Eidg. Volksabstimmung zur erweiterten Personenfreizügigkeit Propaganda linker und rechter Globalisierer hat begonnen. Wenn alle Handelshemmnisse fallen, bleibt die Menschenwürde auf der Strecke - von Tobias Salander, Historiker

Während die Erde an den Folgen der immer schrankenloseren Globalisierung verblutet, die erste Welt immer grössere Zahlen von Arbeitslosen aufweist, sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht nur weltweit, sondern auch in den hochentwickelten Ländern auftut, wird in der Schweiz der Abstimmungskampf für die erweitere Personenfreizügigkeit mit der EU auf Hochtouren gefahren. Kein Tag vergeht, an dem nicht aus allen möglichen Perspektiven vorgegaukelt wird, welche Segnungen doch der schrankenlose freie Markt mit sich bringe.

Drei Monate bis zur Abstimmung sind eine kurze Zeit, und die Bevölkerung ist skeptisch. Deshalb die Devise der Wirtschaftsverbände: aus allen Rohren schiessen, das Volk mit Material überfluten, auch all die negativen Punkte, die eine Öffnung des Arbeitsmarktes mit sich bringt und die sich sowieso nicht verheimlichen lassen, aufbringen. Da erfährt der erstaunte Leser der Wochenzeitschrift «Facts« vom 9. Juni in einer Reihe von Artikeln, dass ostdeutsche Kontraktarbeiter, die vor polnischen Billigarbeitern in die Schweiz ausgewichen sind, die Schweizer warnen, ja nicht den Fehler zu machen, die Personenfreizügigkeit anzunehmen; um dann sofort das Interview mit Serge Gaillard, seines Zeichens Gewerkschafts-Chefökonom, nachgeliefert zu bekommen, der behauptet, die flankierenden Massnahmen seien absolut sicher, vor Lohndumping brauche sich keiner zu fürchten. Dies, obwohl SVP-Nationalrat Spuhler bereits verlauten liess, im Falle eines JAs müssten die flankierenden Massnahmen nochmals diskutiert werden. Sprich heruntergefahren werden, ganz so wie es der Wirtschaftsflügel der SVP vorgibt.
 
Lehrbeispiel für manipulativen Journalismus
Und am Schluss der Lektüre der «Facts«-Titelgeschichte lernt man einen Schweizer Demokraten kennen, der als Gegner des Abkommens gleich in die Nazi-Ecke gestellt wird, und somit auch jeder, der allenfalls aus sachlichen Erwägungen zum gleichen Ergebnis kommen sollte, nämlich zu einem Nein im September. Für diese Zusammenstellung von Artikeln verdiente es «Facts«, für den internationalen Manipulationspreis vorgeschlagen zu werden, und zwar unter der Spezial-Rubrik «angewandtes NLP», Neurolinguistisches Programmieren. Eine Manipulationstechnik, die den Menschen dort abholt, wo er steht, im gleichen Schritt mit ihm des Weges geht, um ihn schliesslich ganz allmählich in die gewünschte Richtung zu lenken. Dazu brauche es nur genügend Werbegelder, stetige Bearbeitung, und die Sache sei geritzt.
 
Sklavenarbeit in China - ein Märchen?
Aber auch vor den billigsten Tricks, die man notfalls, gutgläubig, immer noch als Versehen entschuldigen könnte, schreckt die auf Kurs gebrachte Journalistenzunft nicht zurück. So erfährt zum Beispiel der Leser der «Mittellandzeitung« vom 16. Juni, dass gegen die Not der armen Länder nur eine klare Schutzzollpolitik helfe. Man liest und staunt und denkt sich oha, endlich eine kritische Stimme. Nur, der Titel des Artikels besagt das genaue Gegenteil: «Offene Märkte statt Verzicht auf Schulden». Nur offene Märkte würden den Dritte-Welt-Ländern helfen. Der Leser ist verwirrt, liest nochmals, wenn er denn Zeit hat. Der schnelle Leser, und wer ist das schon nicht, liest weiter, haften bleibt der Titel. Der «Tages-Anzeiger» desselben Tages liefert im Wirtschaftsteil ein Interview mit dem Präsidenten der Chinesisch-Schweizerischen Handelskammer, Jörg Wolle, in welchem man erfährt, dass angeblich bereits ein Siebtel der Chinesen, also 200 Millionen Bürger, den gleichen Lebensstandard hätten wie wir und dass westliche Firmen den chinesischen Arbeitskräften Spitzenlöhne bezahlten. Man reibt sich die Augen: also die Firmenabwanderungen ins Billiglohnland China blosse Einbildung, so gefährlich und so rechtlos sind die chinesischen Arbeitssklaven ja gar nicht? Kein Wort von Menschenrechtsverletzungen, dafür die Aussage, es gebe keine Alternative zur Globalisierung. «There Is No Alternative», sagte einst Margaret Thatcher und begründete damit das sogenannte TINA-Syndrom.
 
Verarmung auf breiter Front
Und etwas weiter hinten im selben Blatt: Österreich werde von slowakischen Arbeitslosen überschwemmt, und das gar mit Unterstützung der slowakischen Arbeitslosenämter, aber auch das sei nur eine Aufregung im Wasserglas, «Kronen-Zeitungs»-bedingt, kleinformatig, in Tat und Wahrheit floriere die österreichische Wirtschaft und lediglich die Türken, Serben und Kroaten würden vom Arbeitsmarkt verdrängt. Keine Österreicher. Schliesslich habe man ja auch den heimischen Arbeitsmarkt durch lange Übergangsfristen geschützt, so Kanzler Schüssel.
Und was, wenn diese Fristen vorüber sind? Wenn die durch zig Jahre kommunistischer Diktatur und Gründerzeit-Raubritter-Kapitalismus in ihren Ländern ausgepowerten Arbeitskräfte ungehindert in die westlichen EU-Länder strömen können? Die Nivellierung nach unten ist vorgespurt. Das wissen die Österreicher, die Deutschen, aber die Schweizer sollen nun vor ihrer Abstimmung eingelullt werden.
 
GATS wird tunlichst verschwiegen
Und dann das Flagschiff des Schweizer Wirtschaftsfreisinns, die «Neue Zürcher Zeitung». Unter dem Titel «Britische Schulen werden zum Business» wird der Schweizer Leser langsam darauf vorbereitet, dass die Gier der Globalisierer auch vor gar nichts haltmachen wird: Auch bei uns dürften bald die Schulen ins Visier des freien Marktes geraten. Geradezu meisterhaft gelingt es dem Journalisten der «Neuen Zürcher Zeitung», den Hauptgrund für Tony Blairs Aktivismus und Bückling vor der Wirtschaft zu verschweigen. Denn dass die britische Regierung, wie die Schweizer übrigens auch, im Rahmen der WTO das sogenannte GATS-Abkommen unterzeichnet hat, findet mit keinem Wort Erwähnung. Darin haben sich die Staaten verpflichtet, ihre Dienstleistungen, und dazu gehören definitionsgemäss auch die Schulen, schrittweise zu liberalisieren und zu privatisieren. EU-Richtlinien und Bilateralismus hin oder her. Schliesslich gehe es um einen Markt von mehr als 1 Billion Euro weltweit. Was für die Spitzenwirtschaftskräfte unter den Lesern der «Neuen Zürcher Zeitung» natürlich tägliches Brot ist, darf das Fussvolk offensichtlich nicht erfahren.
 
Privatisierung und Ausbeutung - ein Menschenrecht?
Statt von GATS zu sprechen, wird nicht weniger als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bemüht. Man reibt sich die Augen und staunt und liest: Artikel 26 verlange «nämlich nicht nur die unentgeltliche und obligatorische Schulbildung für alle auf der Grundschulstufe», sondern er postuliere «in Absatz 3 auch ein vorrangiges Recht der Eltern, die Art der Bildung ihrer Kinder zu wählen». Eine Meisterleistung juristischer Rabulistik, wird doch damit die Kommerzialisierung eines unserer höchsten Güter, der Bildung unserer Jugend, dem Kommerz in den Rachen geworfen. Und England unter Blair fungiert als Steigbügelhalter von Grosskonzernen wie demjenigen von Sunny Varkey, Millionär mit Wohnsitz in Dubai, der dort laut «Neue Zürcher Zeitung» offenbar bereits Privatschulen für mehr als 40?000 Schüler betreibt. In England hingegen ziele er nicht auf Grossverdiener, sondern biete quasi eine «Billig»-Linie für den Mittelstand. 5000 Pfund pro Jahr soll die Schulgebühr betragen, gleichviel wie der Betrieb staatlicher Schulen koste. Da ist dann der Ruf nach Bildungsgutscheinen nicht mehr weit. Nach den Richtlinien der WTO und von GATS wird sicher bald ein im Bildungsbusiness tätiger Konzern die nationalen Regierungen einklagen, ihre staatlich geförderten Schulen verstiessen gegen den freien Wettbewerb und stellten ein Handelshindernis dar.
 
Konzerne bestimmen Unterrichtsstoff
Aber was geschieht dann an diesen Schulen mit dem Lehrplan? Da wird es auch der liberalen «Neuen Zürcher Zeitung» etwas mulmig: «Die Sponsoren bekommen über ihren Sitz im Schulrat einen gewissen Einfluss auf Lehrplan und Unterrichtsfächer.» Dies sei aber heikel, was der Fall des Multimillionärs Peter Vardy zeige, der im Nordosten Englands zwei Schulen sponsere. «Gegner warfen Vardy religiöse Einflussnahme vor, denn im Unterricht werde beispielsweise die Evolutionstheorie von Darwin verworfen.» Dass dieses Beispiel aber keine Ausnahme bilden dürfte, sondern beabsichtigte Regel werden wird, entspricht ganz dem Konzept der WTO. Dort haben nämlich der Schutz der Menschenwürde, aber auch der Umwelt, keinen Platz, wenn es um den Abbau von Handelshemmnissen geht. Lässt man auch im Bildungssektor die Kräfte des Marktes walten, haben wir bald Schulen der Multis, mit Fächern und Material, die den Geldgebern genehm sind. Welcher künftig wohl zu einem erheblich tieferen Lohn arbeitende, international rekrutierte Lehrer wird in einer von Halliburton oder Bechtel usw. gesponserten Schule etwas gegen die Klimaerwärmung einzuwenden haben, gegen die US-Kriegspolitik Stellung nehmen und für fairen Handel eintreten? Schliesslich gilt dann die corporate identity, oder wie man es früher deutsch und deutlich zu sagen pflegte: «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.»
 
Nein zu TINA, ja zu TIANA
Schöne neue Wirtschaftswelt. Mit dem TINA-Syndrom sollen die Menschen in der Schweiz, der EU und weltweit gelähmt werden. Auf dass sie der Personenfreizügigkeit, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Freiheit der Grossunternehmen, die Menschen gnadenlos auszubeuten, blauäugig zustimmen, auf dass sie die Regeln der WTO schlucken, ohne ihre Vertreter bei dieser undemokratischen Instanz gross in die Pflicht zu nehmen. Doch neben TINA gäbe es noch TIANA: «There Is AN Alternative», denn sicher gibt es eine Alternative, man muss sie nur wollen, und sie muss von den Bürgern, von unten kommen, weil die da oben in ihren Kreisen verstrickt und dem Macht- und Geldwahn verfallen sind.



Ja-Kampagne aus Bern auf Hochtouren
Gewerkschaftsbosse für Personenfreizügigkeit?
thk./rt. Warum sich ausgerechnet einige Schweizer Gewerkschaftsbosse für das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU stark machen, wird wohl nicht mit logischen Argumenten zu erklären sein. Während in den EU-Staaten die Gewerkschaften schon länger die Folgen der EU-Politik beklagen und unter dem Lohnverfall durch Wanderarbeiter aus dem Osten leiden, tun die Schweizer Gewerkschaftspräsidenten so, als ob das Land wie durch ein Wunder von diesen Folgen verschont bleiben würde; am 13. Juni auf einer Medienorientierung: «Ein Ja schützt ArbeitnehmerInnen besser» (Hugo Fasel, Präsident Travail Suisse); «Ja zur Personenfreizügigkeit mit Schweizer Löhnen» (Paul Rechsteiner, Präsident SGB); «Allianz der Arbeitnehmenden sagt ja zur Personenfreizügigkeit» (Beat Zemp, Präsident Schweizer Lehrerverband) und «Kaufmännische Angestellte sagen ja!» (Alexander Tschäppät, Präsident Kaufmännischer Verband Schweiz).
 
Im Zusammenhang mit den Auftritten von Fasel, Zemp, Rechsteiner und Tschäppät sind Fragen erlaubt: Sind die genannten Präsidenten von ihren Mitgliedern beauftragt worden, sich mit einem Ja in den Abstimmungskampf einzumischen? Glauben sie im Ernst, dass das Schweizer Lohnniveau mit den Verträgen erhalten bleibt? Informieren die genannten Arbeitnehmervertreter sich vor Ort in den EU-Staaten über die Folgen der Verträge? Haben die genannten Vertreter schon etwas von deutschen Schlachthöfen gehört, an denen nur noch polnische Arbeiter für Billiglöhne arbeiten? Haben sie davon gehört, dass das Arbeitsamt Mecklenburg-Vorpommern deutschen Arbeitslosen Geld gibt, wenn diese sich einen Arbeitsplatz in Norwegen oder Schweden suchen? Sind den obengenannten Vertretern die Arbeitslosenstatistiken der EU-Staaten bekannt (Deutschland 10%, Frankreich 9%; EU-Durchschnitt 8%)?
Ist den Vertretern nicht bekannt, dass einige Nationalräte mit der erweiterten Personenfreizügigkeit die Löhne in der Schweiz herabdrücken wollen? Ist ihnen bekannt, dass kritische Stimmen aus ihren Verbänden ausgeschlossen werden? Wie kann es kommen, dass die obengenannten Vertreter von 850?000 Arbeitnehmern in der Schweiz und von diesen bezahlt, etwas bejahen, das so offenkundig gegen die Interesse ihrer Klientel verstösst?
 
Artikel 3 aus Zeit-Fragen Nr.25 vom 20.6.2005, letzte Änderung am 21.6.2005