Den Würgegriff der »Schock-Strategie« abwerfen: »Der Ausverkauf Europas muss gestoppt werden« - Von Dieter Sprock 10.03.2013 23:17
Die EU übt Druck auf die Schweiz aus. Sie will die Beteiligung am europäischen Strommarkt
von der
automatischen Übernahme von EU-Recht abhängig machen. Praktisch hat beides aber
nichts miteinander zu tun. Der Strom wird seit über fünfzig Jahren über alle
Landesgrenzen hinweg ohne EU-Diktat gehandelt. Das hat
bestens funktioniert. Zugleich treibt in der Schweiz das Departement Leuthard [Departement
für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation] die Strommarktöffnung voran,
obwohl eine solche Liberalisierung noch keinem einzigen Land Vorteile gebracht
hat. In all diesen Staaten sind die Preise gestiegen, und die Versorgungssicherheit
hat abgenommen. Die Departementsvorsteherin bemüht sich, den
Zusammenhang der beiden Geschäfte zu verwischen. Doch dieser ist so
offensichtlich, dass ihn keine Geiss wegschleckt. Die ›Neue Zürcher Zeitung‹
schreibt denn auch am 23. Januar dieses Jahres: »Leuthard will die Marktöffnung vom
Strommarktabkommen, das die Schweiz mit der EU verhandelt, trennen. Inhaltlich
besteht zwar ein Zusammenhang, der Zugang zum europäischen Strommarkt bedingt aber
die vollständige Liberalisierung.« Dafür gibt es allerdings keine
vernünftigen Gründe. Die EU ist bekanntlich die Liberalisierungsagentur in
Europa und die Privatisierung der grossen Staatsmonopole ist ihr Kerngeschäft.
Wenn man unter diesem Aspekt das Buch »Die Schock-Strategie« von
Naomi Klein [1] liest, stehen einem die Haare zu Berge. Die Schockstrategen
sind zu viel mehr fähig als nur zur Erpressung. Das bereits 2007 geschriebene
Buch über 30 Jahre »Schock-Strategie« hat nichts an Aktualität
eingebüsst. Im Gegenteil. Wer die Vorgänge im heutigen Europa verstehen will,
muss es lesen.
Ausgehend
von Pinochets Chile zeigt Naomi Klein anhand zahlreicher gut dokumentierter
Beispiele, wie Kriege und Katastrophen zur Durchsetzung der radikal
marktwirtschaftlichen Ideen eines Milton Friedman und seiner Schüler genutzt
wurden. Die Strategie hat System: Länder, die durch Katastrophen in einen
Schockzustand versetzt wurden, werden gezwungen, ihre Wirtschaft
internationalen Finanzgebern zu öffnen, Staatseigentum zu veräussern, die
öffentlichen Dienstleistungen zu privatisieren und massive Einsparungen im
Sozialwesen vorzunehmen. Oft dienen IWF und WTO, beide von der USA dominiert,
dabei als Handlanger. Auf diese Weise werden Entwicklungen, die ohne Schock gar
nicht denkbar gewesen wären oder Jahre in Anspruch genommen hätten, beschleunigt
durchgesetzt. In Friedmans Worten: »Nur eine Krise – eine tatsächliche
oder empfundene – führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt,
hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist meiner
Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu
entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche
politisch unvermeidlich wird.« [2] Mehr als drei Jahrzehnte haben
Friedman und seine Anhänger diese Strategie perfektioniert: »Auf eine
grosse Krise oder einen Schock warten, dann den Staat an private Interessenten
verfüttern, solange die Bürger sich noch vom Schock erholen, und schliesslich
diesen ›Reformen‹ rasch Dauerhaftigkeit verleihen.« [Klein, S. 17]
Eine Spur von Blut
und Elend rund um den Erdball Lügen,
Propaganda und Erpressung; Schulden- und Inflationsschocks; Krieg, Folter und
Terror sind die Methoden der Schockstrategie, mit denen die Liberalisierung der
Märkte vorangetrieben wird, wie einige Beispiele zeigen sollen: Nach dem
blutigen Militärputsch 1973 befand sich Chile im Schockzustand. »Friedman
empfahl Pinochet einen Umbau der Wirtschaft im Schnellfeuertempo:
Steuersenkungen, Freihandel, Privatisierung von Dienstleistung, Einschnitte bei
den Sozialausgaben und Deregulierung. Und dann mussten die
Chilenen noch mit ansehen, wie ihre öffentlichen Schulen, die sich über
Gutscheine finanzierten, durch private ersetzt wurden.« [S. 18]
Nach Friedman hat der Staat »im Schulwesen nichts verloren.« Kostenlose
Bildung war für ihn »eine nicht gerechtfertigte Einmischung in den Markt.« In Argentinien
verschwanden zur Durchsetzung der ›Chicagoer Politik‹ unter der Videla-Junta 1976 bis 1978 dreissigtausend Menschen, vorwiegend linke Aktivisten. Margaret
Thatcher nutzte 1982 das Durcheinander des Falklandkriegs dazu, »die
streikenden Bergarbeiter mit dem Einsatz enormer Gewalt« niederzuringen.
Sie hat damit die erste ›Privatisierungsorgie‹ in einer westlichen Demokratie
losgetreten. Die Nato-Angriffe auf Belgrad im Jahr 1999 »schufen
die Voraussetzung für rasche Privatisierungen im ehemaligen Jugoslawien; ein
Ziel, das bereits vor dem Krieg
feststand.« [S. 22] Unmittelbar nach den Anschlägen auf die Twin
Towers 2001 begann unter Ausnutzung des Schocks der Krieg gegen Afghanistan,
mit bisher ungezählten Opfern.
2003 wurde
das 30 Jahre zuvor in Chile erprobte Vorgehen im Irak angewendet, nur noch
brutaler! Nach dem Krieg wurden die Staatsbetriebe und die Ölvorkommen
privatisiert und an westliche Konzerne verteilt. Selbst Katastrophen wie der
Tsunami in Sri Lanka 2004 und der Hurrikan Katrina in New Orleans 2005 dienten
dazu, den radikal marktwirtschaftlichen Umbau voranzutreiben. Die ansässige
Bevölkerung wurde vertrieben und das Bauland in bester Lage internationalen
Investoren verkauft. In New Orleans wurde auf Anraten Friedmans in
militärischer Eile »binnen 19 Monaten – während die Armen der Stadt noch
grossenteils evakuiert wurden – das öffentliche Schulsystem nahezu vollständig
durch private Charter Schools ersetzt.« [S. 16] Die entlassenen Lehrer der
öffentlichen Schulen mussten zusehen, »wie für die Flutopfer gesammeltes
Geld abgezweigt wurde, um ein öffentliches Schulsystem auszuradieren und durch
ein privates zu ersetzen.« Für sie war Friedmans Plan eine ›pädagogische Enteignung‹.
Naomi Klein räumt ein, dass keiner der erwähnten Kriege allein wirtschaftlich
motiviert war, doch in jedem Fall wurde »ein grosser kollektiver Schock« dazu
genutzt, die Wirtschaft radikal umzubauen.
USA: vom Liberalismus
zum korporatistischen Staat Als am 11.
September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center einschlugen, war das
Weisse Haus voll mit Friedman-Schülern, die sich damals in der USA als
Neokonservative bezeichneten. »Das Team um Bush nutzte den Augenblick des
kollektiven Entsetzens mit erschreckendem Tempo.« Sofort wurde der ›Krieg gegen den Terror‹ gestartet und dazu ein
ausschliesslich dem Profit dienender neuer Industriezweig aufgebaut, »der der
schwächelnden US-Wirtschaft frisches Leben einhauchen sollte«, der ›Katastrophen-Kapitalismus-Komplex‹. Dieser sei viel weitreichender als der ›militärisch-industrielle Komplex‹, vor dem Eisenhower gegen Ende seiner zweiten Amtszeit als
Präsident gewarnt hatte. Heute gehe es um einen globalen Krieg, den auf allen
Ebenen Privatunternehmen führen, deren Einsatz mit öffentlichen Geldern
bezahlt wird: »Binnen weniger Jahre hat er seine Marktreichweite schon
vom Kampf gegen den Terrorismus auf die internationale ›Friedenssicherung‹, auf
die Kommunalpolitik und die immer häufigeren Naturkatastrophen ausgeweitet.
Letztlich verfolgen die Unternehmen im Zentrum des Komplexes das Ziel, das
Modell des profitorientierten Regierens, das sich unter aussergewöhnlichen
Umständen so rasch ausbreitet, in das normale alltägliche Funktionieren des
Staates einzubauen; anders ausgedrückt: die Regierung zu privatisieren«,
schreibt Naomi Klein. [S. 25] Im Jahr 2003 unterschrieb die US-Regierung 3512
Verträge mit Sicherheitsfirmen, und in den folgenden drei Jahren das Departement
of Homeland Security deren 115?.000. Der globale ›Heimatschutz‹ ist ein ›200-Milliarden-Dollar-Geschäft‹. Das wirkliche Geld werde aber mit dem Krieg in
Übersee verdient. »Heute sind Kriegs- und Katastropheneinsätze so
voll und ganz privatisiert, dass sie selbst der neue Markt sind; man muss nicht mehr auf den
Boom warten, bis der Krieg vorbei ist.« [S. 27] Das System verwischt die
Grenzen zwischen Politik und grossem Geschäft, und die genauere Bezeichnung als
›Liberalismus, Konservatismus oder
Kapitalismus‹ sei deshalb ›Korporatismus‹ beziehungsweise ›Neokorporatismus‹. Im Neokorporatismus unterstehen die
Verbände keiner direkten staatlichen Kontrolle. »Sein Hauptkennzeichen sind die
massive Umverteilung von öffentlichem Besitz in Privathände – die oft von einer
explodierenden Verschuldung begleitet ist – eine sich ständig vergrössernde
Kluft zwischen Superreichen und den disponiblen Armen sowie ein aggressiver
Nationalismus, der unbegrenzte Verteidigungsausgaben rechtfertigt.« [S.
30]
»Schock-Strategie« für Europa Es braucht
keine besondere Begabung, um auch in Europa das Wirken der »Schock-Strategie« zu
erkennen. Ganz nach dem Moto: »Konstanz liegt am Bodensee, wer’s nicht glaubt, fahr
hin und seh.« Unter
dem durch die Lehman-Pleite und amerikanische Schrottpapiere ausgelösten Schock
wird auch in Europa die Liberalisierung der Märkte vorangetrieben. Das heisst
konkret: Länder, die sich zu fest verschuldet haben, verlieren ihre Souveränität.
Nachdem zumeist amerikanische Rating-Agenturen ihre Bonität heruntergestuft
haben, diktiert ihnen eine aus der Europäischen Zentralbank (EZB), der
EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bestehende Troika die
Bedingungen, unter denen sie weitere Kredite erhalten. Zuvorderst steht die
Privatisierung der grossen Staatsmonopole: Elektrizität, Telekommunikation,
öffentliche Verwaltung, Abfuhrwesen, öffentlicher Verkehr, Gesundheitswesen,
Bildung und neuerdings auch die Privatisierung von Wasser. Ferner
Personalabbau, Lohnkürzungen, massive Streichungen im Sozialbereich und bei den
Renten. Die Löhne sind in vielen europäischen Ländern bereits so tief, dass
Vater und Mutter arbeiten müssen, um die Familie zu ernähren, was zynisch als Frauenbefreiung
vermarktet wird. Mittlerweile wird die Politik immer mehr von weltweit
operierenden Denkfabriken und Beraterfirmen gesteuert. Länderübergreifende
Projekte wie Naturpärke und Europa der Regionen sind Teil der Strategie. Mit
ihnen werden Parallelstrukturen aufgebaut, die nicht mehr demokratisch
kontrolliert werden können.
Massenarbeitslosigkeit
und Armut Während
die Kriegstreiber in der EU von einem neuen Imperium mit Steuer- und
Bildungshoheit träumen und einer europäischen Armee das Wort reden, die in der
ganzen Welt einsatzfähig sein soll, hinterlässt die Globalisierung eine Spur
der Zerstörung in ganz Europa: Die Arbeitslosigkeit war nach dem Zweiten
Weltkrieg noch nie so gross, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit. In einigen
Ländern herrscht bereits akute Not. So berichtet eine Touristin, dass in Portugal
Einheimische in Restaurants fragen, ob sie fertig essen dürfen, was der Gast
nicht mehr mag. In Griechenland gibt es bereits jetzt »400?000 Familien, in denen kein
einziges Mitglied eine Arbeit hat. Nach Schätzungen wird bis Ende 2013 nahezu
jeder dritte arbeitsfähige Grieche ohne Job sein.« [Neue Zürcher Zeitung vom 21. 2. 2013] Es fehlt an
Nahrung und Medikamenten. In Frankreich überschreitet die Arbeitslosenzahl 5
Millionen. »Seit
Beginn des Jahres geht auch das Gespenst gewaltsamer Sozialkonflikte um, die
ganze Industriezweige lahmzulegen drohen.« [Neue Zürcher Zeitung vom 15. 2.
2013] In Grossbritannien halten
bulgarische und rumänische Migranten auf der Strasse Ausschau nach
Gelegenheitsjobs. »Als Taglöhner am Rande des expandierenden britischen
Bausektors sorgen sie für ein stetiges Angebot billiger Arbeitskräfte –
nützlich und doch nicht willkommen.« [Neue Zürcher Zeitung vom 14.2.2013]
Eine Folge der Armut in Bulgarien und Rumänien. Und die in der EU erzwungene
Personenfreizügigkeit führt dazu, dass oft die Stärksten und gut Ausgebildeten
ihre Heimat verlassen und dort beim Wiederaufbau einer tragfähigen Gesellschaft
fehlen. Dasselbe gilt für zahlreiche andere EU-Mitgliedstaaten. Ein einziges
Chaos!
Internationale
Gleichschaltung der Bildung Auch die
Bildung liegt vielerorts ›europäische
Identität‹ heranzubilden. Pisa
(OECD) und Bologna (EU) dienen als Werkzeuge für die Umsetzung: »Das System
Pisa (Programme for International Student Assessment) hat seit 2000 mehrere
regelrechte Schockwellen ausgelöst. Dies scheint System zu haben: Wo diese
standardisierten Tests zur Anwendung gebracht werden, kommen häufig angebliche
gravierende Mängel der Kenntnisse von Schülern zum Vorschein. Wie Naomi Klein
in ihrem Buch »Die Schock-Strategie« herausgearbeitet hat, ebnen solche
Schocks jeweils den Weg für tiefgreifende Umwälzungen mit weitreichenden
Konsequenzen. So geschehen in der Folge von Pisa: Tausendfach wurde die
schlechte Nachricht, unsere Kinder (und damit unser Schulsystem) hätten
angeblich grundlegend versagt, in den Medien wiederholt. Die Schockmeldung
setzte die Verantwortlichen unter grossen Druck, sehr schnell etwas zu
unternehmen. Dementsprechend zeichneten sich die darauf folgenden ›Reformen‹ durch die ›unbedachte
und schnelle Übernahme fertiger Lösungskonzepte ohne ausreichende
wissenschaftliche und öffentliche Debatte‹
aus [3]. Doch woher kommt die Idee, unsere Schulen und Schulsysteme dem
Wettbewerb auszusetzen, die so weitreichende Folgen für unsere Schüler und
unser gewachsenes Schulsystem hat? Kurz zusammengefasst stammt sie aus der USA,
die sie über die OECD in unsere Länder exportiert haben.« [4]
Nach dem Schock kommen
die Investoren »Nach
vierjährigem Stillstand scheint Griechenland für ausländische Investoren wieder
attraktiver zu werden. Internationale Konzerne haben jüngst angekündigt, ihre
Präsenz im Land ausbauen zu wollen«, schreibt die ›Neue Zürcher Zeitung‹ vom
22. 2.2013. An der Ausschreibung für das Hellenikon-Projekt, den Ausbau des
alten Athener Flughafens, von dem sich die Regierung einen Erlös von 5 Milliarden
Euro verspricht, nehmen »neben Qatari Diar an der Endphase die London Regional
Properties, die israelische Elbit und die griechische Lamda Development teil.
Der Zuschlag soll im Sommer erteilt werden.« In den letzten Wochen hätten auch
andere namhafte internationale Konzerne verlauten lassen, dass sie ihre Präsenz
in Griechenland verstärken wollen. Eine chinesische Gruppe namens Cosco »sei an
den bevorstehenden Privatisierungen der Bahn und der Hafengesellschaft OLP
interessiert.« Und der französische Präsident Hollande, der am 19.
Februar Athen besuchte, »bekundete nun sein Interesse an einer verstärkten
französischen Präsenz in Griechenland, vor allem bei der Erforschung und
Ausbeutung möglicher Erdgas- und Ölvorkommen.« Die Franzosen seien auch an der
Privatisierung der Elektrizitätsgesellschaft und der Wasserwerke interessiert.
»Der Schock nutzt sich ab: Das Wiedererstarken des Volkes« Mit diesem
Titel über dem Schlusskapitel ihres Buches öffnet Naomi Klein den Blick nach
vorn, und sie hat recht. Der Schock verliert an Wirkung, wenn die Menschen die
Strategie dahinter durchschauen. Warum sollen wir Friedmans Zitat, wonach »das
weitere Vorgehen in einer Krise von den Ideen abhängt, die im Umlauf sind«, nicht
so verstehen, dass es eine Abkehr von der Neoliberalen Doktrin und neue Ideen
braucht? Klein sieht Ansätze dazu vor allem in Lateinamerika. Der wichtigste
Schutz Lateinamerikas vor künftigen Schocks sei »die zunehmende Unabhängigkeit von
den Washingtoner Finanzinstitutionen.« Die ›Alternativa Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América‹ [ALBA, Bolivianische Alternative für
die Völker unseres Amerika], eine Art Tauschhandelssystem,
sei die Antwort der Lateinamerikaner auf den »mittlerweile begrabenen
korporatistischen Traum von einer Freihandelszone, die von Alaska bis Feuerland
reichen sollte. […] Jedes Land bringt ein, was es am besten erzeugen kann, und
bekommt dafür, was es am nötigsten braucht, unabhängig von Weltmarktpreisen. So
liefert beispielsweise Bolivien Erdgas zu stabilen, rabattierten Preisen; Venezuela
bringt sein Erdöl ein [das an ärmere
Länder zu stark subventionierten Preisen abgegeben wird] und stellt sein Expertenwissen zur Verfügung;
Kuba entsendet Tausende von Ärzten, die
in ganz Lateinamerika eine kostenlose medizinische Versorgung anbieten, und
bildet an seinen Fakultäten Studenten aus anderen Ländern aus.« [S. 643]
Statt dass Händler in New York, Chicago oder London die Preise festlegen, kann
jedes Land selbst entscheiden, wie hoch es den Wert einer Ware oder
Dienstleistung festlegen will. In Brasilien haben sich anderthalb Millionen
Bauern in der Bewegung der Landlosen (MST) organisiert und Hunderte von
Genossenschaften gegründet. In Argentinien wurden bereits 200 bankrotte Firmen
von ihren Belegschaften in Form demokratisch geführter Kooperationen
wiederbelebt. 2006 gab es in Venezuela rund hunderttausend Genossenschaften mit
700.000 Beschäftigten. [S. 642f.]
Optionen auch für
Europa? Auch in
der Schweiz und im übrigen Europa hat ein Umdenken eingesetzt. Viele sind
nachdenklich geworden, auch in der Politik. In den Universitäten, die ihre
Studenten über eine lange Zeit hinweg mit der Marktdoktrin regelrecht
formatiert haben, werden inzwischen auch andere Ansätze diskutiert. Immer mehr Menschen glauben nicht
mehr daran, dass ›freie Märkte‹ allen zugute kommen. Das System droht zu kollabieren, und
die Menschen haben es satt, ständig belogen zu werden. Sie wollen keine weitere
Verelendung Europas, keinen weiteren Bildungsabbau, keine weitere Auflösung der
sozialen Strukturen. Der Ausverkauf Europas muss gestoppt werden. Die Politiker
könnten jetzt vor ihre Bürger treten und eingestehen, dass sie sich geirrt
haben. Sie haben, wie fast alle von uns, dieses System nicht verstanden, und auch
nicht vorhergesehen, worauf es hinausläuft; die Gelegenheit dazu war noch nie
so günstig. Sie könnten die Bürger einladen, mit ihnen gemeinsam nach neuen
Lösungen zu suchen. Aber es müssten ehrliche Lösungen sein. Es genügt nicht,
ein wenig an den Stellschrauben des alten Systems zu drehen, um die Menschen
bei Laune zu halten. Es braucht Lösungen, die aus der Finanzdiktatur herausführen
und den unproduktiven Spekulationsschrott abräumen, damit die Menschen in ihren
Ländern eigene Wege entwickeln und sich ihre Freiheit und Würde zurückholen
können.
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1371 Zeit-Fragen
Nr.10 vom 4. 3. 2012 Den Würgegriff der
«Schock-Strategie» abwerfen: «Der Ausverkauf Europas muss gestoppt werden» [1] Naomi Klein ›Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus‹ New York
2007, Frankfurt am Main 2009 [2] a.a.O., S. 17, FN 12 [3] Roman Langer ›Warum haben die Pisa gemacht? Governance-Analysen zum
Steuerungshandeln in der Schulentwicklung‹
Wiesbaden 2008, Seite 61 [4] Siehe hierzu Zeit-Fragen Nr. 25 vom 11. 7. 2012
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