Dear Mr Blair

Die grundfalsche Politik der Briten und Amerikaner hat den Irak in eine Mülltonne für Menschen verwandelt.

Der frühere UN-Koordinator, Hans von Sponeck, schreibt dem Ex-Premier
Sie kennen mich nicht. Warum sollten Sie auch? Aber vielleicht hätten Sie mich und die anderen UNO-Mitarbeiter damals kennen sollen, als Sie Ihre Irak-Politik auf den Weg brachten und wir uns in Irak abmühten. Sie haben Ihre Memoiren geschrieben, und die Abschnitte zum Thema Irak haben meine Ängste bestätigt. Sie erzählen dort die Geschichte eines Anführers, aber nicht die eines Staatsmannes. Dabei hätten Sie wenigstens nachträglich die Wahrheit ans Licht bringen können. Stattdessen wiederholen Sie die sattsam bekannten Argumente, warum die Sanktionen sein mußten, wie sie waren, warum die Angst vor Saddam Hussein die Furcht überwog, die Line zwischen Machtpolitik und Sorge um die Manschen zu überschreiten und warum der Irak sich schließlich in eine Mülltonne für Menschen verwandeln mußte. Statt an die Wahrheit klammern Sie sich an Bill Clintons Diktum von der Befreiung des Iraks aus dem Jahr 1998 und Georg W. Bushs Festlegung auf dessen Umsetzung.
 
Sie stellen sich als jemanden dar, der den Weg mit den Vereinten Nationen gegangen sei. Ich bin da nicht so sicher. Ist es wirklich falsch zu sagen, falls Sie diese Absicht wirklich hatten, dann doch nur aus rein taktischen Erwägungen und eben nicht, weil Sie die Rolle der UNO schützen wollten, allein über militärische Aktionen zu entscheiden. Die Liste derer, die ablehnen, wie Sie und Ihre Regierung in den 13 Jahren der Sanktionen, der Invasion und der Besetzung des Iraks gehandelt haben, ist lang, sehr lang. Auf ihr stehen Unicef und andere UNO-Agenturen, Care, Caritas, Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), UN-Generalsekretär Kofi Annan, Nelson Mandela. Und vergessen Sie nicht die Hunderttausende, die aus Protest gegen Ihre Politik in Großbritannien und der ganzen Welt auf die Straße gegangen sind. Sind wir alle naive, dem Wahn verfallenen Opfer der Propaganda eines Diktators?
 
Sie behaupten, daß die Fakten für Sie und ihre Unterstützer sprechen - die Koalition der Willigen, wie Sie sie nennen. Ihre geringschätzige Bemerkungen über Clare Short, eine mutige Frau, die 2003 aus Protest als Entwicklungshilfeministerin zurückgetreten ist, zeigen deutlich, daß Sie bei Ihnen auf einer anderen Liste steht. Sie appellieren an die Gegner Ihrer Irakpolitik, innezuhalten und nachzudenken. Ich bitte Sie um genau das. Diejenigen von uns, die im Irak waren, haben das Leid und Elend erlebt, das Ihre Politik verursacht hat. Die UNO-Vertreter vor Ort waren nicht »vereinnahmt vom Regime des Diktators«. Wir waren »vereinnahmt« von der Herausforderung, das menschliche Leid zu bekämpfen, das die grundfalsche Politik zweier Staaten verursacht hat - Ihre und die der USA - und die Feigheit vieler anderer Länder im Mittleren Osten, Europa und anderswo. Diese Länder hätten einen Unterschied machen können, aber Sie haben sich anders entschieden. Die Fakten sprechen für uns, nicht für Sie.
 
Hier sind ein paar dieser Tatsachen: Hätte Hans Blix, der UNO-Waffenkontrolleur, die drei Monate zusätzlicher Zeit bekommen, um die er gebeten hatte, so wären Ihre Pläne womöglich durchkreuzt worden. Sie und George W. Bush haben das gefürchtet. Wenn Sie das Internationale Recht geachtet hätten, dann hätten Sie in Folge der Operation Desert Fox von 1998 niemals Angriffe aus den zwei Flugverbotszonen erlauben dürfen. Vorgeblich sollten diese Angriffe Kurden im Norden und Schiiten im Süden vor Saddam schützen, aber sie töteten Zivilisten und zerstörten zivile Einrichtungen.
 
Niemand, der bei Sinnen ist, wird Saddam verteidigen.
Ich weiß, daß unsere Berichte aus Bagdad über die Zerstörungen dieser Angriffe im britischen Verteidigungsministerium in Whitehall viel Ärger auslösten. In einem Gespräch im Jahr 2004 mit Ihrem damaligen Außenminister Robin Cook wurde deutlich, daß es selbst in Ihrem Kabinett ernste Bedenken gegen Ihren Kurs gab. Die UNO-Resolution 688 von 1991 hat den UN-Generalssekretär - und niemand anderen - ermächtigt, die Rechte und Bedürfnisse der Menschen im Irak zu schützen. Sie war keine Rechtfertigung für Flugverbotszonen. Tatsächlich hat sich die britische Regierung mit ihrer Zustimmung zu der Resolution 688 verpflichtet, Iraks Souveränität und territoriale Integrität zu respektieren.
 
Ich war täglich Zeuge dessen, was Sie und zwei US-Regierungen für den Irak ausgeheckt haben: Ein hartes und unerbittliches Sanktionsregiment, das die falschen Menschen bestraft hat. Ihre Leute müssen Ihnen gesagt haben, daß Ihre Politik dazu führte, daß ein Iraker von mageren 51 Cents pro Tag existieren mußte. Sie selbst geben zu, daß 60 % der Iraker völlig abhängig von den Einfuhren waren, die die Sanktionen erlaubten. Aber Sie erwähnen in Ihrem Buch nicht, daß Ihre und die US-Regierung riesige Lieferungen blockiert oder verzögert haben, die für das Überleben der Menschen notwendig waren. Mitte 2002 wurden Güter im Wert von mehr als Milliarden $ zurückgehalten. Kein einziges Land im UNO-Komitee für Irak-Sanktionen hat Ihre Politik unterstützt. Die UNO-Archive sind voller Beweise dafür. Ich sah das irakische Bildungssystem kollabieren, es war der Stolz des Landes gewesen. Die Bedingungen im Gesundheitswesen waren ähnlich verzweifelt. 1999 gab es im Irak noch ein einziges funktionierendes Röntgengerät. Längst vergessene Krankheiten griffen wieder um sich.
 
Sie weigern sich zuzugeben, daß Sie und Ihre Politik auch nur irgendetwas mit der humanitären Krise zu tun hatten
Sie argumentieren sogar, die Kindersterblichkeit der Unter-Fünf-Jährigen, damals eine der höchsten der Welt, hätte allein die irakische Regierung verschuldet. Ich bitte Sie: lesen Sie die Unicef-Berichte, lesen Sie, was Carol Bellamy, damals Vorsitzende der US-Sektion der Unicef, dem Sicherheitsrat in dieser Sache berichtet hat. Nicht einer der UN-Mitarbeiter, die mit der Krise zu tun hatten, wird Ihre Sicht bestätigen, daß der Irak »frei war, so viele Nahrungsmittel und Medikamente zu kaufen«, wie es die Regierung Saddams erlaubte. Ich wünschte, es wäre so gewesen. Im vergangenen Juli, als ich in Bagdad war, sagte ein Diplomat, der Großbritannien im UNO-Sanktionsausschuß vertrat: »Britische Offizielle und Minister kannten die negativen Auswirkungen der Sanktionen sehr genau. Aber sie zogen es vor, Saddams Regime zu beschuldigen, es versage bei der Umsetzung des Öl-für-Nahrung-Programms.«
   
Niemand, der bei Sinnen ist, wird Saddams Umgang mit den Menschenrechten verteidigen. Ihre kritischen Worte zu diesem Thema sind völlig berechtigt. Aber sie sprechen nur über diesen Teil der grauenhaften Geschichte. Sie zitieren Max van der Stoel, den ehemaligen niederländischen Außenminister und UNO-Sonderbeauftragten für Menschenrechte im Irak in der Zeit, als ich dort war, wenn er Saddams Mißachtung der Menschenrechte verdammt. Aber Sie übersehen geflissentlich 3 entscheidende Tatsachen: van der Stoel war seit 1991 nicht mehr im Irak gewesen und stützte sich auf Berichte aus zweiter Hand; sein Mandat war auf die Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen allein der irakischen Regierung beschränkt und schloß also Berichte über andere Gründe, wie etwa die Sanktionen, aus. Sein Nachfolger, Andreas Mavrommatis, ehemaliger Außenminister Zyperns, erkannte dieses parteiische UNO-Mandat sofort und erweiterte den Rahmen seiner Berichte, um die Sanktionen als wesentliches Problem der Menschenrechte zu benennen. Das war eine sehr wichtige Korrektur.
 
Brasiliens Außenminister Celso Amorim, damals der ständige Gesandte seines Landes bei der UNO, wird in Ihrem Buch überhaupt nicht erwähnt. Vielleicht weil er einer der wenigen Diplomaten ist, die entgegen aller Versuche der Desinformation versuchten, die Wahrheit über die beklagenswerten Zustände im Irak der späten 1990er Jahre herauszufinden? Als Amorim Vorsitzender des Sicherheitsrates war verlangte er eine neue Bewertung der humanitären Lage. Seine Schlußfolgerung war eindeutig. »Selbst wenn nicht das ganze Leid in Irak auf externe Faktoren, speziell die Sanktionen, zurückgeführt werden kann, so würden die Menschen in Irak ohne die Maßnahmen des Sicherheitsrates und die Effekte des Krieges nicht solch einen Mangel leiden.« Malaysias Botschafter bei den UNO, Hasmy Agam, bemerkte dazu: »Wie ironisch ist es doch, daß genau die Politik, die Irak seiner Massenvernichtungswaffen berauben soll, selbst eine Waffe zur Massenvernichtung geworden ist.« Auch Kofi Annan selbst machte sehr kritische Bemerkungen zur humanitären Situation im Irak. Als ich meine Bedenken in einem Zeitungsartikel veröffentlichte, hat Ihr Minister Hain das geantwortet, was die Welt bei diesen Gelegenheiten immer aus London und Washington zu hören bekam: Das komme alles von Saddam. Hain war Ihnen ein loyaler Verbündeter. Er und andere Mitglieder der britischen Regierung haben mich als subjektiv, von meinem Mandat abirrend, als meiner Aufgabe nicht gewachsen, abgestempelt. James Rubin, der damalige Sprecher des US-Außenministeriums sagte es so: »Dieser Mann in Bagdad wird dafür bezahlt zu arbeiten, nicht zu reden!« Mein Vorgänger in Bagdad, Denis Halliday, und ich wurden wiederholt daran gehindert, vor dem Sicherheitsrat zu sprechen. Bei einer Gelegenheit schrieben Großbritannien und die USA einen gemeinsamen Brief an den UNO-Generalsekretär, in dem sie darauf bestanden, wir hätten nicht genügend Erfahrung mit Sanktionen und könnten daher auch nichts zur Debatte beitragen. Sie hatten Angst vor den Tatsachen.
 
Wir leben in schweren Zeiten, und Sie haben Ihren Teil dazu beigetragen, daß die Zeiten so wurden. Die Internationale Sicherheitsarchitektur ist ernsthaft geschwächt, der UNO-Sicherheitsrat hat bei der Aufgabe versagt, Krisen friedlich zu lösen und es gibt eine ungeheuerliche Doppelmoral in den Debatten, in welche Richtung unsere Welt gehen sollte. Ein ehemaliger britischer Premierminister - ein Großer, ein Weltpolitiker und nicht nur der Führer eines Landes, wie Sie sich selbst in Ihrem Buch beschreiben, sollte eigentlich keine Zeit für Talkshow-Auftritte haben. Sie haben sich anders entschieden: ich habe die Show im US-Fernsehen gesehen - und es war eine Show. Sie fühlten sich sichtlich unwohl. Alles, was Sie und Ihr Waffenbruder Bush für den Irak geplant hatten, ist gescheitert, mit der einzigen Ausnahme, Saddam zu stürzen. In der Talkshow haben Sie lieber über den Iran als neue Gefahr geredet.
 
Ob Sie es mögen oder nicht, Sie haben die UNO und die Bedeutung der Diplomatie auf dem Altar einer selbstsüchtigen Allianz mit der Bush-Regierung geopfert. Das ist das Vermächtnis Ihrer Irak-Politik. Sie geben in Ihrem Buch zu, daß »hier und da einige Fehler gemacht wurden«. An einer Stelle schreiben Sie, die »Geheimdienste lagen falsch und wir hätten uns dafür entschuldigen müssen - und ich habe es auch getan.« Ein zentraler Pfeiler ihrer Argumente für einen Einmarsch in den Irak stürzt zusammen, und Sie behandeln das wie eine Fußnote. Es ist Ihre Weigerung, schlicht die Tatsachen anzuerkennen, die die Gutwilligenso erschüttert und darauf bestehen läßt, Sie zur Verantwortung zu ziehen.
 
Quelle: http://www.fr-online.de/politik/meinung/dear-mr-blair-/-/1472602/4728736/-/index.html   14. 10. 10
Hans von Sponeck war UN-Koordinator für humanitäre Fragen im Irak, bis er im März 2000 aus Protest gegen inhumane Sanktionen zurücktrat.