Zur Lage in Afghanistan

»Der Westen züchtet Terroristen«

Der ehemalige deutsche CDU-Abgeordnete Jürgen Todenhöfer, der den Mittleren Osten regelmäßig bereist und über die dortige Situation berichtet, hält die in Afghanistan umgesetzte Strategie für verfehlt. Dies geht aus seinem mit dem »Kölner Stadt-Anzeiger« geführten Interview hervor, das wir hier zusammengefaßt wiedergeben: 

Bereits 1985 hatte Gorbatschow erklärt, daß Rußland den Krieg in Afghanistan beenden und seine Soldaten nach Hause holen sollte und daß es an der Zeit sei, die Bevormundung des Landes einzustellen. Später erklärte Gorbatschow Todenhöfer gegenüber, daß Breschnew den Krieg ganz alleine angefangen habe, ohne das Politbüro zu fragen. Die Tragik Afghanistans liegt in seiner geostrategischer Bedeutung. Von hier aus  können Indien, Pakistan, der Iran und Rußland dominiert werden. Das ist einer der Gründe, warum Alexander der Große, die Mongolen, die Briten, die Russen und jetzt die Amerikaner in das Land gegangen sind. Heute kommt hinzu, daß es große Erdgasvorkommen am Kaspischen Meer gibt. Fakt ist, daß wir durch den Krieg in Afghanistan unsere Sicherheit nicht vergrößern, sondern gefährden. Die Hauptterrorgefahr geht nicht von irgendwelchen Taliban oder anderen Gruppen aus, die in Afghanistan oder im Irak gegen die ausländische Besatzung kämpfen. Die Hauptgefahr für uns sind vom Westen gezüchteten, jungen muslimische Diaspora-Terroristen, die mitten unter uns leben. Das sind häufig junge Leute ohne berufliche Perspektive. Die schauen sich nicht die Tagesschau an, sondern Al-Dschasira. Da sehen sie jeden Tag, wie durch westliche Waffen in Afghanistan oder im Irak unschuldige Muslime getötet werden. Irgendwann beschließt ein winziger Prozentsatz von ihnen, der nicht größer ist als der Prozentsatz rechtsradikaler Schläger im Westen, sich gewaltsam zu wehren. Auch wenn sich diese Diaspora-Terroristen El Kaida nennen, sind sie doch nur El-Kaida-Kopien ohne Kontakt zum Original. Mit jeder westlichen Bombe, die in Afghanistan muslimische Zivilisten tötet, wächst die Zahl dieser El-Kaida-Kopierer. Die meisten deutschen Politiker wissen, daß sie durch den Krieg in Afghanistan die Gefahr des Terrorismus in Deutschland erhöhen. Aber ihnen fehlt der Mut, aufzustehen und Stopp zu sagen. Und sie wissen nicht, wie man aus diesem Schlamassel wieder herauskommt. Das wiederum hängt damit zusammen, daß die meisten westlichen Politiker in Wirklichkeit keine Ahnung von Afghanistan und Pakistan haben [Anmerkung politonline: und vermutlich auch gar nichts wissen wollen. Ignoranz ist doch so bequem und enthebt einem zudem jeglichen Einschreitens]. Selbst die Politiker, die schon mal dort waren, sind fast immer nur zu westlichen Militärlagern oder zu Regierungsgebäuden gefahren. Kaum einer hat einmal ein paar Tage im Land gelebt. Die Strategie, Dörfer zu bombardieren, ist völlig falsch ist. Dieser Krieg wird überwiegend aus der Luft geführt. Dabei werden immer Zivilisten getötet. Wir leben im Medienzeitalter und jeder kann sehen, wie anschließend Kinder aus zertrümmerten Häusern geborgen werden. Wer will es den Einheimischen verdenken, daß sie dann die Taliban unterstützen. Wir brauchen in Afghanistan nicht mehr Truppen, sondern eine neue Strategie. Das hat auch Präsident Hamid Karsai immer wieder betont. Auch in München [auf der NATO-Sicherheitskonferenz]. Dafür trifft ihn jetzt der ganze Zorn des Westens, der einen Sündenbock für sieben Jahre falsche Afghanistanpolitik braucht.
 
Der afghanische Präsident und das afghanische Volk wollen keine zusätzlichen Truppen. Wenn wir trotzdem mehr Soldaten nach Afghanistan schicken, dann ist das nicht mehr ein Kampf für Afghanistan, sondern Kolonialismus. Die Afghanen wollen diesen Krieg schon lange nicht mehr und keiner traut sich die Wahrheit zu sagen. Die Nato steht in Afghanistan längst in den Unterhosen da. Aber keiner wagt es auszusprechen. Auf die Frage, ob mit Obama eine Wende eingeläutet werde, meint Todenhöfer, daß er dies mittelfristig hoffe. Aber vorerst sollen leider mehr Truppen nach Afghanistan. Mehr Truppen heißt mehr Tote, mehr Tote heißt mehr Taliban, mehr Taliban heißt mehr Terror - weltweit, auch in Deutschland. Die Afghanen haben ein Gen gegen ausländische Invasoren. Ausländische Truppen sollten sich in diesem Land nie zu lange aufhalten. Man hätte die anfängliche Aufbaustrategie intensivieren sollen. Aber dafür hatte man wegen des Irakkriegs offenbar keinen Kopf und keine Mittel mehr. Wir haben uns aus der Rolle des Befreiers in die Rolle des Besatzers bombardiert. Das ist die Mehrheitsmeinung der Deutschen. Ich bekomme sogar e-mails von Soldaten in Afghanistan, von hohen Offizieren, die fragen: »Was machen wir eigentlich hier?«  Diese lesen auch die Berichte der Nachrichtenagenturen: »US-Militärs melden Erfolg gegen Taliban.«  Und dann sehen sie im afghanischen Fernsehen, daß diese angeblichen Taliban sechs Monate alt sind. Das ist die Tragödie, aus der wir mit Anstand schnell rausmüssen. Wir haben kein Mandat, das Land zu bombardieren. Die Taliban und ihre ausländischen Verbündeten bedrohen uns im Westen nicht. Das Motto muß daher heißen: Schulen statt Bomben. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen, die Arbeitslosigkeit ist unglaublich hoch. Diese Maßnahmen müssen militärisch abgesichert werden. Wichtig ist außerdem: Die afghanische Nationalarmee und die Polizei müssen deutlich besser bezahlt werden als die Taliban. Denn nur Afghanen können Afghanen besiegen. Die genannten Ziele sollten - von Verhandlungen mit den Taliban und mit den Nachbarn Afghanistans flankiert - spätestens in einem 3-Jahres-Zeitraum erreicht werden. Wenn wir länger bleiben, endet das in einem Desaster. [1]
 
Anmerkung politonline d.a.: Was sich der Westen in fremden Ländern an Schuld auflädt, ist ungeheuerlich. Bis in die 80er Jahre war Afghanistan ein fortschrittliches Land, Ende der 80er Jahre stellten Frauen 50 % der Studenten; 40 % der Ärzte und 70 % der Lehrer waren Frauen; es gab keine religiöse oder sonstige Unterdrückung. Es wird viel zu wenig daran erinnert, daß    die CIA von 1979 an islamische Fundamentalisten in Afghanistan unterstützte, um die damalige sozialistische Regierung zu stürzen. Die Fortschritte der genannten Art sind heute   zerstört und der Kampf gegen die von der USA, CIA, dem pakistanischen ISI und Saudi-Arabien allein für ihre Zwecke aufgebauten Taliban, die sich 1996 von ihren Erschaffern abwandten, droht, ganze Regionen der Verwüstung anheimzugeben. Die Bevölkerung Afghanistans traut der von den Besatzern eingesetzten Regierung von Hamid Karsai nicht über den Weg. Die Anzahl der den Massakern der Besatzer zum Opfer fallenden Zivilisten und Taliban überschreiten jedes erträgliche Maß. So spricht Todenhöfer auch von dem ramboartigen Auftreten der US-Truppen, die keinen Respekt vor der afghanischen Kultur zeigen. Bei Razzien werden Türen gesprengt, Zimmer durchwühlt, Frauen abgetastet und Männer vor ihren Familien bloßgestellt. »Es existiert gleichermaßen der Wunsch nach anhaltender Gewalt in Afghanistan und im Irak. Sie liefert den Vorwand für eine endlose militärische Besatzung und den Bau von Militärbasen, die für zukünftige Kriege benutzt werden«, schreibt Michel Chossudovsky. Fakten der Art, wie sie dieser Abriß enthält, sind zu Tausenden veröffentlicht, ohne daß sie bei den Verantwortlichen eine Wirkung erzielten, was die jetzt in München über die Bühne gegangene NATO-Sicherheitskonferenz erneut beweist. Gleichzeitig greifen der Überwachungswahn und das Schüren der Angst gegen den Terror ungehemmt um sich.
 
Was also hält unsere Abgeordneten aller Couleur davon ab, diesen Kreislauf anzuhalten, um der Menschlichkeit und der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen: Ist es Gleichgültigkeit, Gewissenlosigkeit oder schiere Dummheit? Angesichts der Kriegsfolgen im Irak, in Afghanistan und im Nahen Osten ist es niemanden zu verübeln, wenn er zu dem Schluß gelangt, daß all diejenigen, die die Infernos in Szene setzen und in Gang halten, ohne einen Funken an Gewissen zur Welt gekommen sind.
 
1 Quelle: http://www.ksta.de/html/artikel/1233584036754.shtml »Der Westen züchtet Terroristen« - Kölner Stadtanzeiger vom 9.2.09. Das Interview führte Thomas Geisen
Siehe auch http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1071 9.11.08 Die Zerstörung Afghanistans