«Hier wurde ich geboren, und hier sterbe ich» - Von Günter Seufert

Noch immer leben Armenier am Musa Dagh, doch ihre Gemeinschaft ist im Schwinden begriffen.

1933 legte Franz Werfel mit dem Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» ein erschütterndes Zeugnis vom Kampf der Armenier gegen Vertreibung und Vernichtung ab. Nur wenige Armenier leben heute noch auf dem Mosesberg - doch sie halten zäh an ihrer Heimat fest. «Der Mosesberg ist unser Paradies!», sagt Agop Sucuyan und hebt das Glas mit selbst gekeltertem Wein. Und wirklich ist der Mosesberg wie jenes sagenhafte Land, wo Milch und Honig fliessen. Sucuyan sitzt unter Orangenbäumen, vor ihm ein Teller mit gegrillten Wildschweinwürfeln, auf Lorbeerzweigen aufgespiesst. Seine Mutter Sarine ist schon 82, doch lässt sie sich die Wildschweinspiesse nicht entgehen. «Es ist ein Segen, dass unsere Nachbarn, die Muslime, das Schweinefleisch verschmähen», schmunzelt Sucuyan. «Sie sind sogar dankbar, wenn wir das Borstenvieh ein wenig dezimieren.» Am Mosesberg wachsen Wein und Zitronen, Himbeeren, Tomaten und Anis, Feigen und früher auch Tabak. «Ich gehe hier nicht weg!», sagt Agop Sucuyan. «Hier wurde ich geboren, und hier sterbe ich», pflichtet seine Mutter bei.
 
Der Schriftsteller als Chronist
Aber gerade weil der Mosesberg ein Paradies ist, kennt er auch die Vertreibung. Die Vertreibung vom Mosesberg hat Werfel in seinem Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» erzählt. Dieses Buch wurde zum Dokument des armenischen Leidens. Die Nazis ächteten den Autor, in der Türkei war der Roman selbst in den 1990er Jahren noch verboten. Werfel schildert das Schicksal der Generation, zu der die Eltern von Sarine gehörten. Das Buch endet mit der Auslöschung armenischen Lebens am Musa Dagh und im gesamten Hochland Anatoliens. Deshalb die bittere Entschlossenheit in den Worten von Agop Sucuyan und Sarine, wenn es ums Wegziehen vom Musa Dagh oder ums Bleiben geht. Ein Beiklang, der so gar nicht zum Paradies des Mosesberges passt.
 
Die Sucuyans leben in Vakifli, dem letzten armenischen Dorf in der Türkei an den Hängen des Musa Dagh. Zum Meer hin schliesst der Musa Dagh die Gebirgskette ab, die das biblische Antiochia - türkisch Antakya - vom Hochland Anatoliens trennt; Syrien ist nur ein Steinwurf weit entfernt. Nur 120 Menschen wohnen heute noch in Vakifli; die Mehrzahl der Einwohner in der Region stellen muslimisch-alawitische Araber, daneben leben hier Turkmenen und Afghanen, die der türkische Staat der ethnisch-religiösen Balance wegen hier angesiedelt hat. In der Provinz gibt es auch Kurden und einige wenige Dörfer arabisch-orthodoxer Christen. Vor 1915 besassen die Armenier in Antakya ein eigenes Stadtviertel, und am Musa Dagh gab es sieben armenische Dörfer. «Zwischen den religiösen Gruppen gibt es heute keine Probleme mehr», konstatiert Agop Sucuyan. Und tatsächlich, wenn er mit seinem Pritschenwagen ins Nachbardorf Hidirbey fährt, winken die Leute freundlich und laden ihn zum Tee ein. Der Blick fällt auf zwei alte prächtige Steinhäuser, die letzten Zeugen armenischen Lebens am Ort. So ist es auch in den anderen Dörfern, die einst armenisch waren: in Kapisu, dem früheren Kebusiye; in Hablak, heute Eriklikuyu; in Bityas, das man auf Bati Ayaz eingetürkt hat, in Yezur, heute Azir, sowie in Yogunoluk, dem früher grössten armenischen Dorf am Musa Dagh.
 
Es war der Pfarrer von Yogunoluk, Abraham Kalustyan, der an jenem 13. Juli 1915 die Führung übernommen hatte. Das hat Jahre später Movses Balabanyan erzählt, an dessen Worte sich die Einwohner von Vakifli noch heute gut erinnern. Im Sommer, wenn die Ernte eingefahren ist und wenn die Kinder der einstigen Dörfler aus Frankreich und der USA, aus Kanada und den Niederlanden sowie aus Syrien und Libanon nach Vakifli zu Besuch kommen, machen die Schilderungen Balabanyans im Teehaus erneut die Runde. Heute erzählt Alber Terziyan, der in Köln lebt und jedes Jahr nach Vakifli kommt, was er von Balabanyan gehört hat. «In sieben Tagen ist Abmarsch», hätten osmanische Soldaten den Dörflern damals befohlen, Umsiedlung in die Wüsten Syriens. «Hier wurde ich geboren, und hier sterbe ich», sei Teil des Schwurs gewesen, den sich die Dörfler gegenseitig gegeben hätten. «Ohne ein Huhn zurückzulassen», zogen sie sich auf die Höhe Damlacik des Mosesbergs zurück und wehrten dort zwei Angriffe osmanischer Truppen ab. Ein anderer Moses, Movses Kirikyan aus dem Dorfe Hablak, sei es dann gewesen, der sich nach 40 Tagen in die Wogen geworfen habe, als man vom Berg aus ein französisches Kriegsschiff gesehen habe, Feuer angezündet und «Sauvez-nous!» auf die weissen Bettlaken geschrieben habe. Am 14. September hätten zwei Kriegsschiffe über 4000 Menschen von den Hängen des Musa Dagh nach Port Said gebracht. «Je zwanzig Zelte nannten wir ein Dorf, hier blieben wir, bis zum Ende des Krieges», zitieren sie noch heute in Vakifli ihren alten Chronisten.
 
«Hier hört der Roman von Franz Werfel auf», sagt Alber Terziyan, «rund um den Musa Dagh gab es damals keine Armenier mehr.» Doch als Antakya 1919 zusammen mit dem Libanon und Syrien unter französisches Mandat kam, kehrten die Dörfler an den Musa Dagh zurück. Auf der Höhe von Damlacik errichteten sie ihrem Rettungsschiff ein Denkmal, das bis zum Militärputsch 1980 erhalten geblieben ist. Die Dörfler selbst jedoch zerstreuten sich bereits zwanzig Jahre später erneut in alle Winde. Denn 1939 lief das französische Mandat aus. Nach einer Volksabstimmung fielen Antakya und der Musa Dagh an die Türkei zurück. «Diesmal gab es unter uns keine Einheit mehr», sagt im Teehaus von Vakifli Artin Kumasciyan, mit seinen 90 Jahren einer der Ältesten im Dorf. Die Spaltung zwischen denen, die bleiben wollten, und jenen, die zu der neuen Türkei nicht recht Vertrauen fassen konnten, war damals so tief, dass es unter den Dörflern zu Schiessereien kam. Die grosse Mehrzahl ging erneut, manche gleich nach Europa, die meisten jedoch nach Libanon, wo die französische Verwaltung in Anjar, zwischen Beirut und Damaskus, Land zur Verfügung stellte.
 
Der Baum des Moses
Geblieben ist am Mosesberg nur das Dorf Vakifli, auch wenn, wie Alber Terziyan sich erinnert, in den 1960er Jahren noch etwa eintausend Armenier rund um Antakya lebten. Fast alle gingen später nach Istanbul. Dort gibt es armenische Schulen und armenische Kirchen. «Nach Vakifli kommen die Geistlichen nur an Ostern oder zur Beerdigung, und zwar per Flugzeug aus Istanbul», sagt Agop Sucuyan und nimmt die Sache von der guten Seite: «Seither fastet hier keiner mehr!» Aber die Kinder von Vakifli treffen sich auch ohne Pfarrer jeden Sonntag in der Kirche, um geistliche Lieder zu üben. Voll wird die Kirche nur im Sommer, wenn aus Libanon und aus Europa die Nachkommen der früheren Dörfler kommen. Dann trifft man hier auch Leute wie Kervok Barutschuian, der aus der Republik Armenien kommt. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg machten sich einige Familien aus Libanon nach Armenien auf. Der in Aleppo geborene erste Präsident der Republik Armenien, Levon Ter-Petrossian, ist Kind von Eltern aus dem Musa Dagh. Er hat sich früh für einen Ausgleich zwischen den beiden Ländern eingesetzt, und auch in Vakifli will niemand Streit mit der Regierung, auch wenn der Grossteil alten armenischen Landes heute dem Staat gehört.
 
Im Nachbardorf von Vakifli, in Hidirbey, das einst armenisch war, steht eine riesige Platane, die viele tausend Jahre alt sein soll. Es heisst, Gefährten Moses hätten sie gepflanzt, und aus der ganzen Region kommen Pilger: Muslime, Christen, Juden. Hier sitzt Agop Sucuyan gern und lässt die Gedanken schweifen. Von Werfel hat er nur gehört, doch das Buch nie gelesen. In dem Roman des aufgeklärten Juden Werfel kommt auch Scheich Ahmet vor, ein muslimischer Geistlicher, der den Armeniern Hilfe leistet. Er sagt: «Nationalismus, die Krankheit Europas, füllt die leere Stelle aus, die Allah zurücklässt, wenn er aus dem Herzen vertrieben wird.» Das würde nicht nur Agop Sucuyan und den Leuten von Vakifli gefallen, sondern den meisten, die in Antakya leben.
 
 
Quelle: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/hier_wurde_ich_geboren_und_hier_sterbe_ich_1.3361661.html    18. 8. 09