Ein Interview mit Joschka Fischer

Was ein Presseprodukt dieser Art erschliesst oder auch nicht, dürfte aus der nachfolgenden Replik hervorgehen:

Sehr geehrter Herr Beglinger,
 
hiermit erlaube ich mir, auf Ihr Interview mit Fischer, das im Magazin Nr. 7 der Basler Zeitung erschien, einzugehen, da man dieses für meine Begriffe nur als »auf Samtpfoten daherkommend« bezeichnen kann. Mit derartigen Ausführungen, denke ich, ist dem Leser nicht unbedingt gedient.
 
Zur Frage der Souveränität
Sie bezeichnen Fischer, der heute beim neoimperialistischen »European Council on Foreign Relations« (ECFR), einer, könnte man sagen, ›paneuropäischen‹ Denkfabrik, eine führende Rolle spielt, »als einen leidenschaftlichen Europäer«, unterlassen es aber, anzufügen, für was für eine Art Europa er steht: Fischer verurteilte bekanntlich im Juli 2009 die Entscheidung des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag, die dem deutschen Bundestag und dem Bundesrat grösseren Einfluss sichert. Er behauptete, dies sei eine nationalistische Sichtweise, die darauf abziele, eine Supranationalisierung Europas zu verhindern. Wobei sich letztere mit der blanken Entnationalisierung der EU-Mitgliedstaaten gleichsetzen lässt. Man muss wissen, dass im Jahre 2002 in Anlehnung an den Mitchell-Bericht [George Mitchell war Senator der US-Regierung] unter der Ägide Fischers, damals noch Aussenminister, und der Bertelsmann-Stiftung die sogenannten Kronberger Gespräche stattfanden. Diese gipfelten darin, die Souveränität von Staaten weltweit zu beseitigen, ja, im Interesse der Schaffung einer Weltherrschaft der Amerikaner vom Nahen Osten bis nach Indien neue Staatenverbände zu schaffen, um diese besser kontrollieren zu können 1. Die Bertelsmann-Stiftung veranstaltet jährlich stattfindende Nahost-Foren, die sogenannten Kronberger Gespräche, bei denen es um eine »vollständige Umgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Institutionen« der muslimischen Ressourcenstaaten geht, »um sie fest an die euro-atlantische Achse zu schweissen«. Wie German Foreign Policy bereits im  Jahr 2006 festhielt, »empfehlen amerikanische Armeekreise eine ethnische Neuordnung fast sämtlicher Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Territorialverluste und neue Grenzziehungen betreffen unter anderem die Türkei, Syrien, den Libanon, Saudi-Arabien, den Irak, den Iran und Pakistan. Durch Auflösung ganzer Staatenverbände sollen neue Völkerrechtssubjekte entstehen, die nach Stammes- und Religionszugehörigkeit gebildet werden«. 2 So befasst sich die Bertelsmann-Stiftung, die als der einflussreichste private Think tank Deutschlands gilt, bereits seit 1999 in einem eigenen Projekt mit der deutsch-europäischen Politik gegenüber den arabischen Staaten Nordafrikas. Ein Teil dieser Ziele scheint inzwischen für jeden erkennbar verfolgt zu werden.
 
Ansonsten bot Fischer der US-Administration in seiner Rede in der Princeton University am 19. 11. 2003 eine gleichberechtigte Partnerschaft an, um den Kampf für eine neue Weltordnung gemeinsam zu gewinnen. Diese werde internationaleOrdnungsverluste beseitigen und eine positive Globalisierung durchsetzen. Dabei müssten sämtliche Mittel zur Anwendung  kommen, so dass kriegerische Gewaltaktionen ausdrücklich nicht  ausgeschlossen seien. Mit Blick auf Libyen findet auch diese Strategie offensichtlich bereits ihre Umsetzung. »Vielmehr gelte es«, so Fischer, »die militärischen Fähigkeiten Europas zu stärken.« Und letztere, dessen dürfen wir sicher sein, werden Europa insgesamt in ein Armenhaus verwandeln. 4  Es wäre an der Zeit, dass diejenigen, welche die neue Weltordnung gerne so nachsichtig belächeln resp. sie mit Vorliebe als Verschwörung abtun, erkennen, dass es sich hier um nichts anderes als um ein in aller Unverfrorenheit öffentlich proklamiertes Vorgehen handelt, das für die totale Unterwerfung der Völker steht. Daher auch das Bestreben, nationalistische Tendenzen als ungut zu brandmarken und diese weltweit zu bekämpfen. Den Konzernen hingegen kann eine Weltregierung nur recht sein, erweitert diese doch ihre Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Politik. So hiess es etwa in der Süddeutschen Zeitung 5: Joschka Fischer: Vom Steinewerfer zum Gastprofessor. Der Gang des Ex-Aussenministers Joseph Fischer nach Princeton ist eine neue Färbung im ohnehin bunten Leben des Multitalents, das viele Rollen gab: Steinewerfer, Taxifahrer, Revoluzzer-Minister, Vordenker, Zuchtmeister, heimlicher Parteivorsitzender, oberster Diplomat.
 
Fischer erklärt mit Bezug auf die Zusammenarbeit der EU mit dem Mittelmeer-Raum, »Nur mit wirtschaftlichen Perspektiven kann auch ein demokratischer Unterbau geschaffen werden.« Wie soll letzterer aussehen, strebt Fischer, interpretiert man seine eigenen Worte, doch die Unterordnung der Staaten an, was ich als direkten Widerspruch zu einer echten Demokratie erachte. Auf Ihre Frage, ob Europa nicht mehr direkte Demokratie wagen soll, meint Fischer: »Ich will nicht mehr Schweiz und nicht mehr direkte Demokratie«, was er ja bereits zur Genüge kundgetan hat. »Die Schweiz hat eine grossartige Tradition damit, die ich bewundere, um die ich sie ein Stück weit sogar beneide.« Wer soll ihm das abnehmen? »Doch wir haben eine andere Tradition.« Und diese sehe ich so: als eine dem Bürger negierte Mitsprache bei fundamentalen Beschlüssen. Fischer selbst drückt es doch unmissverständlich aus: »Deutschland wäre nicht in die NATO eingetreten, es wäre auch nicht zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gekommen, und ebenso wenig hätten wir mittels direkter Demokratie den Euro eingeführt. Auch die Osterweiterung wäre nicht gekommen.« Richtig; allein das verkörpert in meinen Augen die totale Bevormundung. Was nun die Osterweiterung betrifft, so kommen einem unwillkürlich die Stichworte Mafia, Drogen-, Menschen- und Organhandel sowie Geldwäsche in den Sinn. »Fast alle wichtigen Entscheidungen«, fährt er fort, »wären im Sperrfeuer populistischer Ängste und Interessen hängengeblieben.« Diese Ängste haben sich voll bewahrheitet, müssen die EU-Bürger doch  jetzt auch noch für diese neu hinzugekommenen Staaten, die sich in einer nicht zu unterschätzenden Grössenordnung aus dem EU-Topf nähren, arbeiten. Und diese Gelder haben die nicht auszurottende Tendenz, zu einem respektablen Prozentsatz in der Korruption zu versickern. Fischers Sicht dagegen ist einmalig: »Und diese Entscheidungen haben sich alle als richtig erwiesen, denn sie haben diesen Kontinent stabiler gemacht und den Krieg verbannt.« Diese Stabilität weist leider eine nicht erwähnte Komponente auf, nämlich die in der EU herrschende, nie mehr tilgbare Verschuldung. Einen Krieg innerhalb der EU müsste Brüssel im Prinzip allein schon deswegen unmittelbar ersticken, fielen doch die Erträgnisse zahlreicher Bürger, die tagtäglich zur Erhaltung des EU-Mammutbetriebs arbeiten,  durch den Kriegsdienst aus. Ansonsten liegt die Richtigkeit zweier ohne Mitsprache des Souveräns erfolgten Entscheidungen vor aller Augen offen: die eine betrifft den Euro, die andere die NATO-Angriffskriege. Des weiteren lässt uns Fischer in diesem Gespräch wissen: »Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin ihre Position geändert hat und jetzt stärker in Richtung europäische Wirtschaftsintegration geht.« Verständlich, geben die Mitgliedstaaten unter einer Wirtschaftsregierung doch noch mehr Macht an Brüssel ab. Um Schuldenkrisen künftig vorzubeugen, heisst es, müssen die Euro-Staaten zudem ihre Haushaltspläne von Brüssel absegnen lassen. Auch wenn, wie Fischer darlegt, »das politische Personal nicht gerade first class ist«, worin man ihm wenigstens einmal vorbehaltlos zustimmen muss.    
 
Das ECFR, dessen Gründungsmitglied und Vorstand Fischer ist, agiert bekanntlich unabhängig, nicht zuletzt dank der grosszügigen Finanzierung des Milliardärs George Soros, der immer wieder einmal als der Superstar unter den Grossspekulanten bezeichnet wird. Wie die Bürgerrechtsbewegung Solidarität darlegt, steht Soros' ECFR dafür, den Kontinent für imperiale Kriege vorzubereiten. Erneut: einen solchen haben wir jetzt auch in Libyen, nichts anderes. Wie sich doch die satten Lügen gleichen: So erklärte Schröder 1999 an dem Tag, an dem der völkerrechtswidrige Bombenkrieg auf Jugoslawien begann: »Wir führen keinen Krieg.« 6   Eben: auch jetzt nicht gegen Gaddafi, denn hier führen wir eine humanitäre Aktion aus. Es ist unfassbar, wie wir uns verdummen lassen, ohne dass in den Parlamenten einmal ein wirklicher Aufschrei erfolgte.
 
2004 hatte Schröder eine Volksbefragung über die EU-Verfassung begrüsst, während Fischer einer solchen mit den Worten, Berlin werde den Ratifizierungsprozess der EU-Verfassung forcieren, ablehnend gegenüberstand. Nach einer Ankündigung Gusenbauers, zukünftige EU-Vertragsänderungen in Österreich per Volksabstimmung zu entscheiden, hatte Fischer diesen scharf kritisiert. »Fortan sollen, wenn es nach der SPÖ geht, alle wichtigen Änderungen des EU-Vertrags in Österreich einer Volksabstimmung unterworfen werden, und damit ist deren Ablehnung so gut wie sicher«, schrieb Fischer in seiner Montagskolumne für die Zeit online »Armes Österreich, armes Europa, das von solchen Opportunisten geführt wird.« Damit drückte er für meine Begriffe schon damals klar aus, dass der Bürger für ihn bedeutungslos- wenn nicht rechtlos ist. 7
 
Zu Fischers Jugoslawien file hier noch ein Auszug aus dem Buch des Philosophen Georg Meggle »Philosophische Interventionen«: »Als der deutsche Außenminister Joseph Fischer 1999 unter der Parole Nie wieder Auschwitz! die Deutschen aufforderte, Verständnis für die NATO-Angriffe auf Jugoslawien zu haben, pochte Meggle, der seit 1994 in Leipzig lehrt, öffentlich auf die Einhaltung des Völkerrechts. Keineswegs selbstverständlich zu einer Zeit, in der große Teile der deutschen Bevölkerung auf die Lügen zur Rechtfertigung des Krieges hereinfielen  [wie auch heute wieder bei Libyen; Anmerk. politonline]. Seit diesem Feldzug wurde in der NATO durchgesetzt, unter dem Deckmantel einer »humanitären Intervention« ohne Beschluß des UN-Sicherheitsrats Kriege zu führen.« Es war Fischer, der die Teilnahme der Bundeswehr am Kosovokrieg mit dem zynischen Argument rechtfertigte, das Erbe des Holocaust verpflichte Deutschland, auf dem Balkan einen angeblichen Völkermord zu verhindern.
 
In einem Interview mit der Basler Zeitung vom 13. 7. 2007 erklärte Fischer - in meinen Augen mit einer sagenhaft dümmlichen Überheblichkeit - »Ich glaube, dass Ihr Herr Blocher vor dem Einschlafen immer ein Stossgebet abgibt.« In dem von Fischer massgebend mitgetragenen Angriffskrieg gegen Jugoslawien starben unzählige unschuldige Menschen, Serben wie Albaner, wer also hätte hier ein abendliches Stossgebet für das, was ich als schweres Verbrechen betrachte, nötig, Fischer oder Blocher? Auch die Entsendung der Bundeswehr nach Afghanistan fällt in seine Amtszeit 8. Nun erklärt Fischer auf die Frage, ob er die Autographien von Blair, Bush und Rumsfeld gelesen hätte: »Nein, ich habe auch nichts Vergleichbares zu rechtfertigen wie diese drei Herren den Irakkrieg.« Das nennt man ein reines Gewissen!
 
Fischer führt in dem von Ihnen mit ihm geführten Interview ferner folgendes aus: »Übrigens, richten Sie doch Ihrem Land aus, dass es ein gutes Signal wäre, wenn die arabischen Potentatengelder auf den Schweizer Bankkonten bald an die rechtmässigen Eigentümer zurückfliessen.« Warum hielten Sie Fischer nicht entgegen, dass er vergisst, die City of Londen und die noch immer bestehenden offshore centres im selben Atemzug zu nennen, denn die Potentaten aller couleur können ja wohl nicht so dumm sein, ihre Penunzen in einem einzigen Land zu horten. Nein, sie sind sorgfältig verteilt, auch in seiner EU. Sie hätten Fischer ruhig erklären können, dass die Schweiz in Sachen Rückzahlung bislang eine gute Figur macht und dass Gleiches von den übrigen Fluchtgelder hortenden Staaten weitaus weniger zu vernehmen ist.
 
Was Fischers Einstellung zur USA betrifft, so ist nachfolgende, in der Ausgabe der International Herald Tribune vom 14. 5. 2004 festgehaltene Aussage durchaus wissenswert: Er erklärt uns doch wahrhaftig: »We need the United States; we need the moral leadership of the USA«. Wobei er ganz offensichtlich vergisst, sich zu fragen, wie die Saat dieser Moral allein im Irak und in Afghanistan aufgegangen ist. Diese Einstellung dürfte sich inzwischen gewandelt habe, konstatierte Fischer wenigstens im Mai 2009: »Amerika hat seine moralische Glaubwürdigkeit durch Guantánamo und Folter verloren.« In der von Fischer anlässlich der Verleihung des Eric M. Warburg-Preises an George Bush sr. gehaltenen Rede - dieser erhielt den Preis für seine Verdienste um das bundesdeutsch-amerikanische Verhältnis - hiess es u.a.: »Es ist für mich eine grosse Freude und Ehre, heute aus Anlass der Verleihung des Eric Warburg-Preises an Sie, verehrter Herr Präsident Bush, die Laudatio halten zu dürfen. Wir alle möchten Ihnen zu diesem Preis sehr herzlich gratulieren. Ich meine im Namen aller Anwesenden sprechen zu können, wenn ich feststelle, dass wir uns keinen würdigeren Preisträger vorstellen könnten.« 10  Im Sinne aller Kriegstreiber wahrlich ein würdiger Preisträger, unter dessen Präsidentschaft am 16. 1. 1991 die Operation Wüstenkrieg mit den für die Iraker verheerenden Folgen begann; schon damals kam DU-Munition zum Einsatz; die Felder wurden mit 300 Tonnen abgeschwächtem Uran bombardiert. Diese Ehrung trug sich im Jahr 2002 zu. Bezüglich der von Barack Obama in Berlin gehaltenen Rede tönte es von Fischer bezüglich des Bush-Clans dann leicht anders: »Mir hat die Begeisterung der Deutschen gut gefallen, das war eine echte Demonstration des Pro-Amerikanismus. Wenn auch deutlich geprägt von dem Wunsch: Bitte erlöse uns von George W.!« Fischer darüber hinaus: »Seine Rede in Berlin war Klartext.« Obama habe den Europäern gesagt: »Mit mir wird in Zukunft gemeinsam entschieden und dann gemeinsam gekämpft, und wenn es sein muss, auch gemeinsam gestorben.« 11  Auch auf diesem Pfad bewegen wir uns inzwischen, beide Herren mögen sich insofern gratulieren. Was den Warburg-Preis angeht, so wurde dieser auch Condoleezza Rice verliehen. 12
 
Vorschlag Türkei-Beitritt: Zum »Wohl« der EU-Bürger?
»Warum ist die Türkei aus Ihrer Sicht so wichtig«, ist eine Ihrer Fragen an Fischer. Die Antwort Fischers muss jeden, der sich mit den Vorgängen in der Bundesrepublik befasst hat, einigermassen konsterniert zurücklassen, zumal die Probleme, die die Deutschen mit in der BRD lebenden Türken haben, die Spalten der Tagespresse durchaus ergiebig füllen: »Die Türkei verfügt über eine sehr positive Entwicklung und kann zu einem Vorbild für die gesamte islamische Welt werden.« Hier dürften die Meinungen weit auseinanderklaffen; auch scheinen mir diverse Meldungen aus der Türkei durchaus nicht dazu angebracht, die positive Entwicklung zu untermauern, las man doch in der Badischen Zeitung vom 29. März: »Die türkische Regierung in einem schlechten Licht. Die Pressefreiheit wird zum Lackmustest der demokratischen Entwicklung in der Türkei. Seit vor drei Wochen zwei der prominentesten investigativen Journalisten des Landes unter dem Vorwurf verhaftet wurden, sie seien Teil eines ultranationalistischen Netzwerkes, das die Regierung stürzen wollte, wachsen nicht nur bei notorischen Regierungskritikern die Bedenken über den Kurs der Regierung von Tayyip Erdogan. Die beiden verhafteten Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener sind in der Türkei für ihre aufklärerischen Recherchen bekannt. Beide haben ihren Teil dazu beigetragen, dass die Öffentlichkeit von Putschplänen erfuhr, die ein Teil des Militärs 2003 und 2004 gegen die Regierung Erdogan geschmiedet hatte. Umso verwunderlicher war es, dass ausgerechnet diese beiden vielfach ausgezeichneten Journalisten ins Fadenkreuz der Sonderermittler gerieten, die seit 2007 unter dem Stichwort Ergenekon - unter diesem Namen werden die Putschisten und Umstürzler zusammengefasst - den nationalistischen Sumpf austrocknen sollen. Allerdings sind Sik und Sener nicht die einzigen, sondern nur die prominentesten Journalisten, denen aus ausgesprochen dubiosen Gründen vorgeworfen wird, sie gehörten zum Ergenekon-Netzwerk.« Nach 4 Jahren Ermittlungen im Fall Ergenekon sind inzwischen mehr als 300 Menschen angeklagt. Urteile wurden bis heute nicht gesprochen. Sik und Sener sitzen somit gemeinsam mit weiteren 300 Personen in einem erst in den vergangenen Jahren entstandenen Hochsicherheitstrakt im Istanbuler Vorort Silifri.
 
Daneben weist weder der jetzige Umgang der Türkei mit den Kurden, noch der Fakt, dass sich die Zahl der Kinder, die laut einer Schätzung des Istanbuler Sozialamts von ihren Familien oder aber von landesweit operierenden Gangs zum Betteln geschickt werden, auf 4000 beläuft, irgendetwas Positives auf. 13
 
Gegen eine Vorbildfunktion für islamische Länder spricht für meine Begriffe auch die negative Entwicklung der Religionsfreiheit in der Türkei, die schwerlich mit der von uns unablässig geforderten Achtung der Menschenrechten vereinbar ist; die katholische Kirche hat keinen Rechtsstatus in der Türkei, was viele Probleme bereitet, etwa beim Bau oder Erhalt von Kirchengebäuden. In Zypern befürchtet man, dass das türkische Regime Nordzyperns eine vollkommene Dehellenisierung und damit Entchristianisierung des besetzten Teils der Insel anstrebt. Dieses Verhalten, schreibt Florian Euring, nährt die Zweifel an der EU-Tauglichkeit der Türkei weiter. Es sei denn, man wünscht sich eine Entchristianisierung und Islamisierung der EU 14. Noch immer haben die nichtmuslimischen Gemeinden in der Türkei kein Recht auf Immobilienbesitz;  die Kirchen in der Türkei dürfen keine Geistlichen ausbilden; ihnen bleibt nur die Möglichkeit, sich als Stiftungen zu organisieren, die offiziell jedoch nur einen weltlichen Zweck verfolgen dürfen. 15
 
Nun hatte Frau Merkel Ende Mai letzten Jahres um mehr Verständnis für die Werte der islamischen Welt gebeten; betrachtet man die weltweit wachsende Verfolgung von Christen, so kann man diese Forderung gewissermassen nur noch als eine Einbahnstrasse sehen, auf der sich die EU hinsichtlich islamischer Forderungen einer grossen Bereitwilligkeit befleissigt, während man die das Los der Christen in muslimischen Ländern aufgreifenden Stimmen einer wahren Zaghaftigkeit zeihen muss. Wenigstens für mich spricht auch die Meldung, dass die Vielweiberei in der Türkei auf dem Vormarsch ist, kaum für eine demokratische Entwicklung. Zwar ist die Vielehe in der Türkei seit 1923 gesetzlich verboten, dennoch nehmen sich türkische Ehemänner eine zweite oder gar ein dritte und vierte Frau. Etwa 186.00 türkische Frauen müssen ihren Mann mit einer oder mehreren anderen Frauen teilen. Das zeigt die jetzt veröffentlichte Studie zweier Wissenschaftler der angesehenen Hacettepe-Universität in Ankara. 16  Fischer erklärte Ihnen, dass dieses Land seit dem Amtsantritt von Merkel und Sarkozy »zurückgestossen, brüskiert würde.« Das ist seine Sicht der Dinge, denn er versucht, die Notwendigkeit des Türkei-Beitritts mit geopolitischen Fakten zu stützen. Darüber hinaus erklärt er uns: »Wir sind doch nicht die Schweiz, wir haben keine Angst vor den Türken.« Auch dies mag er so sehen, denn hier dürften schwerste Zweifel angebracht sein, ob ihm die EU-Bürger darin folgen. Fischer glaubt, die Angstlosigkeit seiner Landsleute dadurch begründen zu können, dass er die 5 Millionen Deutsche anführt, die jährlich in die Türkei in Urlaub fahren. Nun ja; der Realität, denke ich, entspricht die enorm grosse Anzahl von Menschen, die ausgesprochen erleichtert sind, dass die Türkei bislang eben noch nicht aufgenommen wurde.   
 
Es ist schon erstaunlich, wie locker Herr Fischer alles zu nehmen weiss. »Wir haben heftige Debatten über Moscheebauten«, so Fischer, »aber wir haben mehr Moscheen als je zuvor, selbst in Bayern mit Minaretten! Und das Abendland geht deshalb nicht unter.« Noch nicht, Herr Fischer! Wie sollte es diesbezüglich auch eine Einschränkung geben, da seine Kanzlerin offen kundtat: »Die Deutschen müssten sich aber auf Veränderungen einstellen, besonders durch die Folgen der Einwanderung. Moscheen etwa werden stärker als früher ein Teil unseres Stadtbildes sein.« Der Grundpfeiler dafür ist längst gelegt, denn Moscheebauten erhalten eine staatliche Unterstützung aus Steuergeldern. Das nennt sich öffentliche finanzielle Förderung für interkulturelle Begegnungszentren resp. für Moschee-Neubauten; auf diese Weise wurden die Moscheen in Duisburg, mehrere in Berlin, Aachen etc., gefördert. Beispielsweise finanziert der Deutsche Muslimkreis Berlin e.V. seine Gemeindehelfer über 1-Euro-Jobs aus Mitteln des Landes Berlin. Daneben werden Moscheebauten auch aus Mitteln der Moscheevereine finanziert, wovon es in Deutschland inzwischen schätzungsweise rund 2.600 gibt. Gelder fliessen in aller Regel über Spenden der Moscheebesucher und nur zu einem geringen Teil über Mitgliedsbeiträge. Wenn ein Moscheeverein als gemeinnützig anerkannt ist, sind Spenden in gleicher Weise steuerlich abziehbar wie entsprechende Zuwendungen an öffentlich-rechtliche Körperschaften oder andere gemeinnützige Einrichtungen. Aus arabischen Ländern fliesst für den Bau von Moscheen und Schulen, die als Brückenköpfe einer islamischen Kultur verstanden werden, viel Geld nach Deutschland. Grosszügige Unterstützung kommt aus Saudi-Arabien, dem Iran, der Türkei. Daher sagt ja auch Udo Ulfkotte sehr richtig: »Jede neue Moschee ein Brückenkopf.« Der mit finanzieller Hilfe der Stadt erstellte erste Moscheebau in Strassburg wird demnächst fertig; die beiden Moscheen werden mit Subventionen in Höhe von 10 % der Baukosten bedacht (2,2 Millionen resp. 900 000.- €). Wie die Badische Zeitung vom 28. 1. 2011 dazu ausführt, »widersprechen Hilfen für  Religionsgemeinschaften den Grundsätzen der Republik. da die französische Verfassung Staat und Kirche trennt.«  »Jeder Strassburger Bürger«, begründete der zuständige Beigeordnete Olivier Bitz die Entscheidung des Rates, »soll sich vollständig anerkannt fühlen.« »Nach dem Wechsel im Strassburger Rathaus vor zwei Jahren sind die alten Einwände gegen das Vorhaben vom Tisch.« Die Moschee in Kehl, an der 3 Jahre gebaut wurde, besitzt zwei 31 m hohe Minarette.  
 
Gewiss pflichten wir Herrn Fischer bei, wenn er von den Menschenrechten der Roma spricht. Nur eben: Wann wäre je von unseren eigenen Menschenrechten die Rede, wenn wir uns   kriminellen Handlungsweisen von Seiten der Roma ausgesetzt sehen? Diesbezüglich kann man sich, hält man sich die Einstellung vieler Politiker vor Augen, doch nur noch als quanité négligeable betrachten. Für Rumänien, das zusammen mit Bulgarien auch noch nach mehr als 4 Jahren nach dem EU-Beitritt mit der Korruption kämpft  - beiden Staaten fehlt es laut EU-Kommission vom 18. Februar an Transparenz und Kontrolle der Justiz - sind Milliardenbeträge von den EU-Bürgern erarbeitet worden, die auch den Roma zugute kommen sollten; betrachte ich indessen die Gegebenheiten, so sehe ich mich ausserstande zu konstatieren, dass diese bezüglich der Roma viel erbracht hätten. Rumänien hatte 2009 einen Beistandskredit des IWF, dessen Fonds sich bekanntlich aus Steuergeldern speist, über 20 Milliarden € erhalten; die Wirtschaftsleistung war um 7,1 % zurückgegangen. Interessant in diesem Zusammenhang ist jedoch der Fakt, dass sich weder im Massnahmenpaket des Kabinetts noch in den Empfehlungen des IWF Kürzungen beim Militär fanden. Dabei gibt Rumänien mit rund 2 % des BIP auf diesem Gebiet anteilmässig noch deutlich mehr als die BRD aus. 17  Das kann die Rüstungsindustrie nur freuen. Inzwischen arbeitet Herr Fischer für den Europarat an einem Projekt, das die multikulturelle Gesellschaft im 21. Jahrhundert - mit deren Folgen wir längst zur Genüge konfrontiert sind - zum Thema hat; es geht auch um die Rechte der Roma. Man darf gespannt sein.
 
Bruno Bandulet schrieb über Fischer einmal folgendes: »So sieht die Karriere eines Politikers aus, der gelernt hat, sich mit den Mächtigen zu arrangieren und der jetzt damit Punkte sammelt, daß er die wenigen Widerstandskämpfer, die relativ wenigen Kriminellen und die große Masse der Mitläufer im Auswärtigen Amt unter der Diktatur pauschal alsverbrecherische Organisation diffamieren läßt. Übrigens, von seiner eigenen gewalttätigen Vergangenheit hat sich Fischer nie ausdrücklich distanziert, bis heute nicht.« 18   
 
In der Einführung zu Ihrem Interview schreiben Sie: »Doch ein leidenschaftlicher politischer Mensch ist Fischer geblieben, insbesondere ein leidenschaftlicher Europäer.« Gewiss stehe ich nicht allein mit dem Gegenargument, dass dieser Art von Europäer eine gewaltige Portion Skepsis entgegenzubringen ist.
 
Mit freundlichen Grüssen
Doris Auerbach
 
 
 
Das Interview mit Fischer erschien in »Das Magazin« Nr. 7  der Basler Zeitung vom 25. 2. 11; das Gespräch mit Fischer führte Martin Beglinger 
Georg Meggle Philosophische Interventionen. mentis Verlag, Paderborn 2011

1 http://engforum.pravda.ru/index.php?/topic/174012-was-steckt-hinter-dem-angriff-aufs-bankgeheimnis-der-schweiz/   14. 5. 2009  Was steckt hinter dem Angriff aufs Bankgeheimnis der Schweiz?
2 http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56504  8. 9. 06 Schmutziges Geheimnis
3 http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57949  18. 11. 10  Arabische Chancen 
4 http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=144  Doris Auerbach - Die Bilderberger-Konferenz 2005
5 http://www.sueddeutsche.de/deutschland/bildstrecke/938/67871/p0/?img=0.0#bild  25. 7. 06
6 http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/wolfgang-effenberger/laesst-baron-zu-guttenberg-die-geister-der-vergangenheit-aus-der-flasche-.html;jsessionid=FCCD31C4CAC47D10B8CF512416037BBE   22. 2. 11  Lässt Baron zu Guttenberg die Geister der Vergangenheit aus der Flasche? -  Von Wolfgang Effenberger
7 http://www.jungewelt.de/2008/07-01/032.php  Fischer räsoniert über Gusenbauer
8 http://www.hintergrund.de/20091209547/globales/kriege/joschka-fischer-wirbt-f%C3%BCr-den-afghanistankrieg.html    9. 12. 09 Joschka Fischer wirbt für den Afghanistankrieg Von Peter Schwarz
9 http://www.zeit.de/online/2008/39/Fischer-usa-finanzkrise  4. 5. 2009
10http://www.fahnentraeger.com/index.php?option=com_content&view=article&id=357:atlantikbruecke-2009-friedrich-merz-wird-neuer-vorsitzender&catid=22&Itemid=80 Atlantik-Brücke 2009: Friedrich Merz wird neuer Vorsitzender - Sozialismus à la George W. Bush!
11 http://www.sueddeutsche.de/politik/215/306177/text/ 13. 8. 08
US-Präsidentschaftswahl - Joschka ist Obama-Fan
12 http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=714  Eine Preisverleihung - Von Doris Auerbach
13 http://bazonline.ch/panorama/vermischtes/Ein-Fuenfjaehriger-wuehlt-die-Tuerkei-auf/story/24938688   14. 1. 10
14 http://www.pi-news.net/2011/01/nordzypern-tuerkisches-militaer-raeumt-kirchen/   1.1.11
Von Florian Euring „La Valette“ Nordzypern: Türkisches Militär räumt Kirchen
15 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 8. 07
16http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/panorama/vielweiberei-in-der-tuerkei-auf-dem-vormarsch   18. 1. 11
17  http://www.jungewelt.de/2010/06-01/021.php    1. 6. 10  Generalstreik im öffentlichen Dienst Protest gegen Kürzungen - Von Stefan Inführ
18 http://ef-magazin.de/autor/bruno-bandulet eigentümlich frei 108 Dezember 2010 Seite 37
Stalins Steinewerfer im grünen Glashaus - Über deutsche Truppen, Putztruppen und putzige Erpressbarkeit - Von Bruno Bandulet /