Scheinheilige Empörung aus Brüssel 27.05.2013 00:12
Warum die Schweiz Europas liebster Prügelknabe ist
Die
Schweiz will die Zuwanderung von EU-Bürgern beschränken – und Europa ist
empört. Doch die Aufregung der Nachbarländer ist scheinheilig und lenkt von
eigenen Fehlern und Versäumnissen ab. Den Eidgenossen geht es besser, weil sie
manches einfach besser machen.
Einmal
angenommen, jedes Jahr würden 800.000 Wirtschaftsflüchtlinge aus
allen Teilen der Europäischen Union in Deutschland Lohn und Brot suchen –
zusätzlich zu den rund 4 Millionen Polen, die in den vergangenen Jahren immer
mehr Berufe erobert haben, von der Aldi-Kassiererin bis zum Akademiker. Wie
gelassen würde die Politik reagieren? Wie verhalten wären die Schlagzeilen der
«Bild-Zeitung»?
Doch dies
sind, auf die Bundesrepublik hochgerechnet, die Grössenverhältnisse, mit denen
sich die Schweiz seit Jahren herumschlagen muss: Etwa 350.000 Deutsche
arbeiten dauerhaft in der Eidgenossenschaft, und der gesamte Zustrom aus der EU
summiert sich auf fast 1 % der schweizerischen Gesamtbevölkerung – jährlich.
Welche Folgen das für den Wohnungsmarkt, die Schulen und die Infrastruktur hat,
kann man sich leicht ausmalen. Oder eben nicht, wie die scheinheilige
Empörung in Brüssel über die Beschränkung des Zuzugs von EU-Bürgern durch die
Regierung in Bern zeigt. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die
Schweizer Massnahme in erster Linie innenpolitischen Symbolcharakter hat: Sie
betrifft etwa 3000 Menschen, gilt nur für Einwanderer, die länger als 5
Jahre bleiben wollen, und wird in einem Jahr sang- und klanglos und für
immer auslaufen.
Aber es geht inzwischen um mehr, wenn sich die Europäer die angeblich ebenso
dickköpfigen wie verschlagenen Eidgenossen vorknöpfen. In der Schweiz scheint
man einen famosen Prügelknaben gefunden zu haben, dem man eigene Fehler und
Versäumnisse ankreiden kann. Dazu gehören die ob ihrer Undurchdringlichkeit
ungerechten Steuersysteme ebenso wie eine verfehlte oder fehlende Industriepolitik.
Frei nach dem Motto: »Wer ist’s gewesen?« Die Ursachen für die kleinen und
grossen Fluchten in die Schweiz – sei es
von unversteuertem Geld oder von unbeschäftigten Arbeitnehmern – liegen ja nicht in der Eidgenossenschaft,
sondern im europäischen Umland. Ja, Schweizer Bankberater haben für deutsche Kunden
Steuersparmodelle ausgearbeitet. Aber sie haben deren Geld nicht gestohlen
und nach Zürich geschafft. All die Zahnärzte, Anwälte und Mittelständler sind
freiwillig gekommen. Und zwar nicht immer nur, um Steuern zu hinterziehen,
sondern häufig, weil sie dem Franken und einer Schweizer Bank mehr vertrauen
als dem Euro und der Deutschen Bank. Auch all jene europäischen
Arbeitnehmer in Luzern und Lausanne wurden nicht von eidgenössischen
Söldnertrupps gefangen und als Zwangsarbeiter über die Grenze verschleppt. Sie
kamen ebenfalls aus freien Stücken, weil sie in der Schweiz gut bezahlte Stellen
und gute Arbeitsbedingungen vorfanden.
Denn der Schweiz geht es noch immer ziemlich gut, «merci vielmal». Schliesslich
muss sie gerade deshalb Arbeitskräfte importieren, weil sie mit der Fertigung
von Produkten, die sie in alle Welt exportiert, kaum nachkommt …..
Ein Kommentar von Wolfgang Koydl, Zürich, aus der Süddeutschen Zeitung vom 26. 4. 2013 Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1463 Zeit-Fragen Nr. 18 vom 14. 5. 13
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