie schon soviel wie ihre niederländischen Kollegen. Aber sie mussten übermässig viele unentgeltliche Überstunden leisten. Die vereinbarte Zeit der Pausen wurde ihnen nicht gewährt. Einige der Pflücker sind dem Artikel der Wiener Zeitung  zufolge sogar in Ohnmacht gefallen, weil sie zu lange in heissen Gewächshäusern arbeiten mussten. Heraus kam die Sache, als einige der Arbeiter in den Streik traten, das erste Mal, dass Polen in Holland streikten. Der Anlass: Nach einer 12-stündigen Nachtschicht verlangte der Arbeitgeber von ihnen, nochmals 3 Stunden zu arbeiten. Er entliess 10 der 25 streikenden Arbeiter. Es kam zum Prozess. Der Arbeitgeber wurde zur Lohnfortzahlung verurteilt. Doch der Fall zeigt, dass Mindestlohn nicht vor krassem Missbrauch schützt, wenn erst einmal zugelassen wird, dass Menschen ihre Arbeitskraft und ihr Leben der hemmungslosen Profitgier eines globalisierten Kapitals ausliefern müssen, das keiner staatlichen Kontrolle oder Einschränkung mehr unterliegt. Das einzige, was zählt, ist der «Weltmarktpreis», der Mensch wird diesem unterworfen. Und die Schweiz?
Und die Schweiz soll von solchen Entwicklungen ausgenommen sein? Die Schweiz als eine «Insel der Seligen», die von den verheerenden Entwicklungen in den EU-Ländern unberührt bliebe, wenn sie sich mit der Annahme der Personenfreizügigkeit den unmenschlichen Gesetzen der Globalisierung ausliefert? Menschen, die keine Existenz haben und nicht wissen, wovon sie ihre Familie ernähren können, gehen überall hin, arbeiten und leben unter widrigsten Umständen, oft genug unter Einsatz ihres Lebens. Sie verlassen ihre Heimat aus Not, lieber würden sie sich im eigenen Land ernähren. Das geht dem polnischen Bauarbeiter nicht anders als der rumänischen Gurkenpflückerin oder dem deutschen Zimmerer. Die Menschen werden zu uns kommen. Und wir werden mit ihnen arm werden.
Wem ist damit gedient? Wenn wir zulassen, dass infolge der «Personenfreizügigkeit» unsere Wirtschaft, unsere direkte Demokratie und unsere Freiheit zerstört werden, ist niemandem geholfen. Aber wir können helfen. Wir könnten ein Beispiel dafür sein, dass auch ein kleiner Staat ohne Bodenschätze, mit keiner anderen Ressource als der unserer Menschen (vom Wasser einmal abgesehen), seinen Einwohnern Wohlstand und Frieden geben kann. Indem man sich nicht fremden Mächten ausliefert, sondern eigenständig seine Geschicke in die Hand nimmt und mit den Völkern rundherum und weltweit souverän Beziehungen pflegt und Handel treibt. Aber immer selbstbestimmt. Mit diesem Beispiel und tatkräftiger Hilfe vor Ort für Menschen, für Gemeinden und Kommunen, für Länder und Staaten, die sich eine unabhängige Existenz aufbauen wollen, wäre allen sicher mehr gedient.  
1 Upton Sinclair, Der Dschungel. Sinclair hatte mit der Schilderung der katastrophalen Zustände in den Schlachthöfen Erfolg: Der amerikanische Präsident Theodore Rooesevelt und der Kongress erliessen 1906 zwei Gesetze, den «Meat Inspection Act» und den «Pure Food und Drug Act». Deutschland schränkte seine Fleischimporte aus den USA durch erhöhte Zölle ein. Vielleicht müsste wieder einmal ein «Sinclair» die Verhältnisse in den Schlachthöfen offenlegen. Und diesesmal darauf bestehen, dass nicht nur die Fleischverarbeitung verbessert wird, sondern vor allem die Situation der Fleischverarbeiter, der Menschen.
2  Stern vom 25.3.2005
3 Stern vom 25.3.2005
4 Welt am Sonntag vom 17.4.05
5 Welt am Sonntag vom 17.4.2005