Das Entscheidungsjahr 1386 - Von Ulrich Schlüer

Wer sich um die Geschichte des eigenen Landes foutiert, wird prägende Wesenszüge des eigenen Volkes nie wirklich verstehen können.

1386 – das Jahr der Schlacht bei Sempach -  wurde für die damals noch in der Entstehung begriffene Eidgenossenschaft zum Jahr der entscheidenden Weichenstellung. 1386 schlug diese eine Entwicklung ein, die sie dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dem sie bis zum Westfälischen Frieden von 1648 noch angehörte, immer stärker entfremdete. 

1386 standen sich bei Sempach zwei Heere in feindlicher Absicht gegenüber: Das habsburgische Ritterheer einerseits, die auf Nahkampf bedachten Eidgenossen andererseits. Letztere waren von den 8 der damaligen Eidgenossenschaft angehörenden alten Orte gestellt worden. Die Entscheidung von Sempach war eine historische Weichenstellung, sowohl bezüglich der Waffentechnik als auch bezüglich der politischen Entwicklung.  

Die Österreicher 
Zunächst ist eine wichtige Frage korrekt zu beantworten: Wie setzte sich das damalige habsburg-österreichische Ritterheer überhaupt zusammen? Durch Eroberung, noch ausgeprägter durch überlegte Heiratspolitik, hatte sich der Wirkungskreis der Habsburger, die ihren Ursprung bekanntlich im Aargau haben, weit ins Österreichische hinein verlagert. Wien wurde zum Zentrum des Habsburger Reiches. Standen also im habsburgischen Heer vor Sempach die Bannerträger des Hochadels von Wien, von Böhmen, von Kärnten – allesamt aus dem Osten – den Eidgenossen gegenüber? Mitnichten! In der Schlachtkapelle zu Sempach sind noch heute die Banner jener Geschlechter abgebildet, die für das Haus Habsburg die Schlacht von Sempach bestritten: Da finden sich die Wappen der Herren von Seon, der Freiherren von Baldegg, der Freiherren von Wildegg sowie die zahlreicher anderer zum niederen Adel gehörender Geschlechter, die damals noch in den Diensten der Habsburger standen: Im Bernbiet, im Aargau, im Luzernischen, im Zürichbiet, in der Innerschweiz. Es standen also die Landleute aus den Vororten und den diesen bereits zugehörenden Gebieten, die damals die Eidgenossenschaft bildeten, den Adligen gegenüber, die sich im gleichen Gebiet zu behaupten versuchten.  

Kriegstaktik 
Das habsburgische Heer, das die Schlacht von Sempach bestritt, war ein klassisches Ritterheer: In schweren Rüstungen traten die Ritter auf teils ebenfalls gerüsteten Pferden an. Ihre Waffen waren die mehrere Meter langen Lanzen. So traten sie zum ritterlichen Kampf an, gleichsam einen langstachligen, aber nur schwer beweglichen Igel bildend. Diesem langstachligen Igel standen die mit kurzen Hieb- und Stichwaffen ausgerüsteten Eidgenossen vorerst ratlos gegenüber. Die Länge der Spiesse hinderte sie daran, mit den Rittern den Nahkampf aufzunehmen. Entscheidend war deshalb, dass es den Eidgenossen gelang, den kompakten Igel aufzubrechen. Mit dieser Tat ist jene Überlieferung verbunden, die im Namen Winkelried personifiziert worden ist.

Tatsache ist: Es gelang den Eidgenossen, in den Ring der Ritter einzubrechen. Von diesem Moment an waren diese Ritter, als Gefangene ihrer schweren Rüstungen und durch ihre viel zu langen Lanzen behindert, verloren. Fast hilflos fanden sie sich den ihr brutales Werk unbeirrt vorantreibenden effizienten Kurzwaffen der Eidgenossen ausgesetzt. Sempach bescherte der Kriegsgeschichte das Ende der klassischen Ritterheere. Mochten die Ritter ob des rohen Zuschlagens der eidgenössischen Kämpfer auch die Nase rümpfen, mochten sie diese der unedlen Kampfführung beschuldigen, jedenfalls erwiesen sich die Infanteriewaffen der Eidgenossen der ritterlichen Bewaffnung als weit überlegen. Die Infanterie der Eidgenossen trug den Sieg gegen die alte ritterliche Kavallerie davon.  

Wegweisender Sieg 
Die Sempacher Schlacht bewirkte auch eine politische Weichenstellung von grundlegender Bedeutung. Dies, weil die Eidgenossen, als sie mit ihren Infanteriewaffen die Oberhand gewonnen hatten, nicht innehielten, vielmehr das ritterliche Heer regelrecht niedermachten. Sie ruhten nicht, bis das habsburgische Heer nicht nur geschlagen, sondern vernichtet war. Das hatte Folgen: Der niedere Adel, der sich bis Sempach neben den Eidgenossen noch zu behaupten vermochte, wurde zu Sempach buchstäblich ausgerottet. Es gab danach auf dem Boden der Eidgenossenschaft, auf dem Boden der nachmaligen Schweiz, kein adliges Geschlecht mehr, das imstande gewesen wäre, die Herrschaft auszuüben. Die Feudalherrschaft, die Adelsherrschaft, hatte »mangels weiteren Personals« zu existieren aufgehört. Damit konnte sich auf dem Boden der Eidgenossenschaft innerhalb des deutschen Reiches eine für lange Jahrhunderte einzigartige Herrschaftsform entwickeln: Der adelsfreie Territorialstaat. Er ging von den Vororten der eidgenössischen Stände aus, insbesondere von den Städten Zürich und Bern. Diese griffen mit Erwerbungen und Eroberungen weit in die Landschaft aus. Bern wurde innerhalb des damaligen Deutschen Reiches zum grössten Territorialstaat, der nicht einer Adelsherrschaft unterstand. 

Während im Deutschen Reich die Feudalherrschaft, die Herrschaft durch die Adelshäuser, bis weit über die Zeit Napoleons hinaus überlebte, so verschwand die gleiche Herrschaftsform ab 1386 vom Boden der Eidgenossenschaft, wie gesagt: aus Personalmangel. Damit nahm diese eine völlig andere Entwicklung als das übrige Deutsche Reich, dem sie, wie schon erwähnt, völkerrechtlich noch bis 1648 angehörte, als sie im Rahmen des Westfälischen Friedens die von allen wichtigen Staaten Europas damals verbriefte staatliche Unabhängigkeit von dem im dreissigjährigen Krieg schwer geschwächten Deutschen Kaiserreich erlangte. 

Auf dem Weg zur Volkssouveränität  
Natürlich vergingen noch Jahrzehnte, noch Jahrhunderte, und natürlich kam es noch zu zahlreichen Wechselfällen, bis die in der Eidgenossenschaft 1386 durchgesetzte Selbstverwaltung auch demokratische Züge annahm. Entscheidend war, dass ab diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft nicht mehr die adlige Geburt darüber entschied, wer die politische Macht ausüben konnte; es bedurfte einer persönlichen Leistung, beispielsweise des Erfolgs als Händler oder als Kaufmann, bis jemand Regimentsfähigkeit erlangte. Dieser andere, geburtsunabhängige Weg, zu politischem Einfluss zu gelangen, verlieh der Eidgenossenschaft einen grundlegend anderen Charakter als dem im Feudalismus verharrenden Deutschen Reich. 

Auf ihrem Weg zur Selbstverwaltung musste die Eidgenossenschaft noch eine schwere Niederlage gegen Napoleon einstecken, bis dann Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem System der Selbstverwaltung die Idee der Volkssouveränität herauswachsen konnte. 1848 war es soweit – die damals verabschiedete erste Bundesverfassung des modernen Bundesstaats Schweiz schlug mit der Volkssouveränität als Kernartikel endgültig den Weg in Richtung direkte Demokratie ein.

Begonnen hatte die territoriale Selbstverwaltung 1386 nach der Schlacht von Sempach. 1648 errang die Eidgenossenschaft damit die staatliche Unabhängigkeit vom Deutschen Reich. Die Vollendung erfuhr diese Selbstverwaltung durch Verankerung der direkten Demokratie in der Bundesverfassung im 19. Jahrhundert – jener direkten Demokratie, die den Sonderfall Schweiz im heutigen Europa prägt.   


Quelle: 
http://www.schweizerzeit.ch/cms/index.php?page=/News/Entscheidungsjahr_1386-1243 
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