Fataler Reichtum - Zuviel Geld in falschen Händen - Von Nicola Liebert 14.10.2012 23:44
Erst die Indignados, die Empörten, in Spanien, dann die Occupy-Wall-Street-Bewegung
in der USA
und schließlich auch in Deutschland: Allerorten gehen Menschen auf die Straße,
um sich gegen die Zumutungen des Finanzkapitalismus zu wehren, zum einen gegen
Arbeits- und Perspektivlosigkeit der vielen, zum anderen gegen den Reichtum und
die Macht der wenigen. Vor allem ein Thema treibt die Menschen um – und das ist
nicht die Staatsverschuldung, die so viele Politiker als Wurzel allen Übels
darstellen, sondern etwas viel Fundamentaleres: die Verteilungsfrage. [1]
Diese
Frage ist nicht nur in moralischer, sondern auch in wirtschaftspolitischer
Hinsicht aktueller denn je. Beginnen wir bei der Eurokrise, um zu begründen,
warum das so ist. Anders als uns die Politiker – vor allem in Deutschland –
glauben machen wollen, sind die hohen Schulden ja nicht auf eine typisch
südeuropäische Faulheit und Verschwendungssucht zurückzuführen. Die ebenso hoch
verschuldeten Länder USA, Irland oder Japan widerlegen diese Behauptung. Die
Überschuldung ist in fast allen Krisenländern eine Folge der 2007
ausgebrochenen Finanzkrise. Diese begann bekanntlich als Immobilienkrise in der
USA, aber auch in Irland und Spanien [2], und mutierte schnell zur Bankenkrise.
Um diese einzudämmen, sprangen die Staaten mit gigantischen Rettungsaktionen
ein, die durch Konjunkturprogramme wie etwa die Abwrackprämie ergänzt wurden. Und
all das finanzierten sie, wie auch sonst, auf Pump.
Die
eigentliche Frage ist daher die nach den Ursachen der Finanzkrise. Natürlich
gibt hier nicht die eine, allumfassende Erklärung. Zu den Faktoren, die zum
Entstehen der Krise beitrugen, gehören beispielsweise die Deregulierung der Finanzmärkte
und die dadurch ermöglichten hochriskanten ›Finanzinnovationen‹; die
globalen und innereuropäischen Handels- und Wettbewerbsungleichgewichte, die
etwa der griechischen Wirtschaft das Rückgrat brachen; und auch die künstlich
niedrigen Zinsen - in der USA zur
Bekämpfung der Rezession nach dem Crash der New Economy und in Südeuropa als
Folge der Euro-Einführung – die in
zahlreichen Ländern zu einer Immobilienblase führten. Diese verknappte
Darstellung vermag jedoch nicht zu erklären, wo die gewaltige Macht der
Finanzmärkte herrührt. Konkret: warum zum Beispiel auf die
kostspieligen Bankenrettungen unmittelbar nach Ausbruch der Finanzkrise in der
sich anschließenden Eurokrise gleich wieder ein Bankenrettungsschirm
aufgespannt werden mußte, natürlich auf Kosten der
Steuerzahler. Auch dafür gibt es mehrere Gründe. Da ist zum einen die
erpresserische Macht der riesigen Bankkonzerne, die zu groß geworden sind, als
daß man sie im Krisenfall sich selbst
überlassen könnte (too big to fail) Da sind zum andern der Konkurrenzdruck der Globalisierung und das
damit einhergehende Fallen der Profitraten. Dies führte dazu, daß die Renditen der Realwirtschaft als nicht mehr
ausreichend erschienen und der globale Kapitalismus ein neues, profitträchtiges
Anlagefeld entwickeln mußte: eben die
Finanzmärkte. Die Krise hat also sehr vielfältige Ursachen, und es wäre eine
unzulässige Vereinfachung, sie allein auf die Verteilungsfrage zurückzuführen.
Dennoch gilt: Die Finanzmärkte hätten längst nicht die Macht, die sie haben,
wenn sie nicht soviel Geld bewegen könnten: mehr als 200 Billionen US-$, das
Dreifache des Weltsozialprodukts. [3] Und für diese globale Geldschwemme gibt
es einen klar zu identifizierenden Grund: die zunehmende Konzentration von
Einkommen und Reichtum in den Händen weniger.
Wenn das
Volkseinkommen breit gestreut wird, das heißt als Lohn oder staatliche
Transferleistung bei der gesamten Bevölkerung ankommt, dann wird ein großer
Teil davon für den täglichen Bedarf gleich wieder ausgegeben. Das erhöht die
Nachfrage und kurbelt die Realwirtschaft an. Wenn aber ein immer größerer Teil
auf die Konten derjenigen fließt, die ohnehin mehr haben, als sie jemals
ausgeben können, dann wird dieses Geld auf den Finanzmärkten angelegt. Und zwar
mit dem einzigen Ziel, sich scheinbar aus sich selbst heraus zu vermehren.
Parallel dazu wachsen, ebenfalls scheinbar aus sich selbst heraus, die Finanzmärkte,
mit dem Effekt, daß die Realwirtschaft, sprich
die Produktion von Gütern und allen möglichen nichtfinanziellen Dienstleistungen,
zum bloßen Anhängsel verkümmert. Jedenfalls aus Sicht der Investoren. Diese
Entwicklung ist seit längerer Zeit im Gange. Seit den 1980er Jahren, seit
Beginn des neoliberalen Aufbruchs der Regierungen von Thatcher und Reagan, hat
die Politik dafür gesorgt, daß sich Arbeit und
Einkommen zunehmend entkoppeln. Voraussetzung dafür war, die Macht der
Gewerkschaften auf breiter Front zu brechen [nach dem Vorbild Margaret
Thatchers], und ganz bewußt einen
Niedriglohnsektor zu schaffen, und zwar mittels Deregulierung der Arbeitsmärkte und
dem Rückbau des Sozialstaats [die Methode Gerhard Schröder]. Die Folge
war, daß die Reallöhne stagnierten oder sogar
sanken und der Anteil der Löhne am gesamten Volkseinkommen schrumpfte. Im
Vergleich dazu sind die Managerbezüge und die Gewinne im Finanzsektor
regelrecht explodiert. Eben diese Gewinne lassen die Vermögen der ohnehin schon
Vermögenden weiter anwachsen und stocken damit die Geldmenge auf, die auf den
globalen Finanzmärkten angelegt werden. Dabei versteht sich fast von selbst, daß dieser wachsende Reichtum sich nicht in den
Steuereinnahmen des Staates widerspiegelt, so daß
dieser viel zu wenig zu einer Rückverteilung an die Bedürftigeren beitragen
kann. Im Gegenteil: In Deutschland und den meisten anderen entwickelten Ländern
haben die Steuerreformen der vergangenen Jahre, sprich die Senkung der Steuern
auf Spitzeneinkommen, Kapitalerträge und Konzerngewinne, die Umverteilung von
unten nach oben noch verstärkt. »Es geht nicht um Verteilungsgerechtigkeit, es geht
um Chancengerechtigkeit«, lautete das Argument, mit dem Bundeskanzler Gerhard
Schröder diese Weichenstellung verkauft hat. »Eine Gesellschaft lebt dynamischer,
wenn es Ungleichheiten gibt«, verkündete sein Wirtschaftsminister Werner Müller.
Und der damalige SPD-Fraktionschef Peter Struck befand, die traditionelle
SPD-Politik nach dem Motto: ›Von den
Reichen nehmen, um den Armen zu geben‹,
könne nicht länger »die Politik unserer modernen Gesellschaft sein«. [4] Das
war nicht nur leeres Gerede. Die Einkommen der Gut- und der Geringverdiener
haben sich seit dem Antritt der rot-grünen Regierung tatsächlich
dramatisch auseinanderentwickelt. Bei den Managerbezügen ließen sich
exponentielle Steigerungen durchsetzen, während am anderen Ende des Spektrums
ein prekärer Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Von 1999 bis 2009 schrumpfte
das Einkommen des Bevölkerungszehntels mit dem geringsten Einkommen um 9,6 %,
im gleichen Zeitraum wuchs es beim obersten Zehntel um 16,6 %. [5] Dazu paßt eine Meldung der Hans-Böckler-Stiftung, wonach
allein in den Krisenjahren zwischen 2008 und 2010 die durchschnittliche
Vergütung von Unternehmensvorständen um 21 % zulegte [zusätzliche Leistungen
zur Altersvorsorge noch nicht eingerechnet]. [6] In den letzten zehn Jahren
sind die Vorstandsbezüge real [das heißt inflationsbereinigt] sogar um 94 % gestiegen,
haben sich also fast verdoppelt. Die Reallöhne der Arbeitnehmer sanken derweil
um 3 %. 2010 lag für 11,5 Millionen Menschen, das sind 14 % der deutschen
Bevölkerung, das verfügbare Einkommen unter der von der EU definierten Armutsrisikoschwelle.
Im internationalen Vergleich nimmt die Einkommensungleichheit in Deutschland
überdurchschnittlich stark zu. Nach einer OECD-Studie ist die Ungleichheit bei
den Einkommen zwischen 1980 und 2010 hierzulande mehr als doppelt so stark
angewachsen wie im OECD-Durchschnitt. Mit dieser ›Dynamik der Ungleichheit‹
liegt Deutschland unter den entwickelten Ländern an 6. Stelle. Nur in Ländern
wie der USA und Portugal ist die Kluft zwischen den Gut- und den
Geringverdiener noch tiefer geworden. [7] Gerade in der USA als dem Land mit
dem größten Finanzmarkt überhaupt entwickeln sich die Einkommen in
alarmierendem Tempo auseinander. Wie Untersuchungen der Ökonomen Emmanuel Saez
und Thomas Piketty zeigen [8], stiegen die Einkommen nach Abzug der Inflation im
Zeitraum von 2000 bis 2007 für 90 % der Bevölkerung nur um insgesamt 4 %.
Dagegen durften sich die 0,1 % Topverdiener über ein Plus von mehr als 90 % freuen.
Als dann die Einkommen nach dem Schock, den die Pleite der Investmentbank
Lehman Brothers 2008 ausgelöst hatte, langsam wieder zu wachsen begannen,
landete dieser Zuwachs komplett bei dem 1 % der absoluten Spitzenverdiener. Die Mitglieder dieses
exklusiven Clubs – viele von ihnen im Finanzsektor tätig – beziehen 20 % des
gesamten von US-Bürgern erarbeiteten Einkommens. Solche Entwicklungen schlagen
sich natürlich in den Statistiken über die Konzentration des Reichtums nieder.
Der Grund ist einfach: Spitzenverdiener geben nicht ihre gesamten Einkünfte aus.
Mit dem Geld werden vielmehr die zum Teil ohnehin schon beträchtlichen, oft
durch Erbschaften oder auch Unternehmensgründungen erlangten Vermögen weiter
vergrößert. Einen ersten Eindruck geben hier die Schätzungen der Allianz. Die
Versicherung interessiert sich für solche Daten, da sie mit ihrer Tochter ›Allianz Global Investors‹ auch eine Vermögensverwaltung
betreibt. Das reine Geldvermögen der Deutschen belief sich demnach Ende 2010
auf 4,88 Billionen Euro. Im Durchschnitt besaß jeder Bundesbürger damit 59.900
Euro, fast 3.000 Euro mehr als ein Jahr zuvor. Aber das sind
Durchschnittswerte, natürlich haben die meisten von uns nicht annähernd 60.000 Euro auf dem Konto.
Aufschlußreicher ist deshalb der sogenannte
D.A.CH-Vermögensreport einer anderen Investmentgesellschaft, der
Liechtensteiner Valluga. Demnach gab es in Deutschland im Jahr 2010 829 900 Vermögensmillionäre; das waren trotz Krise
6,5 % mehr als im Vorjahr. Diese Millionäre machen gut 1 % der Bevölkerung aus. Sie besitzen
dem Report zufolge fast ein Drittel des gesamten privaten Finanzvermögens [wobei
der Wert selbst genutzter Immobilien nicht eingerechnet ist]. Den Prognosen
nach wird diese Vermögenssumme bis 2014 auf 2,9 Billionen € anwachsen. Das
entspräche, und hier wird es spannend, einem Zuwachs von 7,3 % pro Jahr. Aber
selbst unter den Superreichen wächst die Ungleichheit: Die Milliardäre unter
ihnen bringen es auf Wachstumsraten zwischen 8 und 10 %. Ähnliches weiß das DIW,
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zu berichten. In ihrem sozio-oekonomischen
Panel [SOEP], das auf regelmäßigen Befragungen basiert, kamen die Forscher für
das Jahr 2008 auf ein Vermögen [diesmal inklusive Immobilien] von 88 .034 € pro Erwachsener. Das ist ein Plus
von 10 % innerhalb von 5 Jahren. [9] Auch hier verschleiern allerdings die
Durchschnittswerte den tatsächlichen Zustand im Land. Der vom DIW ermittelte
Vermögenszuwachs kam nämlich fast ausschließlich den Millionären zugute. Schon
in der Mitte der Reichtumspyramide reichte es nur noch für einen
durchschnittlichen Zuwachs von 1,9 Prozent in 5 Jahren. Die reichsten 10 % verfügten
demnach 2008 über 61,1 % des Gesamtvermögens; 2002 waren es noch 57,9 % gewesen.
Dagegen haben 27 % der Bevölkerung gar kein oder negatives Vermögen, sprich:
Schulden. DIW-Forscher Stefan Bach präsentiert noch eindrucksvollere Zahlen. [10]
Er ergänzt die SOEP-Daten durch Angaben des Manager Magazins, das regelmäßig
eine Liste der Superreichen veröffentlicht, also der Aldi-Albrechts, der
Versandhaus-Ottos und der BMW-Quandts. Diese wenigen extrem Reichen sind so
verschwiegen, daß sie im Rahmen normaler Befragungen
meist gar nicht erfaßt werden können, wodurch
sich das Bild natürlich verzerrt. Wenn man diese Riesenvermögen mit einrechnet,
ergibt sich folgende Verteilung: 0,1 % der bundesdeutschen Haushalte besitzen
22,5 % des gesamten Vermögens im Land. Das reichste eine Prozent kommt auf 35,8
%, also mehr als ein Drittel. Die Top 10 % besitzen schon zwei Drittel, während
für die gesamte untere Hälfte gerade mal 1,4 % bleiben. Beim Blick über den
Atlantik entdeckt man noch extremere Verhältnisse. 43 % des gesamten
Nettovermögens von US-amerikanischen Privathaushalten konzentrieren sich beim
reichsten Prozent der Bevölkerung und 83 % bei den reichsten 10 % . [11]
Weltweit zählen übrigens knapp 11 Millionen Menschen, also 0,16 % der
Weltbevölkerung, zu den Dollarmillionären [selbst genutzte Immobilien nicht
gerechnet]. Die meisten von ihnen leben nach wie vor in der USA, gefolgt von
Japan und Deutschland; aber Hongkong, Indien, Vietnam oder Indonesien holen in
dieser Hinsicht sehr schnell auf. Diese
globale Klasse der Reichen, die von den internationalen
Vermögensverwaltungsgesellschaften als ›High
Net Worth Individuals‹ [HNWIs]
umworben werden, hält mehr als ein Drittel des weltweiten Geldvermögens. [12] Das
›NGO Tax Justice Network‹ geht in einer neuen Studie davon aus,
daß diese Zahlen noch weit untertrieben sind,
weil die gigantischen, in Steueroasen versteckten Vermögen, die Schätzungen reichen
bis zu 32 Billionen US-$, meist gar nicht erfaßt
sind. [13] Werden sie eingerechnet,
könnte sich ein Drittel des tatsächlichen globalen Geldvermögens in den Händen
von nicht einmal 100 000
Menschen befinden. Das
wären 0,001 % der Weltbevölkerung. Was hat dieser sagenhafte Reichtum in den
Händen sehr weniger Individuen nun mit der aktuellen Krise zu tun? Wie oben
gezeigt, vagabundieren die überschüssigen, weil nicht mehr konsumierten
Geldmengen auf der Suche nach möglichst profitablen und damit riskanten
Anlagemöglichkeiten um die Welt. Doch die enge Korrelation zwischen
Ungleichheit und Krisenanfälligkeit hat noch eine weitere Ursache: die relative
Verarmung der unteren Einkommensschichten, die die unvermeidliche Kehrseite der
geschilderten Einkommens- und Vermögenskonzentration ist. Um ihren
Lebensstandard zu halten, haben vor allem in der USA viele ihr eigenes Häuschen
verpfändet. Und auch in den südeuropäischen Ländern [vorweg Spanien] stieg die
private Verschuldung. Zugleich stagnierte wegen der äußerst bescheidenen
Lohnentwicklung die Nachfrage, was die Realwirtschaft geschwächt und zu mehr
riskanten Investitionen auf den Finanzmärkten geführt hat. Während Normalsparer
ihr Geld zu 39 % ganz klassisch als Sparguthaben und zu 28 % in relativ
konservativen Kapitalmarktprodukten anlegen [vor allem in Investmentfonds],
drehen die ›HNWIs‹ [oder Millionäre] ein deutlich
größeres Rad. [14] Ein knappes Drittel ihres Vermögens investieren sie in
Staats- und Unternehmensanleihen, ein Drittel in Aktien [die US-Millionäre
kauften sogar für 42 % ihres Geldes Aktien]. Außerdem schätzen sie aus Angst
vor Inflation insbesondere Immobilien und zunehmend auch Rohstoffe und
Derivate, die riskantesten der spekulativen Finanzpapiere. Es sind also
eindeutig die Vermögen der Superreichen und nicht die bescheidenen Ersparnisse
der Normalbevölkerung, die für die Potenzierung der Risiken in den
Finanzmärkten verantwortlich sind. Um den Zusammenhang von Reichtum und Krise
zu erläutern, lohnt sich auch ein Ausflug in die Geschichte. So warnte der
US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman im ›New York Times‹
Magazine vor Zuständen wie in den 1920er Jahren, die in der USA als ›Gilded Age‹ bezeichnet wurden. [15] Er erzählte von den gigantischen Villen
aus jener Ära, die er als Teenager auf Long Island bestaunte, wobei er sich den
Reichtum vorzustellen versuchte, der allein für die Entlohnung der Heerscharen
von Dienstboten nötig war.
Der trügerische Glanz
an der Oberfläche Das
vergoldete Zeitalter – es heißt so, weil der Glanz nur an der Oberfläche war –
endete bekanntlich mit dem Crash von 1929 und der Weltwirtschaftskrise. Mit dem
New-Economy-Boom der 1990er Jahre und dem sich anschließenden Immobilienboom
der 2000er Jahre erreichte die Einkommens- und Vermögensverteilung in der USA
erneut so extreme Werte wie in den 1920er Jahren. Krugmans Aufsatz erschien vor
zehn Jahren. Mit seiner Mahnung hat er leider recht behalten. Auch dieses Mal
endete die Chose in einer Finanzmarktkrise, die sich längst zur globalen
Wirtschaftskrise ausgeweitet hat. Aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre
wurden damals in der USA zumindest einige wichtige Lehren gezogen: Zum einen
setzte man eine strenge Regulierung der Banken und Finanzmärkte durch, die bis
in die 1990er Jahre für relative Stabilität sorgte. Zum anderen wurden unter
Präsident Roosevelt – wie aus dem keynesianischen Lehrbuch –
Arbeitsbeschaffungsprogramme und Infrastrukturinvestitionen durchgeführt, von
denen die USA heute noch zehrt. Damals begann zugleich eine Epoche
vergleichsweise geringer Ungleichheit, die mit hoher finanzpolitischer
Stabilität einher ging und bis weit in die Nachkriegszeit hinein andauerte. Das
interessanteste Element der damaligen Krisenbekämpfung ist ihre Finanzierung:
Sie erfolgte hauptsächlich durch Steuern. Diese verschaffen dem Staat nicht nur
finanzielle Spielräume, ohne daß er dafür
Schulden aufnehmen muß, sie entfalten darüber
hinaus auch eine segensreiche Umverteilungswirkung. Denn mit den Steuern, die
der Staat überproportional von den Reichen nimmt, kann er zum Beispiel
Bildungs- und Sozialausgaben bezahlen, von denen alle etwas haben. Der
Spitzensatz der US-Einkommenssteuer, der bis zum Crash 1929 bei nur 25 % gelegen
hatte, wurde in den 1930er Jahren stufenweise auf 79 % angehoben, um dann nach
dem Zweiten Weltkrieg auf 91 % zu steigen. [16] Die von konservativer und
liberaler Seite mantrahaft wiederholte Behauptung, hohe Einkommensteuersätze
seien leistungsfeindlich und stünden somit der wirtschaftlichen Entwicklung im
Wege, kann seither als widerlegt gelten. Trotzdem liegt der Spitzensteuersatz
in der USA heute bei gerade einmal 35 %.
In der
aktuellen Krise werden die Erinnerungen an frühere Zeiten wieder sehr lebendig.
Die schon erwähnten US-Ökonomen Emmanuel Saez und Thomas Piketty, denen die
ungleiche Einkommensverteilung Sorgen macht, können sich durchaus eine Rückkehr
zu Spitzensteuersätzen von 50 oder sogar 90 % vorstellen. Und Frankreichs
Präsident François Hollande hatte in seinem Wahlkampf 75 % angekündigt. Selbst
die SPD, die in der Ära Schröder den Spitzensteuersatz von 53 auf die heutigen
42 % gesenkt hatte, faßte auf ihrem Parteitag
Ende 2011 den programmatischen Beschluß, im
Falle ihres Einzugs in die Regierung eine zaghafte Anhebung auf 49 % anzustreben.
Zunehmend werden auch Forderungen laut, die Reichen direkt an den Kosten der
Krise zu beteiligen, die sie zumindest mit verursacht haben. Wie ein ›senior economist‹ der Allianz-Vermögensverwaltung bei der Vorstellung eines
Vermögensreports zur Eurokrise bemerkte: Die staatliche Verschuldung sei nur ›die halbe Geschichte‹, weil es ja auf der anderen Seite
auch viel privates Vermögen gebe. Für den Mann stand fest: »Alle
apokalyptischen Untergangsszenarien sind verfrüht. Denn die Substanz ist ja da.« [17]
Von dieser Feststellung ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der
Forderung, daß die überschuldeten Staaten die
vorhandenen Vermögen zur Finanzierung der Schulden, beziehungsweise der
Krisenkosten, heranziehen sollten. ›Besteuert
uns‹, forderten vergangenes Jahr
französische Milliardäre per Zeitungsanzeige. Auch sie haben schließlich
Interesse an stabilen Verhältnissen. In Italien erklärte Ferrari-Aufsichtsrat
Luca di Montezemolo: »Ich bin reich. Es wäre nur gerecht, wenn ich mehr zahlte.« Und in
Deutschland haben jüngst mehrere Organisationen und Initiativen, darunter neben
Attac auch die Initiative ›Vermögensteuer
jetzt!‹ und die Initiative ›Vermögender für eine Vermögensabgabe‹, ein Bündnis unter dem Motto ›Umfairteilen - Reichtum besteuern‹ gegründet. Die SPD-regierten
Bundesländer wollen neuerdings die seit 1997 nicht mehr erhobene Vermögensteuer
wieder einführen. Trotz eines äußerst großzügigen Freibetrags von 2 Millionen €,
pro Person wohlgemerkt, und einer Höhe von nur 1 %, sollen auf diese Weise 11,5
Milliarden € pro Jahr in die Kassen der Bundesländer kommen. Einen anderen Plan
verfolgen die Grünen: Sie wollen nach dem Modell des Lastenausgleichs, der nach
dem Zweiten Weltkrieg den Flüchtlingen zugute kam, die Reichen durch eine
einmalige Vermögensabgabe an der Finanzierung der Krisenlasten beteiligen. Nach
diesem Plan sollen im Lauf von 10 Jahren 100 Milliarden € zusammenkommen. Damit
soll keinesfalls gesagt sein, daß höhere
Steuern ein Allheilmittel wären. Da die Krise viele Ursachen hat, müssen auch
die Lösungsvorschläge vielfältig sein: Von einer Re-Regulierung der
Finanzmärkte und der Zerschlagung der Großbanken über einen Schuldenerlaß für überschuldete Staaten bis hin zu einer
expansiven Lohnpolitik und staatlichen Investitionsprogrammen. Gleichwohl sind
Steuern ein entscheidendes, bislang in der politischen Diskussion jedoch
unterschätztes Element zur Krisenbekämpfung, für die der Staat eben diese
Steuereinnahmen dringend braucht. Ebenso wichtig sind sie aber auch für die
Vermeidung künftiger Krisen, denn ein vernünftiges Steuersystem bewirkt eine
Umverteilung von oben nach unten. Steuern helfen also gegen die ungerechte
Verteilung des Reichtums – und damit gegen eine der wesentlichen
Krisenursachen.
(1) Siehe z.B. ›Protest Spurs Online Dialogue on
Inequity‹, New York Times, 8. Oktober 2011 (2) In Japan ist die hohe Verschuldung eine Folge
des dort viel früher, nämlich schon Anfang der 1990er Jahre stattgefundenen
Immobiliencrashs (3) McKinsey beziffert die Summe aller Aktien,
Anleihen und Kredite weltweit auf 212 Billionen US-Dollar; Mapping Global
Capital Markets 2011 (4) Alle Zitate aus: ›Der große Graben‹, Der
Spiegel, 17. Dezember 2007 (5) Siehe Markus M. Grabka, ›Eine Bestandsaufnahme: Kinder-/Armut in Deutschland‹; Präsentation auf der Tagung ›Kinderarmut in Deutschland und Europa‹ der Arbeitsgemeinschaft der deutschen
Familienorganisatione n am 30. 11. 2010 in Berlin (6) boeckler.de/14_37883.htm (7) OECD: StatExtracts 2010, Income Distribution -
Inequality (8) ›For Two Economists, the Buffett Rule
Is Just a Start‹, New York Times,
16. April 2012 _ (9) Joachim R. Frick und Markus M. Grabka, ›Gestiegene Vermögensungleichheit in
Deutschland‹, in: DIW Wochenbericht,
Nr. 4, 2009, S. 54–67 (10) www.vermoegensteuerjetzt.de/images/studien/Praesentation_Bach.pdf;
Angaben nach einer Studie über eine Vermögensabgabe für die grüne
Bundestagsfraktion (11) E. N. Wolff ›Recent Trends in Household Wealth
in the United States: Rising debt and the middle-class squeeze – an Update to
2007‹, The Levy Economics Institute
of Bard College, Working Paper, No. 589, Annandale-on-Hudson 2010 (12) Capgemini, Merrill Lynch, Global Wealth Report
2011, und Boston Consulting Group: Global Wealth Report 2011 (13) James S. Henry ›The Price of Offshore Revisited – New Estimates for ›Missing‹ Global Private Wealth, Income, Inequality, and Lost Taxes‹, Tax Justice Network, Juli 2012 (14) Siehe Anmerkung 12 (15) Paul Krugman, ›For Richer‹, ›New York Times‹ Magazine, 20. Oktober 2002 (16) Vgl. Sam Pizzigati ›Genug ist genug‹, Le
Monde diplomatique, Februar 2012 (17) ›Die
Spur des Geldes‹, Der Spiegel, 19.
September 2011
© Le Monde diplomatique, Berlin Le Monde diplomatique Nr. 9875 vom 10. 8. 2012, Seiten 1, 10-11,
Dokumentation Nicola Liebert; Liebert
ist freie Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr: ›Steuergerechtigkeit in der
Globalisierung‹, Münster 2011. Sie
ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac. Der Text lehnt sich an
ein Expertisepapier des wissenschaftlichen Beirats von Attac an.
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