Die Malwinen sind argentinisch - Ein (neo)kolonialistisches Lehrstück - Von Wolf Gauer

Vor dreißig Jahren begann der Falklandkrieg. Ich erinnere mich sehr genau: 4. Mai 1982.

Ich saß gegen Abend vor meinem Kurzwellen-Empfänger und hörte Radio BBC. Sondermeldung: »Ihrer Majestät Schiff Sheffield ging ..... «, der Sprecher verhielt und schluckte hörbar, »heute verloren«. Es war auf einmal Krieg in unserem Südamerika, zum ersten Mal seit 50 Jahren. Kein jahrelanger blutiger Hahnenkampf um fiktive Erdölfelder zwischen etwa gleichstarken Nachbarn wie im längst vergessenen Chaco-Krieg zwischen Paraguay und Bolivien (1932-1935), sondern eine völlig unerwartete, anachronistische Keilerei. Auf der einen Seite die auf NATO-Standard getrimmte, US-gestützte Nuklearmacht Großbritannien, auf der anderen die uniformierten Schnurrbärte der damaligen Militärdiktatur Argentinien. Ein kurzer ungleicher Kampf um Restposten britischen Überseebesitzes, nach Lesart der Sieger vom 2. April bis 14. Juni 1982. Er kostete 910 Menschenleben und jährt sich nun zum 30. Mal. Es ging um drei Inselgruppen im Südatlantik: um die Südgeorgien-Insel (South Georgia Island), die Südlichen Sandwichinseln (South Sandwich Islands) und um die Malwinen (Falkland Islands), letztere rund 400 km querab Feuerland (Argentinien). Alle in britischem Besitz nach kolonialistischer, also eigenmächtiger Aneignung im 19. Jahrhundert und von den Malwinen aus verwaltet. Nur auf diesen lebt eine bodenständige Bevölkerung von 3100 Menschen. Seit dem 17. Jahrhundert sind die Malwinen den europäischen Mächten bekannt (Amerigo Vespucci, Fernão Magalhães und andere sollen sie schon vorher gesichtet haben). Alle, an erster Stelle die Briten, betrachten sich als ihre Entdecker. Viele Korsaren, Walfänger und Kauffahrer hatten ja schon mal bei schwerem Wetter oder aus Raubgier in den kalten verregneten Buchten geankert, um jedoch baldmöglichst wieder zu verschwinden.

Nach dem verlorenen Siebenjährigen Krieg (1756-1763) beabsichtigte Frankreich, aus Kanada vertriebene Landsleute auf den Malwinen unterzubringen. Paris erfaßte den strategischen Wert eines eigenen, insularen Stützpunktes auf dem vielbefahrenen Seeweg zum Pazifik und den Wal- und Robbengründen des Südatlantiks. Der französische Weltumsegler Louis-Antoine de Bougainville gründete deshalb die Compagnie Saint-Malo, die 1764 erste 27 Franzosen anlieferte, die Inseln für Frankreich reklamierte, diese aber schon drei Jahre später, und nach beiderseitiger Übereinkunft, an Spanien abtrat. Frankreich akzeptierte die augenfällige Zugehörigkeit der Inseln zum nahen, damals noch spanischen Kontinent. Dem Heimathafen der Franzosen, Saint-Malo, entstammt übrigens der Name Îles Malouines, den die folgende spanische Herrschaft als Islas Malvinas weiterführte. Erst 1828 gelang dem Festland gegenüber, dem seit 1816 von Spanien unabhängigen Vizekönigreich des Rio de la Plata - späterhin Argentinien - ein bleibendes Besiedlungsunternehmen. Parlamentarisch abgesegnet, bürokratisch verbrieft und damit grundverschieden von der damals üblichen kolonialistischen Landnahme vom Typ Anlanden: »Ich nehme in Besitz-Rufen, Fahne aufziehen, dreimal Bumm-Bumm und Ablegen«.  

Der rührige Hamburger Hugenotte Louis Vernet, in jenen Tagen Unternehmer und Bürger von Buenos Aires, erhielt zur Erschließung und Nutzung der Malwinen eine argentinische Vollmacht, die er unter legendären Strapazen zustande brachte. Er schaffte Rinder und Schafe auf die Inseln, vor allem aber abgehärtete Gauchos, denen zuweilen die Pferde unterm Sattel erfroren. 1829 wurde Vernet zum Gouverneur der Malwinen ernannt. Und 1833, als er gerade mal in Buenos Aires zu tun hatte, erklärte sich die Regierung Seiner britischen Majestät Williams IV ganz nonchalant zum Besitzer der Eilande und der dort geschaffenen Infrastruktur. Es trafen schottische und englische  Einwanderer ein, auch einige Deutsche und Skandinavier. Die französischen und hispanischen Anwohner machten ab 1860 gerade noch 30 % aus und vermischten sich allmählich mit den Neuankömmlingen. Buenos Aires protestierte gegenüber der unbestrittenen Weltmacht des 19. Jahrhunderts. Und es ist seither in Argentinien immer bei Protesten und jener etwas kopflosen, ohnmächtigen Erbitterung geblieben, die auch der Kriegsführung des Landes von 1982 und der gegenwärtigen Haltung gegenüber England anzumerken ist. Im kleinsten argentinischen Weiler verkünden große Tafeln, was alle längst wissen: Las Malvinas son argentinas, die Malwinen sind argentinisch. Ebenso wie der Affenfelsen von Gibraltar gelten die Malwinen bis dato als britisches Überseegebiet. Die Regierung Cameron lehnt jede Verhandlung über die argentinischen Ansprüche ab, solange die ortsansässige Bevölkerung nicht gegen ihre Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich votiert. Und das wird sie nicht; Cameron weiß es. Die Falkländer stammen aus Nordengland und Schottland; nichts verbindet sie mit der lateinamerikanischen Kultur des Festlands. Ihre Nationalhymne ist God save the Queen. Auch die ultra-liberalistische britische Regierungschefin Margret Thatcher (Amtszeit: 1979-1990) wußte das. Sie hatte um 1981 die soziale Demontage und die Privatisierung des britischen Volkseigentums soweit getrieben, daß sie ihre Wiederwahl davonschwimmen sah [Zustimmungsrate 28 %, Arbeitslosigkeit über 13 %]. Ein medienwirksames, möglichst patriotisches Ereignis mußte her und hochgespielt werden: die spektakuläre, kompromißlose Verteidigung der Falkländer gegen böse argentinische Begehrlichkeiten.

Ein sehr opportuner, nie völlig geklärter Zufall kam ihr da gerade recht. Die sogenannte Davidoff-Affäre vom 19. März 1982 – für Buenos Aires der eigentliche Kriegsbeginn. Der argentinische Schrotthändler Davidoff hatte 41 Arbeiter auf der Südgeorgieninsel angelandet und dies im Einvernehmen mit der britischen Botschaft in Buenos Aires. Alte verfallene Walfangbasen sollten abgebaut werden. Angeblich wurde dabei ein Frachter der argentinischen Marine benutzt und die blauweiße argentinische Fahne gehißt, was einerseits zum angestauten argentinischen Ingrimm passen würde, andererseits als Invasion britischen Territoriums hingestellt werden konnte. Eine erste Konfrontation von Hubschraubern und die (irrtümliche) BBC-Nachricht vom Auslaufen englischer Nuklear-U-Boote aus Gibraltar brachten die ohnehin gereizten Gemüter der Junta in Buenos Aires zum Kochen. Wie in Uruguay, Chile und Brasilien regte sich nämlich auch in Argentinien zunehmender Widerstand gegen den beispiellosen Staatsterror der Militärregierung, der mindestens 30 000 Menschenleben gefordert hatte. Auch hier mußte nun patriotischer Aktivismus her. Konzeptlos und bar jeder politischen Perspektive sandten die Generäle U-Boote und ein paar Landungstruppen nach Südgeorgia. Und am 2. April besetzten sie die Malwinen.  

Thatcher hatte ihren casus belli, gewann ihren Krieg dank US-amerikanischer Aufklärungs- und Spionageassistenz mit Ach und Krach und wurde 1983 wiedergewählt – zum Preis von 258 britischen, 3 falkländischen und 649 argentinischen Toten nebst 1,19 Milliarden $ Kriegskosten allein auf britischer Seite. Die hohe argentinische Verlustrate ist Resultat der Torpedierung des Kreuzers General Belgrano (Bj.1946), der mit 323 Mann unterging. Er wurde übrigens außerhalb der von der englischen Admiralität festgelegten Konfliktzone angegriffen und versenkt – right or wrong, my country ….. es geht um mein Land. Und der Krieg tat Thatcher einen weiteren Gefallen. Er übertünchte einen Skandal von seltener Güte: Verschwiegen und vergessen ist nämlich, daß die eiserne Lady noch 1980 entschlossen war, die kostspieligen malwinischen Untertanen ihrer Majestät der weltweit verhaßten argentinischen Junta zu überlassen. Nicholas Ridley, der neoliberale Commonwealth-Minister sollte Thatchers Plan den Falkländern mundgerecht machen: die Inseln unter argentinische Souveränität mit anfangs noch englischer Verwaltung zu stellen, die aber späterhin ganz von Buenos Aires übernommen werden sollte. Thatcher erhoffte sich dabei sogar eine Entschädigung von Argentinien – psychologisch gesehen so daneben wie finanziell unrealistisch. Die Insulaner waren empört, die Argentinier beleidigt. Die einen wollten sich nicht verkaufen lassen, die anderen nicht kaufen, was ihnen ohnehin gehört.

Vergeben, aber seitens der Falkländernicht vergessen
Sie leben weiterhin hauptsächlich von Schafzucht, Fischerei und der finanziellen und technischen Unterstützung durch das Mutterland [etwa 500 Mio. £ pro Jahr einschl. Militärausgaben]. Dazu gehört z.B. auch der kostenlose Transport zur Blinddarmoperation im fernen Chile. Die Kelpers [in Anspielung auf kelp, den wuchernden Seetang vor ihrer Küste] teilen heute ihr ehemals beschauliches Dasein mit etwa 2000 Soldaten der nunmehrigen Festung Falkland. Mit gemischten Gefühlen. Sie sind zwar britische Untertanen, fühlen sich aber weder als Briten noch als Europäer.  Der Krieg und die Kriegsfolgen haben ihnen den enormen Unterschied zu England deutlich gemacht, die langjährige demographische, wirtschaftliche und soziale Stagnation und den unübersehbaren Reformbedarf. Andererseits sehen sich die Falkländer optimistisch als zukünftige Nutznießer ihrer natürlichen Ressourcen. Die Ölvorräte vor ihrer Küste werden auf 40 Mrd. Barrel geschätzt; anglo-amerikanische Firmen (Desire Petroleum, Falkland Oil and Gas, Rockhopper, Borders & Southern) sind schon am Bohren. Neue, anspruchsvollere Arbeitsplätze entstehen; die Beziehungen zur nördlichen Halbkugel sind intensiver als je zuvor. Die separatistischen Töne aus Schottland und Wales haben erste Überlegungen zu einem eigenständigen Status der Inseln beschleunigt. Schon 1989 konzedierte London eine neue Falkland-Verfassung mit einer achtköpfigen gesetzgebenden Versammlung, die zwar zusammen mit dem britischen Gouverneur regiert, die aber – und da ist die City vor – nicht über Steuern und Finanzen bestimmen darf. Mike Summers, hochdekoriertes Ratsmitglied, faßt dies wie folgt zusammen: »Auf Falkland existiert eine Dynamik hin zur eigenen nationalen Identität. Sie stützt sich auf eine Verständigung mit Argentinien (...) Wir sind ein Volk, genau wie Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile und andere Nationen, die von europäischen oder afrikanischen Einwanderern abstammen.« Die britische Tageszeitung The Guardian konstatiert ebenfalls eine »Ethnogenese, die keineswegs anders ist als die anderer typischer Einwanderungsländer – Amerikas, Australiens oder Neuseelands, faktisch nicht verschieden von den benachbarten südamerikanischen Nationen.«  

Wie soll es weitergehen, wen kümmern die Menschen auf den Malwinen wirklich?

Für Premierminister Cameron sind sie eben nur Bauern im geostrategischen Schach. Zynisch wirft er ausgerechnet Argentinien Kolonialismus vor (18. Januar 2012). Er lehnt die wiederholte Aufforderung der UNO zu Verhandlungen ab und militarisiert die Region provokant mittels  Entsendung eines Zerstörers, dessen Raketenbestückung laut offizieller Presseerklärung »alle südamerikanischen Luftstreitkräfte vernichten« kann, eines Atom-U-Boots mit Nuklearwaffen und eines prinzlichen Piloten aus dem stets kooperativen Hause Windsor. Die Kommunistische Partei Argentiniens erkennt darin den Versuch Großbritanniens und der NATO, eine Militärbasis zu etablieren, die ihrem expansiven aggressiven Kurs im Mittleren Osten und gegenüber Rußland entspricht. Und dies ungeachtet der Tatsache, daß sich die 33 Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) im Dezember 2011 für Argentiniens Souveränität über die Inseln ausgesprochen haben. Fidel Castro Ruz bestätigte am 12. Februar dem Vereinigten Königreich nüchtern und sachlich: »Es gibt keine andere Option als den Rückzug von den Malwinen« und »der chilenische Diktator Pinochet, der den Engländern im Krieg gegen Argentinien geholfen habe, ist nicht mehr da«. Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat mittlerweile das Landeverbot für Flüge von und nach den Malwinen gemildert, und britische Schiffe dürfen in den argentinischen Häfen wieder anlegen. Argentinische Intellektuelle bemühen sich um Verständnis für die Lage der malwinischen Bevölkerung. Ein erster Falkländer, der Maler James Peck, ist nach Argentinien umgezogen, erhielt einen Ausweis und erklärte, »ich bleibe.«

Selbst die USA stellt sich überraschenderweise hinter Argentiniens Forderung nach Verhandlungen. Im Juni 2011 unterzeichnete sie zusammen mit den sozialistischen, antiamerikanischen Präsidenten Hugo Chávez Frias (Venezuela) und Daniel Ortega Saavedra (Nicaragua) eine Erklärung der (US-hörigen) Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zugunsten der argentinischen Position. Davon ist allerdings nicht viel zu halten, denn das anglo-amerikanische Gespann ist sich über seine wirklichen weltweiten Ziele einig. Und zu diesen gehört die Antarktis, die nicht nur von Australien und Neuseeland, sondern auch von den Malwinen, von der Südgeorgia Insel und den Südlichen Sandwichinseln aus bestens kontrolliert werden kann. Der internationale Antarktisvertrag zwischen 12 Nationen (1959) und seine vier Folgeabkommen sehen für die Antarktis eine ausschließlich friedliche, wissenschaftliche und umweltschonende Nutzung vor. Eine 1989 angestrebte Einigung über die Bodenschätze der Region kam aber nicht zustande. Zwanzig Nationen forschen heute in 90 Antarktisstationen mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Absichten. Darunter die südamerikanischen Nachbarn, auch die BRD und Indien. Die Volksrepublik China unterhält drei Stationen, darunter eine der wenigen im Zentrum des Kontinents, Kunlun, auf 4087 m Höhe. Man rechnet mit etwa 6 Mrd. Tonnen Erdöl und 115 Billionen Kubikmeter Gas – etwa die Hälfte der noch nicht erschlossenen Reserven der Erde. Weiterhin mit Uran, Kohle, Kupfer, Chrom, Titan, Platin und Gold. 2007 erneuerte Großbritannien seine uralten Gebietsansprüche von 1908 auf dem antarktischen Kontinent und dessen Schelfbereich. Es geht um eine Million Quadratkilometer, einschließlich der Südgeorgien- und Südlichen Sandwichinseln – und der Malwinen. Eiskalter Imperialismus, urteilte da selbst die englische Presse.  

2011 - ein gutes Jahr für Lateinamerika?

Verließe man sich allein auf die häufig zitierte, privatrechtliche Datenbank Latinobarómetro, eine in Chile ansässige Nichtregierungsorganisation, die von der EU, den USA und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) mitfinanziert wird, so wäre ein naives Ja angebracht. Sie konstatiert in 18 der 20 lateinamerikanischen Staaten wachsende Ansprüche der Bürger an ihre Regierungen, auch zunehmende Bildung, mehr Selbstbewußtsein und Gesetzestreue. Und zur Freude ihrer Auftraggeber: Für 56 % der Befragten sei die Marktwirtschaft der einzige Weg zur Entwicklung. In Brasilien glaubten dies sogar 58 %, auch seien die Brasilianer in puncto Wirtschaft am optimistischsten und als einzige dazu bereit, »mehr ihren Pflichten nachzukommen als ihre Rechte einzufordern.« Für Kenner brasilianischer Verhältnisse eine groteske Verdrehung. Ich erinnere an den nachhaltigen Widerstand der Zivilgesellschaft gegen umweltgefährdende Staudammprojekte wie Belo Monte oder Santo Antonio und Jirau, an ihr Eintreten für die Rechte der Indigenen und für den Einschluß ziviler Repräsentanz in sozialpolitische Entscheidungsprozesse, die nach wie vor zentralistisch dirigiert werden. Noch ungenierter urteilt die OECD, die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (der reichen, die Globalisierung forcierenden Nationen). Nach Bilderberger-Art warnt sie in ihrer Perspektivstudie für 2012 vor einem weiteren Zuwachs der Mittelschicht in den Entwicklungsländern, der »soziale Forderungen vermehren und neue Spannungen, die die Regierungen zu bewältigen hätten, erzeugen würde.« Denn »die Mittelschicht der aufsteigenden Länder wünscht die Teilhabe an den Früchten des Wirtschaftswachstums der letzten Jahre« (sic).  Die OECD klassifiziert als Mittelschicht jene zwei Milliarden Menschen, die täglich zwischen 10 und 100 US$ verdienen. Eine Milliarde davon lebt in den Entwicklungsländern. Bis 2030, droht die Studie, werden es 3 Milliarden sein, und der »arabische Frühling zeigt, daß die Forderungen der Bürger, die einen auf Einschluß bedachten politischen Prozeß wollen, beachtet werden müssen.« Was sich diese Bürger nicht alles einfallen lassen….. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Kariben (CEPAL), wägt differenzierter: Lediglich in Brasilien, Argentinien, Bolivien und Venezuela sei die soziale Ungleichheit und Armut vermindert worden. Ausgerechnet dort, wo das Verhältnis zur USA und EU sensibel bzw. mehr als gespannt ist. Denn Ungleichheit und Armut, so die Leiterin der CEPAL-Exekutive, Alicia Bárcena Ibarra, hingen direkt von »aktiver Sozialpolitik ab, z.B. von einem Mindestlohn, von der Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionen.« Während der Amtszeit des indigenen sozialistischen Präsidenten Evo Morales Ayma (seit 1995) habe sich die Armutsquote Boliviens von 60 % auf 49 % reduziert, der Anteil der extremen Armut von 34 auf 23,4 %. »Wir müssen (auf Bolivien) hören und (von dort) lernen,  denn dieses Land hat einen für unsere Region wichtigen Weg beschritten, einen einzigartigen.« Ein Weg, sei angemerkt, der von Seiten der USA und unter Mithilfe von Angela Merkel, Dirk Niebel und ihren Parteistiftungen nach Kräften vermint wird. Dennoch ist Boliviens auswärtige Verschuldung mit nur 14 % des Bruttosozialprodukts auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Zugleich, so Ibarra, habe Boliviens »makroökonomische Politik ein jährliches Wachstum von 5,2 % ermöglicht, während die entwickelten Volkswirtschaften auf kaum einen Prozentpunkt kommen.« 

Lateinamerika zieht Investoren an, auch aus Europa und der USA. Brasilien zum Beispiel registrierte allein im Jahr 2011 ausländische Direktinvestitionen von rund 60 Mrd. US$, fast ein Zehntel der 660 Milliarden, die von 1947 bis Ende 2010 ins Land kamen. Wie werden diese Gelder angelegt? Laut Banco Central zu rund 17 % im Bereich der Banken und Finanzdienstleistungen, zu 9 % in der Getränkeindustrie und Übernahme von Mineralquellen (im Gegensatz zu Venezuela und Bolivien gibt es in Brasilien keinen verfassungsmäßigen Schutz vor privater Vermarktung der Süßwasserreserven, die etwa 12 % des Planeten ausmachen), weitere 8,5 % in der Ausbeutung der Öl- und Erdgasvorkommen (laut Agência Nacional de Petróleo: 28 Mrd. barrels, bzw. 824 Mrd. Kubikmeter) und 7 % im privatisierten Kommunikationswesen. Vereinfacht: Investitionen, die auf Abschöpfung von Zinsen, Geld- und Währungsgeschäften abzielen, auf natürliche Ressourcen und auf vormals staatliche und kommunale Dienstleister. Nicht aber auf eine langfristige, wert- und strukturschaffende Industrieproduktion. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt machte 1984 noch 27  % aus, im Jahr 2010 nur 15,5 % (DIEESE). Noch können die internationale Nachfrage nach brasilianischen commodities (Soja, Zucker, Fleisch, Kaffee, Ethanol und Rohstoffe) und der Bedarf an internen Dienstleistungen das Schwächeln der Industrieproduktion ausgleichen. Ihr Ausbau aber, ihre Konkurrenzfähigkeit und die nötigen Voraussetzungen in Bildung und Forschung interessieren die momentanen sozialdemokratischen Entscheidungsträger so wenig wie die internationalen Anleger, am allerwenigsten die US-amerikanischen. Für God's own country hat Lateinamerika wie eh und je Rohstoffe zu liefern und Fertigprodukte zu konsumieren. Die traditionellen imperialistischen Instrumente zur strukturellen Anpassung Lateinamerikas, nämlich der internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation (WTO) und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), sind jedoch längst entlarvt und überholt. Das Jahr 2011 machte China zum größten Handelspartner Brasiliens (31 Mrd. US$), zum zweitgrößten Venezuelas (28 Mrd.US$) und Argentiniens. Die chinesische Partnerschaft erlaubte auch Bolivien, Nicaragua, Ecuador und Uruguay mehr Distanz zur USA. Dabei halfen klare nationale Wahlergebnisse und neue gemeinsame Perspektiven. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez Frias, unbeirrter Vorarbeiter der lateinamerikanischen Integration - die US-Medien setzen auf sein Krebsleiden - brachte am 2. und 3. Dezember zum ersten, auch in Europa weitgehend registrierten Gipfeltreffen der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) 33 amerikanische Nationen an einen Tisch. Ohne die USA und Kanada und zum Nachteil von deren neokolonialistischen Freihandelskonstrukten NAFTA und ALCA. »Latin America in Revolution« titelte Eva Golinger, die wohl kompetenteste Chronistin lateinamerikanischer Befreiungsschritte, in Global Research, und »Latin America no longer for sale« die New Yorker Venezuela Analysis. Das neue Plenum baut auf der 2004 von Kuba und Venezuela begründeten erfolgreichen Bolivarischen Allianz der Völker unseres Amerikas (ALBA) auf und schließt die bestehenden regionalen politischen und wirtschaftlichen Integrationsmechanismen ein, z.B. die Union südamerikanischer Nationen (UNASUR) und die Entwicklungsbank des Südens Banco del Sur. Kubas Staatsratvorsitzender Raul Castro Ruz faßt dies wie folgt zusammen: »Es wäre ein ernster Fehler, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sich Lateinamerika und die Kariben geändert haben und daß wir nicht mehr so behandelt werden können wie in der Vergangenheit. Wir mußten hart arbeiten, um gegen die Bürde des Kolonialismus und Neokolonialismus anzukämpfen, und man kann sich auf eine feste regionale Entschlossenheit einstellen, wenn es darum geht, die Unabhängigkeit zu verteidigen, die wir erreicht haben.« Unterdessen besetzten US-Bürger Wall Street und öffentliche Plätze in mehreren hundert Städten. Und ihre Regierung verlängerte den Grenzzaun zu Mexiko selbst unter Wasser…….  Ein schlechtes Jahr für die USA.  [2]


 
Quellen: http://seniora.org/index.php?option=com_content&task=view&id=797&Itemid=59
sowie  http://seniora.org/index.php?option=com_content&task=view&id=776&Itemid=58
Mit freundlicher Erlaubnis der  Zeitschrift Ossietzky  für Politik Kultur und Wirtschaft  

Wolf Gauer, Filmemacher und Journalist, lebt seit 1974 in São Paulo. Er schreibt für Ossietzky und andere deutschsprachige Periodika