Zum EU-Rettungsschirm 30.10.2011 19:06
d.a. Es lässt sich durchaus argumentieren, dass der in jedem Artikel zum EFSF überaus zahlreich erscheinende Begriff der »öffentlichen Hilfe« auf nicht
zu
übersehende Weise insofern eine diskrete Verschleierung erfährt, als
es der über unser Los entscheidenden Brüsseler Crew so gut wie nie passiert,
diese bei ihrem wirklichen Namen zu nennen und hier von Steuern zu sprechen. So
liest man denn auch, dass die Banken nun bereit seien, über den Verzicht von 50
% ihrer Forderungen an Griechenland zu verhandeln, dass jedoch die Euro-Staaten
im Gegenzug weitere ›öffentliche
Hilfe‹ in Aussicht stellen;
selbstredend ohne jegliche Mitsprache der Bürger. Und dieser kann sich ohnedies
lediglich im Stich gelassen fühlen, hat sich doch die Mehrheit der über die
Erweiterung des Europäischen Finanzstabilitätsfonds abstimmenden deutschen
Parlamentarier mit ihrem ›Ja‹ - obwohl die damit verbundenen
Gefahren rückhaltlos aufgezeigt worden waren - als treue Diener ihrer Herren
erwiesen. Damit wird sich der Steuerzahler ein weiteres Mal für die
›öffentliche Hilfe‹ zusätzlich verschulden müssen. So heisst es denn auch ganz
einfach: Auf der Grundlage des Schuldenschnitts »ist der ›öffentliche Sektor‹ der
Gipfelerklärung bereit, Griechenland bis 2014 mit zusätzlichen Krediten von bis
zu 100 Milliarden € zu unterstützen«, von denen wohlweislich nicht ein Euro
vorhanden ist. Es ist bereits abzusehen, dass das gesamte Prozedere
darauf hinauslaufen wird, dass jede Art von Deckung, bleibt die Rückerstattung
von Krediten aus, zum Schluss an eben diesem geschundenen Steuerzahler hängen
bleibt. Diese für die übrigen EU-Bürger gestrickte ›Finanzzwangsjacke‹ ist die
griechische Bevölkerung offenbar nicht willens, zu erkennen. Des weiteren sind
sie nicht bereit, auf die angedrohten Massnahmen der Behörden zu reagieren,
wenn es um Steuerhinterziehung geht. Steuerhinterziehung
ist Volkssport in Griechenland. Laut Schätzungen werden jährlich 30 % =
rund 20 Milliarden € an Steuern hinterzogen. Damit könnte das gesamte
Haushaltsloch in diesem Jahr gestopft werden. Doch den Griechen scheint das
ebenso egal zu sein wie der Warnschuss der Behörden. Am Abgrund zocken sie
einfach weiter. Auch sonst erweisen sie sich bei ihren fortgesetzten
Demonstrationen, schonend ausgedrückt, als äusserst unklug, da die sich dabei
ereignenden Zerstörungen ihren Haushalt aufs neue belasten - es sei denn, man
baut ganz einfach darauf, dass ihnen ›die öffentliche Hilfe‹ auch hier unter
die Arme greifen wird.
Eine
weitere regelrechte Verdummung besteht aus meiner Sicht in der von den
EU-Staaten in diesem Zusammenhang an den IWF ergangenen Aufforderung, sich an
dem geplanten, bis Ende des Jahres auszuhandelnden zweiten
Griechenland-Programm zu beteiligen. Diese Beteiligung müssen sie doch
ebenfalls finanzieren, das Kapital des Internationale Währungsfonds
besteht doch aus nichts anderem als aus Steuergeldern, die von den
Mitgliedern in Form ihrer Beiträge jedes Jahr eingezahlt werden. Und von ihnen sind
über die Jahre hinweg nachweislich Milliarden an Steuern für immer wieder
auftretende Finanzkrisen in den Sand gesetzt worden. Mit anderen Worten: Auch
hier dienen ausschliesslich die von uns erarbeiteten und entrichteten Steuern
dazu, für die Schäden, die durch die von anderen Staaten begangene Korruption
und Steuerflucht entstehen, aufzukommen.
Die Neue Zürcher Zeitung Nr. 252 vom 28. 10.
2011 teilt bezüglich des IWF folgendes mit: »Die Schweiz soll bis Ende 2012 die
Kapitalverdoppelung des IWF ratifizieren. Laut Schweizer Währungshilfegesetz
›kann der Bund einzelnen Staaten oder Staatengruppen Währungshilfe in Form von
Darlehen und Garantien gewähren und diese Aufgabe an die SNB delegieren. Für
Kredite, die die SNB vergibt, übernimmt der Bund dann das Ausfallsrisiko; diese
Garantien müssten vom Parlament gutgeheissen werden‹.« Im Klartext: Erstens kann
auch die Kapitalverdoppelung lediglich über eine substantielle Aufstockung der
jährlich von den Mitgliedern eingezahlten Steuergeldern erfolgen; zweitens gibt
der IWF damit zu erkennen, dass er mit weiteren Finanzkrisen rechnet Auch das
bedeutet - ohne Scheuklappen gesehen - die Ausbeutung der arbeitenden Schicht.
Und was uns niemand sagt, wir zahlen immer zweimal, also ganz gleich, in
welcher Form neuerliche, an fremde Staaten gewährte Kredite geleistet werden;
der Bund stellt nun einmal nichts anderes als den Bürger dar, so dass jede
ausfallende Rückerstattung zu Lasten der Bevölkerung geht. Hier die Beiträge
der Schweiz beim IWF per Mai 2011: 3,45 Milliarden SZR (Sonderziehungsrechte,
die Währungseinheit des IWF), das sind ca. 2,5 Milliarden Schweizer Franken. Siehe
hierzu auch http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1193 Kann der IWF die Welt retten? In der Ausgabe
des Sterns vom 27. 10. war ein
anlässlich der Brüsseler Krisensitzung aufgenommenes Foto abgebildet, auf dem
der polnische Ministerpräsident Donald Tusk Angela Merkel einen Handkuss gibt.
Warum auch nicht? Weiss er doch, dass im Fall des Abrutschens gefährdeter
EU-Mitgliedsstaaten die Deutschen diejenigen sind, denen die Hauptlast
aufgebürdet wird.
Im
nachfolgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Artikel von Prof. Heiner Ganßmann,
›Wir sind der Markt - Spekulation und Alltag‹
Ob wir
Zeitung lesen, Radio hören oder fernsehen, immer ist in diesen Krisenzeiten von
den »Märkten« die
Rede. Obwohl sie dauernd in den Nachrichten auftauchen, also offenbar genau
beobachtet werden, ist der herrschende Eindruck, daß sie große, anonyme Mächte
darstellen. Selbst wenn von Investoren oder Anlegern die Rede ist, also
immerhin von Personen, erfährt man selten, um wen es sich handelt. Weil Roß und
Reiter nicht benannt werden, assoziieren wir mit diesen »Märkten«
irgendwelche Zusammenrottungen oder Verschwörungen gieriger Spekulanten,
Banker, Heuschrecken, Hedgefonds, Krisengewinnler. Bei den »Märkten« geht es
um die Finanzmärkte, vorzugsweise die Börsen. Und was da gehandelt wird, sind
Waren zweiter oder dritter Ordnung: Aktien, Devisen, Schuldverschreibungen und
Derivate. Es geht um Papiere, auf denen Unternehmensanteile, Eigentumsrechte,
Zahlungsverpflichtungen, Fremdwährungsguthaben, Warentermingeschäfte notiert
sind. Warum ist der Handel mit solchen Objekten aufregender als der mit Konsum-
oder Produktionsgütern? Was die Finanzmärkte von normalen Märkten
unterscheidet, ist der höhere Anteil rein spekulativer Transaktionen. Die
Marktteilnehmer sind so nervös und erregbar, weil sie mehr oder weniger
riskante Wetten abschließen und auf hohe Gewinne hoffen. Es ist wie beim
Hahnenkampf in südlichen Ländern. Dramatisch ist nicht der Kampf, nicht die
Frage, welcher Gockel den anderen niedermacht. Die Emotionen kommen ins Spiel,
weil die Zuschauer vor dem Kampf auf den Ausgang gewettet haben. Jetzt hoffen
und bangen sie: Ist der Einsatz verloren, oder vermehrt er sich?
Das
Börsengeschehen ist Spekulation. Es geht also weniger ums Kaufen und Verkaufen
als vielmehr darum, daß die Beteiligten Preis- oder Kursentwicklungen
antizipieren, um dank ihrer Antizipation Gewinne einzustreichen; oder daß sie
Preisdifferenzen und –inkonsistenzen beobachten, die Arbitragegeschäfte [1]
ermöglichen. Bei beiden Formen der Spekulation ist der Faktor Zeit
entscheidend: Gewinne macht, wer eine Chance als Erster sieht und nutzt.
Dadurch kommt die Hektik auf, die das Börsengeschehen so aberwitzig aussehen läßt
und die durch Nutzung modernster Kommunikationstechniken immens gesteigert
wird. Das Prinzip bleibt jedoch gleich. Wer als Erster die Information hat, daß
die Kaffeeernte in Nicaragua wegen Unwetterschäden schlechter ausfallen wird,
kann erhöhte Preise antizipieren und schnell zu dem Preis kaufen, der auf den
alten Ernteerwartungen beruht, um ebenso schnell wieder zu verkaufen, wenn die
neuen Erwartungen ›eingepreist‹ sind. Und wer um die
Zahlungsfähigkeit der Leute weiß, denen mit Hilfe von Subprime-Hypotheken
fragwürdige Immobilien verkauft wurden, kann deren Schuldnerverhalten
beobachten und, sobald eine relevante Zahl die Zahlungsverpflichtungen nicht mehr
erfüllt, darauf wetten, daß die Kurse für die aus diesen Hypotheken
zusammengebastelten Wertpapiere sinken. Das Wetten auf Kursfall nennt man ›short sales‹, ›Leerverkäufe‹. Obwohl diese neuerdings einen
schlechten Ruf haben, gehören sie - im Unterschied zu ungedeckten Leerverkäufen
- zum normalen Börsengeschehen. Bei beiden handelt es sich um Spekulation auf eine
Baisse, also auf fallende Kurse. Früher war das Wissen um diese Abläufe nur
etwas für Eingeweihte. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Aber die
globale ›financialisation‹ hat inzwischen dazu geführt, daß der
Schwanz der Finanzmärkte mit dem Hund der Weltwirtschaft wedelt: weshalb die
ganze Welt betroffen ist, wenn etwas schiefgeht. Darum wird der verbreitete
ökonomische Analphabetismus, das Unwissen über die Funktionsweise der
Finanzmärkte, immer mehr zum Problem. Politiker wie Wähler scheinen dem Auf und
Ab der Märkte nicht nur machtlos, sondern auch kognitiv hilflos
gegenüberzustehen. Aber wenn es in Demokratien überhaupt eine Chance geben
soll, die Finanzmärkte durch neue Regeln wieder einzuhegen, muß das allgemeine
Verständnis der typischen Finanztransaktionen entschieden zunehmen.
Deshalb
ist es auch fatal, wenn in der Berichterstattung über das Finanzsystem beim
pauschalen Gerede von den Märkten die wirklichen Akteure wie hinter einem
Schleier verschwinden. Wobei häufig bereits die triviale Einsicht verlorengeht,
daß zu jeder Markthandlung mindestens zwei Akteure gehören. Ihr Zusammenspiel
beginnt mit schlichten Mitteilungen. A sagt: Ich kaufe Ware x zum Preis p, B
sagt: ich verkaufe Ware x zum Preis p+; C sagt: ich verleihe Geld zum Zins z, D
sagt: ich leihe Geld zum Zins z. Ist mit diesen Signalen ein Interesse an einer
Transaktion geweckt, kann man verhandeln. Wenn sich A und B auf einen Preis
einigen, findet ein Handel statt; wenn nicht, eben nicht. Die Mitteilungen
können sich auch zu Transaktionsketten vervielfältigen, über die hochkomplexe
Kooperationsmöglichkeiten realisiert werden. Dabei folgen
die Akteure der einfachen und uns allen vertrauten Maxime der Geldwirtschaft:
Billig kaufen und teuer verkaufen; oder billig leihen und teuer verleihen.
Was spielt
sich nun bei der typischen Baisse-Spekulation ab? Beim Leerverkauf erwartet
Akteur S das Sinken des Marktpreises einer Aktie. S leiht sich von Akteur A
gegen eine Gebühr die Aktie, mit dem Versprechen, sie zu einem späteren
festgesetzten Zeitpunkt zurückzugeben. S verkauft die geliehene Aktie zum
aktuellen Marktpreis an Akteur B. Wenn alles läuft wie erwartet, kauft S die
Aktie zum gesunkenen Preis von einem weiteren Akteur C und kann sie pünktlich
wieder an A zurückgeben. Diese Transaktionskette lohnt sich für S nur dann,
wenn der Preis tatsächlich wie erwartet sinkt und sein Gewinn größer ist als
die Gebühr, die er an den Verleiher der Aktie zahlt. Aber warum verleiht A, als
erster Transaktionspartner von S, seine Aktie, statt selbst das Geschäft zu
machen? Weil A die Aktie gar nicht verkaufen will, durch Ausleihen aber
zusätzlich (zur Dividende oder dem erwarteten Kurszuwachs) verdienen kann. Für
A ist die angebotene Gebühr also wie ein Zins auf verliehenes Geld. B wiederum
kauft die Aktie von S, weil er, anders als S, einen stabilen oder steigenden
Kurs erwartet oder mehr Aktien des betreffenden Unternehmens erwerben will
(etwa um seinen Einfluß auf das Unternehmen zu stärken). Der vierte Transaktionspartner
C verkauft seine Aktie an S, weil er einen noch größeren Kursverlust erwartet
oder vielleicht Geld braucht. Beim ›ungedecktem
Leerverkauf‹ verkauft S die Aktie an
B, bevor er überhaupt einen A gefunden
hat, der ihm diese verleiht. Wenn sich die Preise anders als erwartet
entwickeln, riskiert er also, daß er nach dem Verkauf einer Aktie, die er gar
nicht hat, keinen Verleiher dieser Aktie findet. Sein Geschäft ist geplatzt. Es
ist nicht immer einfach, all diese Operationen als das zu erfassen, was sie
sind: eine Abfolge von paarweisen Interaktionen.
Bullen und Bären und
ein Rudel Wölfe
Bevor die ›Märkte‹ zu einem ›Rudel Wölfe‹ degenerierten, beschrieb man das spekulative
Börsengeschehen noch mit dem metaphorischen Rückgriff auf zwei Arten von
Biestern: als Kampf zwischen Bullen und Bären. Die Bullen sind dabei zum
Beispiel die Organisatoren von Immobilienfonds und die Halter der
entsprechenden Papiere, die ein Interesse an stabilen oder steigenden Kursen
haben. Sie wehren sich gegen Kursverluste, indem sie versuchen, einen
preisdrückenden Verkäuferüberhang durch eigene Zukäufe auszugleichen, so wie es
derzeit die EZB mit den Staatsschuldenpapieren der ›Pigsi‹ (die um Italien
erweiterte Gruppe der ursprünglichen Pigs-Staaten Portugal, Irland,
Griechenland, Spanien) macht. Gleichzeitig wollen die auf fallende Kurse
setzenden Leerverkäufer, die Bären, die anderen davon überzeugen, daß es
höchste Zeit ist, auszusteigen. Mitunter hilft eine gezielte Desinformation,
die Preise zu drücken - oder eine koordinierte, blitzartige Verkaufsaktion. Wenn
sich die Kursstabilisierer in einer kritischen Situation noch einmal
durchsetzen, verlieren die Bären, die zu früh auf Kursverluste gewettet haben.
Setzen sich dagegen die Baisse-Spekulanten durch, verlieren die Bullen über den
Kursverlust hinaus auch noch ihre für die Stützungskäufe eingesetzten Mittel.
Bei diesem Duell können die Einsätze und Risiken beider Parteien sehr hoch sein,
weil häufig große Räder mit wenig eigenen Mitteln und viel Kredit gedreht
werden. Entscheidend für den Erfolg sind dabei Timing und Tempo der Transaktionen.
Eben deshalb spielen Gerüchte, Antizipationen, Hektik, Angst oder Euphorie die
große Rolle, die Finanzmärkte von normalen Märkten unterscheidet. Das
überkomplexe Kuddelmuddel des globalen Finanzsystems scheint akut auf eine
Katastrophe hinauszulaufen. Läge es da nicht nahe, das Heil in einfachen
Lösungen für komplizierte Probleme zu suchen, also Spekulation, dann Börsen,
dann Kredit und schließlich Geld abzuschaffen? Träume von einer einfachen Welt
helfen leider nicht. Angesagt ist aber ein genauerer Blick auf die Spekulation. Den Investoren kommt es
nicht darauf an, das ihnen anvertraute Geld so zu verwenden, daß die Eigentümer
daraus langfristig ein möglichst sicheres und hohes Einkommen beziehen. Sie
zielen vielmehr auf schnelle Gewinne mittels Antizipation der
Durchschnittsmeinung hinsichtlich der Wertentwicklung einer Anlage, um dann die
erwarteten Wertschwankungen auszunutzen. Diese Investoren orientieren sich
gerade nicht an den berühmten ›Fundamentaldaten‹, bei Aktien etwa an der Produktivität
oder Innovationsfähigkeit eines Unternehmens als Grundlage seines erhofften
Markterfolgs oder an der erwarteten Dividende. Sondern allenfalls an der
Vermutung, wie veränderte Fundamentaldaten das Anlageverhalten der anderen
Marktteilnehmer beeinflussen könnten. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Wenn
Kurse der Aktien von Automobilunternehmen oder Banken schlagartig um 20 % fallen,
um sich noch am selben Tag wieder zu ›erholen‹, hat das nichts mit den realen
Gewinnaussichten der Unternehmen zu tun. Hier handelt es sich um Spekulation auf Kursverluste und den
Wiedereinstieg in den Kauf, wenn die Kurse hinreichend gefallen sind. Dabei ist
häufig auch ein Herdenverhalten im Spiel, weil viele Anleger bei einer
plötzlichen Kursbewegung nicht auf Papieren sitzen bleiben wollen, die eine
halbe Stunde später 10% weniger wert sind. Dann verkaufen auch sie noch
schnell, zumal sie dasselbe Papier vielleicht binnen einer halben Stunde für
ein paar Prozent weniger zurückkaufen können. Angesichts solchen Verhaltens
stellt sich die Frage: Warum behandeln wir die Finanzmärkte nicht wie einen
Zoo, in dem eine merkwürdige Spezies bei ihren merkwürdigen Spielen zu
betrachten ist? Die Antwort: Hinter den dauernd beschworenen ›Märkten‹, die angeblich unausweichliche Sachzwänge exekutieren, steckt
nichts anderes als wir selbst - und unser Geld. Wenn in den Börsennachrichten
von Anlegern oder Investoren die Rede ist, stellen wir uns Leute vor, die ihr
eigenes Geld, die berühmten ›freien
Spitzen‹ aus hohen Einkommen,
gewinnbringend mal hierhin, mal dahin schieben. Und wir gehen davon aus, daß sie
sich über die Ertragsaussichten eines Unternehmens oder die Zahlungsfähigkeit
eines Staats genau informiert haben. Diese Vorstellung ist irrig. Tatsächlich
sind die Anleger zumeist Angestellte, deren Beruf es ist, das Geld anderer so
zu nutzen, daß ihr Arbeitgeber - häufig eine Bank - gute Gewinne macht und
zugleich die Zinsen einspielt, die dem tatsächlichen Eigentümer versprochen wurden.
Vor kurzem
mußten die Anleger in Staatsanleihen feststellen, daß diese Käufe keine gute
Idee waren. Denn in Griechenland, Irland und Portugal, aber scheinbar auch in
Spanien und Italien, ist der Staatsschuldenberg so stark gewachsen, daß sich
jeder, der bis drei zählen kann, ausrechnen kann: Das Geld kommt nicht zurück,
jedenfalls nicht ohne ›haircut‹. Wer das zuerst merkt, hat ein
schönes Objekt für Baisse-Spekulation gefunden. Gelingt sie, fallen die Preise,
und deshalb versuchen immer mehr Anleger, diese Staatsanleihen zu verkaufen. In
der verqueren Sicht der Finanzmärkte wird dieses Ereignis allerdings nicht als
das dargestellt, was es ist, nämlich ein herber Verlust für alle, die diese
Papiere einmal teurer gekauft haben, als sie sie nun verkaufen. Vielmehr ist
primär von einer Staatsschuldenkrise die Rede, die sich an dem steilen Anstieg
der Erträge etwa auf griechische Staatsschuldenpapiere ablesen läßt. Diese
Erträge gelten als Risikoaufschläge. So entsteht der Eindruck, als müßten
Portugal oder Griechenland sofort höhere Zinsen für ihre Schulden zahlen. Das
ist aber nicht der Fall, jedenfalls dann nicht, wenn der betroffene Staat
aktuell keine neuen Staatsschuldenpapiere ausgibt. Die ausgerufene Krise ist
vielmehr ein Zweitmarktproblem, es geht also um den Handel mit bereits in
privaten Händen befindlichen Papieren. Wenn der betreffende Staat seine
Zahlungsverpflichtungen einhält, erzielen die neuen Käufer tatsächlich höhere
Erträge. Wenn nicht, haben sie sich verspekuliert, und die Verkäufer hatten
recht, weil sie ihre Verluste klein halten konnten. Der Witz an dieser Art, das
Risiko von Anlagen in Staatsschulden mit Hilfe der aktuellen Erträge auf
bereits ausgegebene Staatsobligationen darzustellen, besteht vor allem in dem
erzeugten Eindruck, daß nicht die privaten Halter der Staatspapiere in der
Krise stecken, sondern der betreffende Staat, auch wenn er, etwa weil er unter
den Eurorettungsschirm gezwungen wurde oder die Europäische Zentralbank interveniert, aktuell gar nicht auf dem Markt
auftritt. So entsteht politischer Handlungsbedarf. Da die Wirtschaftsmedien
davon ausgehen, daß die Märkte immer recht haben, steht nun ein Staat als
hochriskanter Schuldner dar. Also fragt sich auf einmal alle Welt, was zum
Beispiel in Griechenland los ist. Dabei kommt dann naturgemäß einiges zutage,
aber selten etwas wirklich Neues: Vetternwirtschaft, schlechte Steuermoral, ein
aufgeblähter öffentlicher Sektor. Was bedeutet dies für den betroffenen Staat?
Er hätte ein akutes Problem mit den Märkten erst dann, wenn er entweder
umschulden oder neue Schulden aufnehmen müßte. Er hat zweitens jedoch ein
Problem mit seinen ›Rettern‹, der EZB, den anderen Euroländern und
dem IWF, die auf Sanierung der Staatsfinanzen mittels Privatisierungen und
drastischer Sparprogramme pochen. Dummerweise wird dabei der Patient nicht
gesund, weil die Austeritätspolitik die Wirtschaft einbrechen läßt, womit die
Aussichten auf Stabilisierung hinüber sind. Die Kollerateralschäden des Spiels
treffen alle
Aber war
da nicht noch was? Schließlich haben auch solche Staaten, die zurzeit von den Märkten
unter Druck gesetzt werden, erst vor zwei, drei Jahren diese Märkte vor sich
selbst gerettet. Und die Regierungen der reichen Länder haben - zu Lasten der
unbefragten Steuerzahler - Unsummen in das Finanzsystem gesteckt. Wie kommt es,
daß die Märkte jetzt den Spieß umdrehen können? Wie konnte aus der Finanz- und
Bankenkrise eine Fiskalkrise auch der reichen Länder werden?
Viele
Staaten sind so enorm verschuldet, weil die Regierungen unter Verweis auf das
berühmte systemische Risiko - too big to fail - ›ihre‹ Banken retten
mußten. Das sind bekanntlich Institute, die sich ansonsten als Global Players
geben und ihre Steuern gern dort zahlen, wo sie am niedrigsten sind.
Wie sich im Gefolge der Lehman-Pleite gezeigt hat, genügt der Bankrott weniger
wichtiger Banken, um eine Kettenreaktion auszulösen, die in den Zusammenbruch
des gesamten Finanzsystems zu münden droht. Ohne staatliche Interventionen wäre
damals wohl die gesamte Weltwirtschaft in Schockstarre verfallen. Wenige Jahre
später sind die Retter in der Krise. Da die Staaten bei der Bankenrettung hohe
Schulden aufgenommen haben, ist jetzt ihre Kreditwürdigkeit bei den Anlegern
beeinträchtigt. Aber wer sind diese ›Anleger‹? Womöglich dieselben Akteure im
Finanzsystem, die gerade mit Staatshilfen gerettet wurden? Wir erfahren es nicht.
Im wolkigen Gerede von den Märkten bleiben sie unsichtbar. Was wir sehen, ist
eine parallel zur Finanzkrise entstandene Fiskalkrise, die vagabundierend einen
Nationalstaat nach dem anderen ergreift. Weil ein insolventer Staat seine
Kreditgeber und damit die Banken der andern Staaten gefährden kann, deren
Rettung wiederum zu neuen insolventen Staaten führen würde, dreht sich ein
gigantisches Krisenkarussell. Ebenso gigantisch ist das Dilemma, vor dem damit
die Regierungen stehen. Denn nun müssen die weniger kreditwürdigen Staaten, die
eine Massenflucht der Anleger aus ihren Schuldenpapieren erleben, von den noch
kreditwürdigen gerettet werden. Die sind zur Hilfe für die Wackelkandidaten
schon deshalb genötigt, weil sonst ›ihre‹ Banken erneut gefährdet wären. Hier
läuft vor unseren Augen, aber auf abgehobener Ebene, ein undurchsichtiges Geschehen
ab: Die Spekulation geht weiter, die Börsen fahren Achterbahn; und die
politischen Akteure sehen hilflos zu, weil sie nicht verstehen oder verstehen
wollen, was ihnen passiert *. Dummerweise können wir uns als staunendes
Publikum nicht schulterzuckend abwenden. Denn die Kollateralschäden dieses
Spiels treffen uns alle, und sie kommen teuer. Die seit langem anhaltende
Globalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungsmanie hat bewirkt, daß es
- jedenfalls im entwickelten Teil der Welt - fast niemanden mehr gibt, der in
dieses Spiel nicht eingebunden wäre. Auch wer kein großes Vermögen, sondern nur
ein Bankkonto und ein paar Rücklagen besitzt, verspürt die Krise als
persönliche Bedrohung. Von den früher oder später eintretenden Folgen für den
Arbeitsmarkt ganz abgesehen.
Was tun?
In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind wir auf Koordination und Kooperation
angewiesen: darauf, daß andere etwas für uns und wir etwas für andere tun.
Deshalb gibt es keine einfachen Lösungen, wie etwa die Abschaffung der
Spekulation oder der Banken oder gar des Geldes. Aufgrund wechselseitiger
Abhängigkeiten müssen wir auch im Bereich der Wirtschaft unsere Interessen von
Repräsentanten, etwa von sachkundigen Geldverwaltern, wahrnehmen lassen. Im
Bereich der Politik erwarten wir, daß sich eine gewählte Kaste gegenüber den
Interessen des Volkes, das sie zu vertreten vorgibt, nicht allzu weit
verselbständigt. Nötigenfalls muß sie abgemahnt oder abgewählt werden. Aber
genauso sollten wir auch die Akteure auf den Finanzmärkten als Repräsentanten
unserer Wirtschaftsinteressen zurückpfeifen können. Ottilie und Otto
Normalverbraucher möchten nicht, daß jemand unbeauftragt mit ihren Ersparnissen
spekuliert. Und schon gar nicht, daß sie, wenn es schiefgeht, von ihren politischen
Repräsentanten gezwungen werden, mit ihren Steuern für immense
Spekulationsverluste geradezustehen. Die ›Märkte‹, gegenüber denen sich die Politik
ohnmächtig stellt, sind ein Fetisch. In Anlehnung an den trotzigen Ruf: ›Wir sind das Volk!‹ ist es Zeit für den Ruf: ›Wir
sind der Markt!‹. Das bedeutet, die ›Märkte‹ in die Verfügung derjenigen zurückzuholen, die sie ermöglichen
und zugleich von ihnen betroffen sind. So wie wir politische Repräsentanten
haben wollen, die auf vernünftige Weise unsere langfristigen Interessen
wahrnehmen, brauchen wir Finanzinstitutionen, die sich verantwortlich um unser
Geld kümmern. Die sollen also nicht nur den Geldwert stabil halten, sondern die
Spekulation durch Entschleunigung, Besteuerung und Reregulierung in sozialverträgliche
Grenzen bannen
Der von politonline hier in gekürzter Form veröffentlichte
Originalartikel erschien in der Ausgabe
von LE MONDE DIPLOMATIQUE Nr. 9623 vom 14. 10. 2011 © Le Monde diplomatique, Berlin
Heiner
Ganßmann ist Professor emeritus für Soziologie an der Freien Universität
Berlin. Zuletzt erschien von ihm: ›Doing Money. Elementary Monetary Theory from a Sociological
Standpoint‹, New York (Routledge) 2011; alle
Hervorhebungen durch politonline
[1] Arbitragegeschäfte
funktionieren so: Ein Eurobesitzer möchte Schweizer Franken (CHF) kaufen. Für
einen Euro bekäme er 1,10 CHF. Gleichzeitig kann er für einen Euro 1,40
US-Dollar kaufen. Wären die Wechselkurse konsistent, bekäme man für einen
Dollar (1,10/1,40=) 0,78 CHF. Wenn man aber für 1 Dollar 0,80 CHF kaufen kann,
lohnt sich der indirekte Tausch. Man wechselt erst Euro in Dollar, dann Dollar
in Schweizer Franken und bekommt so für den Euro 1,12 CHF.
* siehe auch den Artikel auf Seite 6 der
Ausgabe LMD 9623 vom 14. 10. 11
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