Das Projekt »Staatsverschuldung« - Die Situation in der EU - von Karl Müller

Am 10. 9. 2009 schreckte das »Handelsblatt« seine Leser mit dem Titel »Explodierende Staatsverschuldung« auf.

Gemäss einer nicht veröffentlichten Studie der EU-Kommission werde die Staatsverschuldung in einigen EU-Staaten infolge der Weltfinanzkrise bis 2020 enorm steigen. Für Grossbritannien wurde ein Anwachsen auf 180 % des BIP, des Bruttoinlandprodukts, vorausgesagt. Noch Ende 2008 hatte die Verschuldung dieses Landes
bei »nur« rund 50 % gelegen. Auch in anderen EU-Ländern, so der Artikel, werde die Staatsverschuldung rasant ansteigen: in Frankreich zum Beispiel auf 125 %, in Deutschland auf etwas mehr als 100 % des BIP. Zugleich dämpfte die Studie allzu euphorische Wachstumserwartungen: »Die EU werde auf absehbare Zeit mit Wachstumsraten von weniger als 1,0 % leben müssen.« Sollte die Konjunktur anziehen, dann hätten die Staaten mit deutlich höheren Zinssätzen und deshalb auch mit höheren Zinsverpflichtungen zu rechnen. In der Tat sprechen viele derzeit vorliegende Informationen für eine weitere Zunahme der Staatsverschuldung in den Ländern der EU (wie auch in der USA und in Japan) - weit über das Vertretbare hinaus. Für die EU insgesamt prognostizierte die Wirtschaftskammer Österreichs im November 2009 auf der Grundlage von Zahlen der EU-Kommission, der EU-Statistikbehörde Eurostat und der OECD eine Zunahme der gesamten Staatsverschuldung aller 27 EU-Staaten von 61,5 des EU-BIP im Jahr 2008 auf 83,8 % im Jahr 2011, in der Euro-12-Zone sogar auf 88,2 %. Die erlaubte Obergrenze nach dem Euro-Stabilitätspakt liegt aber bei 60 % Staatsverschuldung und wird schon jetzt (Schätzung für 2009) mit 78,7 % im Durchschnitt der Euro-Länder deutlich überschritten. 8 der 12 Euro-Länder sind mit mehr als 60 % des BIP verschuldet. Nur noch Finnland, Luxemburg, die Niederlande und Spanien halten derzeit das Stabilitätskriterium ein.
 
Kein Beitrag zu einem Mehr an Gemeinwohl
Dabei führen die rasant wachsenden Staatsschulden nicht zu einem Mehr an Gemeinwohl. Im Gegenteil: Auch hier ist nichts Erfreuliches zu berichten. Am 24. Dezember 2009 war in der Neuen Zürcher Zeitung zum Beispiel über Frankreich zu lesen: »Der Arbeitsmarkt drückt auf die Stimmung und der Verteilungskampf wird hitziger«, und in derselben Zeitung am 30. 12. 2009 über Grossbritannien: »Warnung vor weiterem Zerfall des britischen Pfunds«. Auf Deutschlands Bürger kommen dieses Jahr stark steigende Arbeitslosenzahlen zu und für den arbeitenden Teil der Bevölkerung wohl kaum mehr Lohn. Ganz offensichtlich funktioniert die Theorie, dass mehr Staatsausgaben zu mehr Wohlstand führen, nicht mehr. Ob sie jemals nachhaltig funktioniert hat, ist sehr fraglich. Der vielgepriesene New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren verzeichnete auch nach 5 Jahren nach kurzfristigen Scheinerfolgen noch immer eine Arbeitslosenrate von 26,4 % 1. Und Hitlers deutsches Wirtschaftswunder gab es - wie dann später auch das US-amerikanische - nur mit dem Griff nach dem Reichtum anderer Völker, dies auf Kosten des Friedens und auf dem Rücken von zig Millionen Opfern.
 
Aber wer profitiert?  
Antony C. Sutton hat im 3. Band seiner Wall-Street-Reihe «Wall Street und der Aufstieg Hitlers» 2 etwas Interessantes geschrieben: »Wenn wir uns die breitgefächerte Anordnung der Tatsachen betrachten, die in den drei Bänden der Wall-Street-Reihe vorgelegt werden, stellen wir eine konsequente Wiederkehr derselben Namen fest: Owen Young, Gerard Swope, Hjalmar Schacht, Bernard Baruch usw.; dieselben internationalen Banken: J. P. Morgan, Guaranty Trust, Chase Bank und dieselbe Adresse in New York: in der Regel Broadway 120. Diese Gruppe internationaler Bankiers unterstützte die bolschewistische Revolution und zog nachfolgend Gewinne aus der Gründung eines sowjetischen Russlands. Diese Gruppe war der Geldgeber Roosevelts und zog Gewinne aus dem Sozialismus des New Deal. Diese Gruppe war ebenso der Geldgeber Hitlers und zog mit Sicherheit Gewinn aus der deutschen Rüstung in den 30er Jahren. Während das Grosskapital in den Firmen Ford Motor, Standard Oil of New Jersey usw. seine normalen Geschäfte betreiben sollen hätte, finden wir es aktiv und tief in politischen Umwälzungen, Krieg und Revolutionen in drei wichtigen Ländern involviert.«  
 
Dieter Meyer, ein ehemaliger deutscher Ministerialdirektor, betreibt über die BRD- und EU- Staatsverschuldung eine Internetseite: www.staatsverschuldung-schuldenfalle.de  Er schreibt dort, dass 2008 »knapp jeder 8. € der Steuereinnahmen des öffentlichen Gesamthaushalts» auf Zinsausgaben fiel. Von 1965 bis 2008 lag die Summe aller Neuverschuldungen bzw. Defizite auf der Ebene des öffentlichen Gesamthaushaltes bei ca. 1.339,9 Milliarden € und die Summe aller Zinsausgaben bei ca. 1.514,5 Milliarden € […] Die Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte ist zum fiskalisch nutzlosen Selbstzweck entartet. Sie dient nicht mehr der eigentlichen Haushaltsdeckung, sondern der Finanzierung der von ihr selbst erzeugten Tilgungs- und Zinsausgaben.« In der Tat: Nach Angaben des deutschen Bundes der Steuerzahler e. V. haben die öffentlichen Haushalte  z.B. im Jahr 2008 67,9 Mrd. € gezahlt und 2009 werden es wohl mehr als 70 Mrd. € gewesen sein. Zinszahlungen, die zum Grossteil an in- und ausländische Finanzinstitute geflossen sind. Die für die Kreditbeschaffung des Bundes zuständige Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH nannte in einer Pressemitteilung vom 16. 12. 2008 für die verschiedenen Arten von Bundesanleihen auf den ersten 10 Plätzen der Gläubiger: Barclays Bank, Deutsche Bank, Merill Lynch, UBS, Morgan Stanley, The Royal Bank of Scotland, Société Générale, J.P. Morgan, Goldman Sachs und Citigroup.
 
Wie werden die Staaten reagieren?
Was also wird passieren, wenn die eingangs genannten Prognosen über die kommenden Staatsschulden eintreffen? Wie werden die Verantwortlichen in der EU und in den Staaten reagieren? Werden immer mehr Staaten der EU den finanziellen Bankrott erklären müssen? Werden immer mehr Staaten der EU für ihre hohen Schulden von den Rating Agenturen in ihrer Kreditwürdigkeit herabgestuft - so wie es schon jetzt zum Teil der Fall ist - und dann von den Kapitalgebern mit noch höheren Zinsen belastet? Werden die mächtigen Staaten in der EU die Staaten mit wenig Einfluss noch mehr unter Druck setzen, sich den finanziellen Interessen der Grossen zu beugen, und weiter in Richtung eines »Direktoriums der Grossen und einiger ihrer Vasallen« (so Jean Asselborn, Luxemburgs Vize-Premierminister und Aussenminister) mutieren? Wird die EU ein immer krasseres Instrument der Umverteilung zugunsten der Hochfinanz? Werden die Zinszahlungen, die immer üppiger an diese Gläubiger fliessen, die eigentlichen Staatsaufgaben immer mehr verdrängen? Werden noch mehr staatliche Dienstleistungen privatisiert - so dass noch weniger das Gemeinwohl und noch mehr der Profit der Massstab ist? Oder suchen die Regierungen der EU-Staaten schon sehr bald ihr Schulden-Heil in einer wertevernichtenden Inflationspolitik?
 
In der Beilage Das Finanzjahr 2009 der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Januar 2010 liest man folgendes: »Das Finanzjahr 2009 dürfte viele Anleger froh gemacht haben. Nach den dramatischen Verlusten 2008 ging es im vergangenen Jahr ab März fast nur noch bergauf. Auch die Preise vieler Rohstoffe wie Erdöl und Gold erholten sich kräftig und Unternehmensanleihen rentierten so gut wie Aktien.« Schon am 22. 12. 09 titelte Spiegel online: »Kapitulation vor dem Monopoly-Monster: Es ist der Skandal des Jahres: Die Investment-Banker, die fast die Welt in den finanziellen Abgrund gerissen hätten, spielen wieder ihr Billionen-Monopoly. […] Geradezu absurd, dass die Verursacher der Krise nun die dicken Gewinner sind. Sie profitieren von dem Notenbankgeld, das es für sie praktisch zum Nulltarif gibt.« Und gegen Ende des Artikels heisst es zu den Hintergründen: »Die Regierungen in London und Washington haben ihre Länder im vergangenen Jahrzehnt vom Wohlergehen der Geldbranche abhängig gemacht. Die Wall Street regiert schon seit langem in Washington mit. London ist nach New York das zweitgrösste Zentrum der Hochfinanz und will es bleiben; da darf man das Monster nicht mit allzu lästigen Auflagen verärgern.« 
 
Nun rufen sie: »Haltet den Dieb!«
Das Handelsblatt hat am 5. Januar ein Interview mit Joachim Fels, Ökonom bei Morgan Stanley, veröffentlicht. Fels sagt dort: »Griechenland war nur ein Vorgeschmack für das, was auch auf andere Länder zukommen wird. Schliesslich haben die Regierungen jede Menge schlechter Assets und Schulden von einem überschuldeten Privatsektor übernommen. […] Die Finanzmärkte werden 2010 das Thema Staatsbankrott und damit das Thema Inflation spielen. […] Die Anleger werden höhere Risikoprämien verlangen und die Langfristzinsen hochtreiben. Das wird ab 2011 die Kosten für neue Staatsschulden in die Höhe treiben.« Kosten, die am Ende - ob mit oder ohne Inflation - nur einer begleichen soll: der Steuerzahler.    
 
Andere Autoren gehen noch weiter als Antony C.  Sutton. So schreibt F. William Engdahl in seinem 2009 erschienenen Buch Der Untergang des Dollar-Imperiums. Die verborgene Geschichte des Geldes und die geheime Macht des Money Trusts: »Lange vor dem Sieg der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg war den Rockefellers und den Vorständen der grössten amerikanischen Unternehmen und Banken klar, dass der amerikanische Markt für ihre ehrgeizigen Pläne viel zu klein war. Nach ihrer Ansicht musste Amerika global vorgehen, um die Manifest Destiny, die grenzenlose Ausweitung der amerikanischen Macht, zu erreichen. […] Bei genauerer Betrachtung ging es bei der weitreichenden und wenig bekannten Beteiligung der Familien Rockefeller, Harriman und Bush an der lebenswichtigen Unterstützung für die Kriegsvorbereitungen des Dritten Reiches um viel ehrgeizigere Ziele als nur um ihre Sympathie für die Philosophie und Methoden in Hitler-Deutschland, wie etwa die Knebelung der Arbeiterschaft und die Organisation einer Kommandowirtschaft. Ihr Ziel bestand nicht etwa darin, ein siegreiches Deutschland zu unterstützen, sondern sie wollten einen Weltkrieg, aus dem dann nach 1945 ein amerikanisches Jahrhundert, genauer gesagt: ein Rockefeller-Jahrhundert hervorgehen sollte. Bush, Rockefeller, Harriman, DuPont und Dillon waren massgeblich daran beteiligt, dem Dritten Reich in seiner Frühphase wichtige Unterstützung zukommen zu lassen, denn das gehörte zu ihrem grossen geopolitischen Plan, die europäischen Grossmächte, besonders Russland und Deutschland, dazu zu bringen, sich gegenseitig zu zerstören. Wie erwähnt sprach ein britischer Stratege davon, diese beiden Mächte »sollten einander zu Tode bluten«, und das sollte den Weg für die Hegemonie des Amerikanischen Jahrhunderts ebnen.« Engdahl legt dar, dass mit dem Geld der Rockefeller-Stiftung, unter Führung des Council on Foreign Relations (CFR) und in enger Absprache mit der Roosevelt-Regierung während des Krieges eine damals geheimgehaltene War&Peace Study Group gebildet wurde, die zahlreiche Studien vorlegte, deren Ideologie an die des nationalsozialistischen Deutschlands erinnert: »Die amerikanischen Bank- und Industriegiganten mussten neue Märkte, mehr Raum erobern oder das, was die War&Peace Study Group als Grand Area bezeichnete […] Isaiah Bowman, Gründungsmitglied des CFR und Leiter der War&Peace Study Group beim CFR, der während des Zweiten Weltkriegs auch als Amerikas Geopolitiker bekannt war, benutzte noch einen anderen Begriff für die anvisierte Grand Area. In Anlehnung an Hitlers geographischen Begriff, mit dem die deutsche Expansion wirtschaftlich gerechtfertigt wurde, sprach Bowman vom amerikanischen wirtschaftlichen Lebensraum.«  
 
Die Deutschen ahnen das grosse Ausmass der Krise
Am 7. Januar 2010 berichtete die Financial Times, dass es der BRD Anfang 2010 nicht mehr gelungen ist, genügend Bieter für ihre Staatsanleihen zu finden. Am 6. Januar hatte die im Auftrag der Bundesregierung tätige Finanzagentur versucht, während einer Versteigerung von Anleihen aus der Euro-Zone Bundeswertpapiere mit einer Laufzeit von 10 Jahren und im Nennwert von insgesamt 6 Milliarden € zu versteigern. Analysten deuten dies so, dass das Vertrauen in die bislang als solide gehandelten deutschen Staatsanleihen nicht mehr uneingeschränkt vorhanden ist. Hinzu kommt ein weltweites Überangebot von Staatsanleihen.
Der Mehrheit der Deutschen ist die äusserst angespannte Lage der deutschen Staatsfinanzen durchaus bewusst. Bei der Januar-Umfrage des Instituts infratest im Auftrag von ARD-Deutschlandtrend lehnte eine Mehrheit der Befragten - quer durch alle Parteien - Pläne für weitere Steuersenkungen ab (58 %), obwohl zugleich 44 % der Deutschen ihre persönliche Steuerbelastung als zu hoch empfinden. 64 % der Befragten, 8 % mehr als bei der letzten Umfrage, äusserten zudem, der schlimmste Teil der Krise stehe noch bevor.
 
 
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 2 vom 11. 1. 2010; http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=3705
leicht gekürzte Fassung, Hervorhebungen durch politonline
1 Angabe nach Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945 – Die Deutschen und ihre Nation, Siedler-Verlag 1986, S. 470
2 In deutscher Übersetzung erstmals 2008 erschienen: Wall Street und der Aufstieg Hitlers von Anthony C. Sutton Perseus Verlag Basel 2008; ISBN 978-3-907564-69-1
http://usacontrol.wordpress.com/2009/03/04/buchbesprechung-wall-street-und-der-aufstieg-hitlers/