Gazas in Blei gegossene Hoffnungen - Von Richard Falk

Israel rüstet sich für eine weitere Gross-Offensive auf Gaza, und trotzdem bleibt die Weltgemeinschaft unergründlich still.

Es ist bestürzend, dass es wieder Anzeichen für einen neuen massiven Angriff auf die belagerten Menschen von Gaza geben soll, in dieser dunklen Zeit, in der sich die tödlichen Angriffe auf Gaza unter der von Israel ausgerufenen Operation Gegossenes Blei zum zweiten Mal jähren. Der einflussreiche israelische Journalist Ron Ren-Yishai, schreibt am 29. Dezember 2010 über die Wahrscheinlichkeit einer neuen Offensive der IDF (Israeli Defense Forces) und zitiert ranghohe Offiziere des israelischen Militärs wie folgt: »Es ist weniger eine Frage des ob, sondern vielmehr des wann.« Eine Sichtweise, die Ren-Yishai zufolge von »Regierungsministern, Mitgliedern der Knesset und den kommunalen Spitzen in der Region Gaza, geteilt wird«. Der israelische Stabschef Generalleutnant Gabi Ashkenazi bestärkt diese Erwartung mit seiner kürzlichen Aussage, dass »unsere Mission nicht beendet ist, solange sich Gilad Shalit noch in Gefangenschaft befindet« und fügt mit unbewusster Ironie hinzu »wir haben unser Recht auf Selbstverteidigung nicht verloren«. Präziser wäre wohl die Aussage »wir haben unser Recht darauf nicht aufgegeben, einen aggressiven Krieg zu führen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen«. Und was ist mit den mehr als 10.000 Palästinensern, einschliesslich Kindern unter 10 Jahren, die überall im besetzten Palästina in israelischen Gefängnissen eingesperrt sind?
 
Ablenkungsmanöver
Vor diesem Hintergrund sollte die Eskalation der Gewalt entlang der Grenze Gaza/Israel überall in der Welt und bei den Vereinten Nationen die Alarmglocken schrillen lassen. In den letzten Tagen hat Israel schwere Luftanschläge gegen Ziele im Gaza-Streifen gerichtet, einschliesslich in der Nähe des mit Zivilisten übervölkerten Flüchtlingslagers Khan Younis, und hat dort mehrere Palästinenser getötet und weitere verletzt. Angeblich sind diese Angriffe Vergeltungsschläge für 9 Granaten, die in offenem Gelände einschlugen und weder Schäden noch Verletzungen verursachten. Israel hat seine tödliche Gewalt auch gegen Kinder gerichtet, die in der Sicherheitszone  nach Kies suchten, um damit ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Wie immer fehlt es den israelischen Ausreden an Glaubwürdigkeit. Falls es jemals einen Grund für Warnschüsse in die Luft gegeben haben sollte, wäre es hier, insbesondere da es im Grenzgebiet in den letzten Jahren relativ ruhig war. Und auch wenn vereinzelte harmlose Raketen oder Granaten abgefeuert wurden, geschah dies unter Missachtung der Bemühungen von seiten Hamas, alles zu unterbinden, was Israel zu weiterer Gewaltanwendung provozieren könnte. Bezeichnenderweise und mit der üblichen Verzerrung, beschreibt Ashkenazi die Situation in Gaza als ein Vorkriegsszenario: »Wir werden keine Situation dulden, in der sie vom sicheren Hafen, also vom Schutz ihrer Zivilbevölkerung aus, unsere Bürger und Städte mit Raketen beschiessen.« Mit Orwell’scher Präzision ist die Realität so ziemlich das Gegenteil davon: Israel, von seinem sicheren Hafen aus, attackiert weiterhin mit dem Vorhaben, die wehrlose und eingeschlossene Zivilbevölkerung von Gaza zu töten.
 
Schweigen ist Komplizenschaft
Vielleicht noch schlimmer als die israelische Kriegstreiberei ist das überwältigende Schweigen der Regierungen in aller Welt und der Vereinten Nationen. Die öffentliche Meinung in der Welt war über das Spektakel dieses einseitigen Krieges, der als Gegossenes Blei zum unbeschreiblichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde, kurzzeitig schockiert. Die öffentliche Meinung hat aber in letzter Zeit nicht die unaussprechliche Eskalation der Drohungen und Provokationen bemerkt, die anscheinend nur darauf abzielen, den Weg für einen neuen israelischen Angriff auf die unglückselige Bevölkerung von Gaza zu bereiten. Das Schweigen angesichts der wachsenden Hinweise, dass Israel plant, Operation Gegossenes Blei 2 auszulösen, ist eine niederschmetternde Form von Komplizenschaft auf höchsten Regierungsebenen, speziell seitens der Länder, die mit Israel eng verbunden sind. Ausserdem spiegelt es den moralischen Bankrott der Vereinten Nationen wider. Wir haben im Iraq die Gemetzel eines Präventiv - und Präemptiv-Kriegs erlebt, und dennoch müssen wir erst noch die moralischen und politischen Notwendigkeiten von Präventiv-Frieden oder Präemptiv-Frieden erforschen. Wie lange müssen die Völker dieser Welt noch warten? Wir sollten uns an die Worte eines anonymen Gazaners erinnern, der als Reaktion auf die Angriffe von vor zwei Jahren sagte: »Während die israelische Armee meine Nachbarschaft bombardiert hat, haben UNO, EU, die Arabische Liga und die internationale Gemeinschaft zu diesen Greueltaten geschwiegen. Hunderte von Kinder- und Frauenleichen konnten sie nicht überzeugen, einzuschreiten.« Die liberale öffentliche Meinung schwärmt von der globalen Norm einer Schutzverantwortung, aber sollte irgendetwas Glaubhaftes in dieser Idee stecken, so deutet dennoch nichts darauf hin, dass sie mit Dringlichkeit auf Gaza angewendet würde, wo die Bevölkerung seit mehr als 3 Jahren unter einer grausamen Blockade lebt und nun neuen Gefahren ausgesetzt ist. Und sogar nachdem die in 2008 und 2009 begangenen Greueltaten immer wieder als wahr bestätigt worden sind, sei es durch den Goldstone Bericht, durch einen ausführlichen Bericht der Arabischen Liga, durch Amnesty International oder Human Rights Watch, wird Israel nicht zur Verantwortung gezogen und die USA setzt ihren diplomatischen Muskel sehr effektiv ein, um die Angelegenheit unter den Tisch zu kehren und sie in Zusammenarbeit mit den Medien in Vergessenheit geraten zu lassen.
 
Wahrheiten
Einzig und allein die Zivilgesellschaft hat angemessen auf die moralische rechtliche und politische Situation reagiert. Ob diese Reaktionen zum Ziel führen, wird nur die Zukunft zeigen. Die Free Gaza Movement und die Freedom Flotilla haben die Blockade viel effektiver in Frage gestellt als die Vereinten Nationen oder irgendeine Regierung, indem sie Israel (zumindest rein rhetorisch) zum Nachgeben gebracht haben und indem die Zusage für einen Blockade-Stop zumindest für humanitäre Güter und Baumaterialien erreicht wurde. Natürlich widerspricht die tatsächliche Wahrheit den israelischen Aussagen: es ist immer noch nicht erlaubt, ausreichende Versorgung für die grundlegenden Bedürfnisse in den Gazastreifen zu bringen, die Wasser- und Abwasser-Systeme sind in desolatem Zustand; es gibt nicht genug Kraftstoff, um eine ausreichende Stromversorgung zu gewährleisten; und die Schäden von Gegossenem Blei sind geblieben und verursachen eine verzweifelte Wohnungsnot (mehr als 100.000 Wohnungseinheiten werden allein benötigt, um die Menschen aus den Zelten holen zu können). Ausserdem ist es den Studenten immer noch nicht erlaubt, Gaza zu verlassen, um im Ausland Studienmöglichkeiten wahrzunehmen und die Bevölkerung lebt in einem abgeriegeltem Gebiet, das Tag und Nacht von Gewalt bedroht ist.
 
Gazas Aussichten für das Jahr 2011 sind nicht gerade vielversprechend. Trotzdem sollte der Mut der in Gaza lebenden Menschen nicht unterschätzt werden. Ich habe Gazaner getroffen, speziell junge Leute, die eigentlich unter dem Leid, das das Leben ihnen und ihren Familien seit ihrer Geburt gebracht hat, zerbrechen müssten. Und trotzdem verfügen sie über eine positive Auffassung des Lebens und was es ihnen bringen kann, und nutzen jede Gelegenheit die sich ich ihnen bietet. Sie halten ihre Probleme für gering, zeigen gegenüber denen, die etwas glücklicher dran sind, Wärme, sowie Enthusiasmus hinsichtlich ihrer Hoffnungen für ihre Zukunft. Diese Begegnungen verleihen mit Inspiration und bestärken mich in meiner Entschlossenheit und meinem Verantwortungsbewusstsein; diese stolzen Menschen müssen von der Unterdrückung, die sie ständig einsperrt, bedroht, verarmen lässt, krank macht, traumatisiert, verwundet und tötet, befreit werden. Bis es soweit ist, sollte keiner von uns allzu komfortabel schlafen!
 
 
Quelle: Al-Jazeera 5. 1. 2011
Richard Falk ist Albert G. Milbank Prof. Emer. des Internationalen Rechts an der Princeton University und angesehener Gastprofessor für Globale und Internationale Studien an der University of California in Santa Barbara. Er hat einige Publikationen verfasst und herausgegeben, die einen Zeitraum von 5 Jahrzehnten umfassen; sein jüngstes Werk ist die Überarbeitung des International Law and the Third World: Reshaping Justice (Routledge 2008). Zur Zeit ist er im dritten Jahr seiner 6-jährigen Amtszeit als Sonder-Berichterstatter für palästinensische Menschenrechte bei den Vereinten Nationen.