Ägypten vor riesigen wirtschaftlichen Problemen

d.a. Alle Ägypter, schrieb die Neue Zürcher Zeitung im September 2004, leiden unter einer kafkaesken Bürokratie und einer Alltagskorruption,

die einen Grossteil ihrer Löhne verschlingt. Im März letzten Jahres bewarfen Armeekadetten in einer südlich von Kairo gelegenen Stadt eine Polizeistation mit Steinen, was von den Internetbloggern Misrdigital, die gegen die Brutalität und Korruption der Polizei angehen, aufgezeichnet wurde. Wie es heisst, ist zwischen den Institutionen ein enormer Kampf um die Macht im Gange, bei der jede versucht, sich als die stärkste zu erweisen 1.
 
Einer Aufzeichnung von Jason Larkin zufolge, führen die steigenden Lebensmittelpreise und die Inflation zu immer mehr Kinderarbeit 2. So arbeitet der 14 Jahre alte Ali Abdel-Nasser in einer Ziegelei am Rande Kairos und belädt tagein tagaus Eselskarren mit neuen, feuchten und schweren Ziegelsteinen, bringt sie zum Trockenplatz und dann in die Brennerei. Davon ernährt er seine siebenköpfige Familie. Auch der 9jährige Abdel Moti arbeitet in der Ziegelei seit er acht ist. Er bekommt nur 20 ägyptische Pfund (3,60 US-$) pro Tag und unterstützt damit seine Mutter, die als Hausangestellte arbeitet. Mit dem Geld, das er verdient, kauft die Familie meist Medikamente für den schwerkranken Vater. Im Durchschnitt bekommen die Kinder in den Ziegeleien etwa 25 Pfund (4,50 $) pro Tag; Hunderte von Kindern arbeiten in etwa 200 kleinen Ziegeleien in der südlich von Kairo gelegenen Arab-Jbour-Region. Die Misere der Kinderarbeiter und ihr mangelnder Schutz vor Ausbeutung ist inzwischen in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten; es geht um internationale Standards zum Schutz der Kinder vor den schlimmsten Formen von Ausbeutung und wie sie vor einer Beschäftigung geschützt werden können, bei der sie mit giftigen Stoffen wie Chemikalien und Pestiziden in Berührung kommen. Experten und Menschenrechtler sagen, dass die Bedingungen für die Kinderarbeit innerhalb des Landes sehr stark variieren. So gebe es Betriebe, die Mahlzeiten bereitstellen und dafür sorgen, dass die Kinder etwas Schulunterricht bekommen. In anderen arbeiten die Kinder viele Stunden am Tag in brütender Hitze. Viele bleiben ihr Leben lang Analphabeten, zum Lesenlernen bleibt ihnen weder die Zeit noch die Kraft. Einige berichteten dem AP-Reporter, sie würden von Vorarbeitern mit Holzlatten geschlagen, wenn sie nach deren Meinung zu langsam gearbeitet hätten. Einer aktuellen Aussage der Regierung zufolge gibt es 1,5 Millionen Strassenkinder zwischen 6 und 17 Jahren. Die meisten von ihnen müssen sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Viele dieser Kinder haben jedoch, anders als die jugendlichen Fabrikarbeiter, keine Familien oder sind von zu Hause fortgelaufen. Was die Analphabetenrate betrifft, so liegt diese weiterhin bei 28,6 %.
 
Somit stellt sich auch für dieses Land die Frage, wohin die Entwicklungshilfe oder etwa die vom IWF und der Weltbank an Ägypten ausgezahlten gewaltigen Summen geflossen sind. Schon 2002 hatte die EU dem Land vorgeworfen, dass von Seiten der Regierung ein umfassender Plan, wie man gegen die Armut im Land vorgehen will, fehlt. Daran scheint sich inzwischen nicht viel geändert zu haben.
 
Auch sonst lässt sich von Ägypten, einem der wichtigsten US-Verbündeten und Empfänger von US-Militärhilfe, nicht viel Erbauliches berichten. Im August 2008 war der ausserhalb Ägyptens lebende Politologe und Menschenrechtsaktivist Saad Ibrahim in Abwesenheit zu einer 2jährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er hatte auf Menschenrechtsverletzungen durch den ägyptischen Staat hingewiesen, wie sie auch von anderen unabhängigen Organisationen dokumentiert sind. Ibrahim war bereits im Jahr 2000 aus politischen Gründen zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt worden, wurde jedoch 2003 nach internationalen Protesten freigelassen 3.  
 
Einen Überblick über den derzeitigen Stand vermittelt Raoul Rigault, dessen Artikel Wackelkandidat am Nil 4 die folgenden Auszüge entnommen sind:
 
Die Ära von Staatspräsident Hosni Mubarak, der das Land seit knapp 30 Jahren im Ausnahmezustand regiert, geht ihrem Ende entgegen. Bei den Wahlen im kommenden Jahr wird der ehemalige Luftwaffengeneral wohl nicht mehr antreten. Zudem existiert mit dem ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed ElBaradei, seit einigen Wochen ein ernstzunehmender Widersacher, der einen Grossteil der Opposition hinter sich weiss. Die Einwohnerzahl hat sich in den letzten 3 Jahrzehnten auf mehr als 83 Millionen verdoppelt; jedes Jahr drängen 600’000 Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt, von denen viele keine oder keine angemessene Stelle finden. Die offizielle Zahl der Erwerbslosen liegt bei 2,37 Millionen. Laut BRD-Entwicklungshilfeministerium sind allein »mehr als drei Millionen Akademiker arbeitslos«. Die globale Krise hat die strukturellen Probleme des Landes verschärft. Der Aussenhandel schrumpfte in den ersten 9 Monaten des Jahres 2009 um ein Viertel, wobei die Ausfuhren stärker zurückgingen als die Einfuhren und das Bilanzdefizit zunahm. Bei 23,5 Milliarden $ lag es bereits 2008. Nicht einmal mehr die Hälfte der Importe wird durch Exporterlöse gedeckt. Bislang konnten dies Suezkanalgebühren, Tourismus und Überweisungen von Arbeitsmigranten ausgleichen. In Zeiten rückläufigen Schiffsverkehrs, Konsumzurückhaltung der westlichen Mittelschicht und der Verdrängung ägyptischer Arbeiter durch südostasiatische und chinesische Migranten am Persischen Golf funktioniert das Modell immer weniger. Die Regierung hatte in den vergangenen beiden Jahren viel zu tun, um eine Binnenrezession zu vermeiden. Dazu schnürte sie zwei Konjunkturprogramme im Gesamtumfang von umgerechnet 4 Mrd. $ und beschloss diverse Steuererleichterungen. Die Zentralbank senkte seit Anfang 2009 sechsmal die Leitzinsen. Im Effekt stiegen die Staatsausgaben um ein Viertel und die Nettoneuverschuldung auf 6,9 % des BIP. Der Schuldenberg der öffentlichen Hand wuchs um 12 %  und erreicht derzeit 139 Milliarden $, was 73,8 % des BIP entspricht. Sorgen bereitet auch die mit 13,2 % hohe Inflation, die zu einer kontinuierlichen Entwertung der Löhne führt.
 
Mubarak und Co. sind keine Verwalter des Status quo. Dem neoliberalen Lehrbuch folgend betreiben sie seit 2005 eine strikte Privatisierungspolitik. Investitionsminister Mahmoud Mohieldin erarbeitete im Herbst 2008 ein neues Gesetz, um den Privatisierungsprozess voranzutreiben. Nach russischem Vorbild aus der Jelzin-Ära sollen kostenlos Anteile von 155 staatlichen Unternehmen an alle Ägypter über 21 Jahre ausgegeben werden. Bei Firmen von strategischer Bedeutung wie Zement-, Stahl-, Arzneimittel- und Textilherstellern, wird der öffentliche Anteil auf 67 % reduziert. Bei geringerer Bedeutung soll der Staatsanteil auf ein Drittel sinken. Ähnlich wie in Osteuropa wird dies die etablierten Oligarchen stärken und neue schaffen.
 
Bereits jetzt gärt es, wie der Kampf der Tanta-Flax-Belegschaft um die Zahlung ihrer ausstehenden Löhne zeigt. Im Parlament führte der Fall Ende Februar zu einer Schlägerei zwischen Abgeordneten von Regierungsmehrheit und Opposition. Obwohl das Parlament undemokratisch gewählt wurde und faktisch einflusslos ist, entwickelt sich dessen Sitz immer mehr zum Anziehungspunkt für Sozialproteste. Am 1. März fanden dort fünf verschiedene Demonstrationen statt. In den meisten dieser Fälle stellt sich die Exekutive taub und will den Sozialabbau sogar beschleunigen. Anfang März beschloss das Kabinett die Anhebung des Rentenalters von 60 auf 65 Jahre für alle Berufsanfänger ab 2012 sowie weitere Einschnitte. Finanzminister Youssef Boutros-Ghali verspricht sich davon eine Erhöhung der Sparquote von 14 auf 18 % des BIP sowie eine Steigerung des Wachstums auf mindestens 9 % . Analysten hingegen sehen es als einen Versuch, das bestehende Rentenloch durch Kürzungen zu stopfen. Damit fördert das Establishment wider Willen die Erosion des wichtigsten Stützpfeilers der imperialistischen Ordnung im Nahen Osten. 
    
 
1 http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/7935704.stm   10. 3. 09
2 http://www.jungewelt.de/2008/05-31/002.php   31. 5. 08
Steine schleppen für vier Dollar am Tag - Nie Zeit zum Spielen. Kinder verrichten in den Ziegeleien südlich von Kairo Schwerstarbeit - Von Jason Larkin
3 http://www.baz.ch/news/index.cfm?ObjectID=8417DDB6-1422-0CEF-70BB7294F2591998  2. 8. 08
4 http://www.jungewelt.de/2010/03-17/023.php  Wackelkandidat am Nil - Von Raoul Rigault